Podcastkritik (90)

„American Scandal“ tarnt Geschichtslektionen als True-Crime-Podcast

Podcastkritik: American Scandal, mittlerer Gesichtsausdruck

Eigentlich ist „American Scandal“ ein True-Crime-Format. Es geht aber nicht wie sonst bei solchen Podcasts um Serienmörder, sondern um Skandale aus der amerikanischen Geschichte. Wie war das mit Watergate? Mit Edward Snowden? Oder mit der Iran-Contra-Affäre? Seit 2018 gibt es diesen Wondery-Podcast, seither wurden über 40 Themen aufgegriffen, die meisten ausführlich in mehreren Episoden. Von Una-Bomber, Waco, Lewinsky-Affäre bis Lance Armstrong.

Der Aufbau der Folgen ist immer ähnlich: Es wechseln sich abgelesene, erklärende Teile mit eher fiktional angehauchten und spannend inszenierten Dialogen ab. In vielen amerikanischen Podcasts werden Texte wie ein Hörbuch vorgelesen – das ist auch hier so, aber es stört nicht. Es gibt also diese Erzählteile, in denen etwas erklärt wird, und dann wieder mit Geräuschen und Effekten aufgepeppte Teile, dass es klingt wie durchs Telefon oder wie am Flughafen oder mit Grillenzirpen im Hintergrund wie in der Prärie. Dadurch bekommen diese Passagen Hörspielcharakter.

Lindsay Graham steckt mit seinem Team hinter diesem Podcast. Er produziert seit Jahren viele verschiedene Podcasts (zum Beispiel „American History Tellers“ und „History Daily“) und ist so etwas wie der Guido Knopp der amerikanischen Podcastszene. Immer wenn es um Geschichte geht, ist er zur Stelle. Und er hat merklich Spaß daran.

Mittlerweile hat er seine eigene Podcast-Firma gegründet. Seine Produktionen sind oft in den amerikanischen Top-100 der Charts bei Apple Podcasts zu finden. Graham ist Produzent, Sprecher, Komponist, Cutter und oft auch Redakteur der Folgen. Er spricht mit angenehmer Stimme die Erzähltexte der Episoden und mit schauspielerischem Talent auch die Dialoge. Sogar die Frauenstimmen, da wird es dann manchmal etwas seltsam. Graham spricht also alles – was mich ein wenig an tschechische Synchronisationen erinnert.

Fakten plus Emotionen

Gerade die inszenierten Teile machen die Sache spannend. Zum Beispiel: der Fall Edward Snowden. Die Geschichte wird in fünf Episoden aufgeteilt, jede ist inklusive Werbung ungefähr 40 Minuten lang. Zunächst lernen wir Edward Snowden kennen, uns wird etwas über seine Kindheit erzählt, über seine Teenagerzeit, über Menschen, die ihn geprägt haben. Wir erfahrne, wie er eher durch Zufall bei der CIA gelandet ist, und dort dann wieder durch Zufall Zugang zu geheimen Dokumenten bekam, die zeigten, wie die Vereinigten Staaten ihre Bürger ausspionierten. All das ist den meisten von uns bekannt.

Was „American Scandal“ besonders macht, ist eine Verknüpfung von Fakten mit Emotionen. Die entstehen durch Dialoge, die den Podcast lebendig machen. Da ist das letzte Gespräch zwischen Snowden und seiner Freundin, bevor er nach Hongkong flieht. Sie weiß nichts über seine geheimen Pläne, er verabschiedet sich von ihr mit dem Wissen, dass es möglicherweise ein Abschied für immer ist. Unterlegt ist all das mit einer wabernden Hintergrundmusik, die für die nötige Spannung sorgt, aber sogar mich als Musikbett-Hasserin nicht stört. Dezent und gut ausgewählt – bis auf einige kleine Ausnahmen.

