Rückblick

Einmal „Willkommen!“ und zurück: Die „Zeit“ und die Flüchtlinge

Die Titelseite der „Zeit“ vom 6. August 2015 ist nachträglich zu einem Symbol geworden, zu einem herausragenden Beispiel für die angebliche Flüchtlingsbesoffenheit deutscher Leitmedien im Sommer vergangenen Jahres. Die Schlagzeile lautete schlicht: „Willkommen!“

Sogar Giovanni di Lorenzo, der Chefredakteur der „Zeit“, hat sich öffentlich von dieser Titelseite distanziert. Im Juli sagte er beim Jahrestreffen der Journalistenvereinigung „Netzwerk Recherche“:

Die Art und Weise, wie wir die Flüchtlingsbewegung begleitet haben, ist etwas, was noch nicht hinreichend aufgearbeitet worden ist. Und was nach meiner Ansicht sehr kritikwürdig ist. Ich schließe die „Zeit“ da durchaus mit ein. Wir haben uns nicht nur zu Beobachtern, sondern auch zu Akteuren dieser „Refugees Welcome“-Bewegung gemacht. (…)

Als ich im Urlaub die Schlagzeile der Titelgeschichte der „Zeit“ las: „Willkommen“, und dann der Leitartikel dazu: „Jeder Flüchtling eine Bereicherung“, da hätte ich am liebsten meinen Urlaub abgebrochen. Weil ich einfach glaube, das schlägt auf uns zurück. Das ist zuviel. Das ist nicht unsere Aufgabe, das zu feiern. Es ist unsere Aufgabe, das zu beobachten. (…) Wir waren Akteure und nicht mehr Beobachter.

Es ist eine besondere Form der Selbstkritik, bei der der Chefredakteur öffentlich feststellt, wie sehr seine Zeitung missrät, wenn er sich urlaubsbedingt nicht um sie kümmern kann. Das heißt aber natürlich nicht, dass er unrecht hat.

Wie sehr ist die „Zeit“ vor einem Jahr vom Beobachter zum Akteur geworden? Wie sehr feierte sie die sogenannte „Willkommenskultur“? In welchem Maß war ihre Berichterstattung eine Grenzüberschreitung?


Für Deutschland ein Glück

Der Leitartikel von Sabine Rückert in der „Willkommen!“-Ausgabe ist tatsächlich bemerkenswert euphorisch. Er beginnt und endet mit Oscar Wildes Märchen vom selbstsüchtigen Riesen, der seinen herrlichen Garten einmauert und die spielenden Kinder vertreibt, daraufhin aber mit Winter, Schnee und Frost alleine bleibt. Erst als die Kinder durch Risse in der Mauer zurückkehren, kommt auch der Frühling wieder: „Der vereinsamte Riese aber springt auf, rennt hinaus, begrüßt die ungebetenen Gäste überschwänglich – und begreift endlich, um welches Glück er sich beinahe gebracht hätte.“

Der erstarrte Riese, das wäre Deutschland, wenn es sich abschottete, schreibt Rückert, „verödet und vergreist“:

Es mag befremdlich klingen, aber für Deutschland sind die Flüchtlinge, diese vielen jungen, zuversichtlichen, nicht selten begabten und ehrgeizigen Menschen, ein Glück. Welches Ausmaß das Glück erreichen wird, hängt jetzt von uns selbst ab: Wie herzlich heißen wir die Fremden willkommen? Wie schnell lehren wir sie, unsere Sprache zu sprechen und sich selbstbewusst unter uns zu bewegen? Wie gut bilden wir sie aus – in Schulen, Hochschulen und Betrieben? Wie entschlossen überwinden wir die Fremdheit? Und: Wie hoch türmen wir die Hindernisse vor ihnen auf, bevor sie Bürger dieses Landes werden können?

Ja, das klingt überschwänglich. Aber anders als Giovanni di Lorenzo sagt, steht da nicht: „Jeder Flüchtling eine Bereicherung.“ Da steht, wörtlich: „Gut ausgebildete und integrierte Menschen bereichern das Land.“ Auch im unzweifelhaften Überschwang dieses Leitartikels macht Sabine Rückert diese Differenzierung.

Und sie schreibt:

Die Integration so vieler fremder Menschen in unsere Gesellschaft ist eine Leistung, die wir alle vollbringen müssen, die jeden von uns angeht.

Ein wenig Stolz

Das „Willkommen!“ oben auf der Titelseite steht im Foto von einer Familie: Maha und Amir Shamo sind mit ihren drei Kindern aus Mossul im Nordirak geflüchtet. Sie sind Jesiden. Als der IS ihre Stadt einnahm, hatten sie die Wahl: konvertieren, hingerichtet werden oder verschwinden. Das Foto zeigt sie, wie sie nach Wochen auf der Flucht auf der Autobahn A3 in Richtung Passau laufen.

Amrai Coen und Henning Sußebach haben im „Zeit“-Dossier eine lange Reportage aus Passau, „Deutschlands Lampedusa“, geschrieben. Sie berichten von der gewaltigen Herausforderung, die die große Zahl von Flüchtlingen für die Stadt und ihre Bewohner bedeutet, von den Menschen, die versuchen zu helfen: Anwohner, Politiker, Polizisten.

Der Text leistet sich angesichts der Größe dessen, was da passiert, Pathos. Seine Überschrift lautet: „Im gelobten Land“. Er beginnt mit einer etwas kitschigen Beschreibung, wie eine Frau aus Passau in ihrem Vorgarten Flüchtlinge entdeckt:

Caroline Spreitzer schüttelt gerade die Betten