Kleine Details machen die Geschichten lebendig. Snowden hatte einen Zauberwürfel besorgt und monatelang damit bei der Arbeit gespielt, damit es niemandem mehr komisch vorkam. In diesem Würfel versteckte er dann den Chip mit den gestohlenen Dokumenten. Als Hörerin fiebert man mit, ob er es schafft, die versteckten Daten aus dem Büro zu schmuggeln.

Interviews als wichtiger Bonus

Die letzte Folge eines Skandals schließt meist mit einem Experteninterview ab. Das führt dann über die eigentliche Geschichte hinaus: Im Fall Edward Snowden wird etwa darüber gesprochen, wie Nachbarschafts-Apps in den USA immer beliebter werden. In diesen Apps kann man Beobachtungen teilen – und somit auch wunderbar unschuldige Menschen an den Pranger stellen, weil sie einem selbst unheimlich vorkommen. Während Snowden also noch dagegen kämpfte, dass die amerikanischen Bürgerinnen und Bürger ausspioniert werden, tun sie das heute, neun Jahre später, mit Vergnügen selbst.

Als abschließende Episode des Watergate-Blocks geht es in einem Interview um die Entstehung von Verschwörungserzählungen und deren Gefahr. Gerade diese abschließenden Einordnungen finde ich sehr gelungen.

Während des Hörens gehen mir dann aber doch einige widersprüchliche Gedanken durch den Kopf. Einerseits finde ich es gut, Momente der amerikanischen Geschichte so unterhaltsam und spannend zu präsentieren, dass sie auch einem Publikums zugänglich werden, das wahrscheinlich nicht freiwillig ein Sachbuch in die Hand nehmen würde. Andererseits sträubt sich in mir einiges, wenn ich die fiktionalen Teile des Podcasts höre. Wenn es darin heißt: „Er zupfte sich verlegen am Ohr“ – dann soll das zwar das Geschehen und die Gemütslage der Person unterstreichen, ist aber im Zweifel einfach ausgedacht. Ganz am Ende der Episode, nach einem Sponsorenteil, wird kurz gesagt, dass diese „Reenactments“ und „Dramatizations“ zwar auf historischer Recherche basieren, aber erfunden sind. Man muss das wissen, damit es akzeptabel ist.

Wieviel ist Fiktion?

Und da sind wir auch schon beim nächsten, viel größeren Punkt: Gerade bei solch brisanten Themen würde ich mir eine Angabe von Quellen wünschen. Woher bezieht der Autor seine Informationen? Wieviel ist davon wirklich belegt, wieviel ist Fiktion? All das fehlt aber – überall ist der gleiche Erklärungstext zum Podcast zu finden und nichts zu den Hintergründen. Schön wäre es auch, wenn weiterführende Links existieren würden. In den letzten Sekunden jeder Folge werden zwar Buchtipps gegeben zum jeweiligen Thema. Verschriftlicht sind sie aber nicht.

Lindsay Graham schafft es, Geschichte spannend und hörenswert aufzubereiten – und er traut sich, das nicht „snackable“ zu machen, also so kurz wie möglich, sondern in eben genau der Länge, die es braucht, um eine Geschichte gut zu erzählen. Auf Twitter schrieb eine Hörerin, sie sei die ganze Nacht wachgeblieben, um den Podcast zu Ende zu hören – und das ist sicherlich das schönste Kompliment, das ein Geschichts-Podcast bekommen kann.


Podcast: „American Scandal“ von Lindsay Graham

Episodenlänge: jeweils rund 40 Minuten
Offizieller Claim: Every scandal begins with a lie. But the truth will come out.
Inoffizieller Claim: Geschichte, getarnt als True Crime
Wer diesen Podcast hört, mag auch… „Stuff you missed in history class“  und „Geschichten aus der Geschichte“

Ein Kommentar

  1. Falls es noch jemanden hier gibt wie ich, der sich gewundert hat, ob er im falschen Film gelandet ist: Der republikanische Knallkopp heißt Lindsey Graham, mit ‚e‘ im Vornamen. Dieser Lindsay Graham hier ist jemand Anderes.

    Zum Glück.

    Weitermachen!

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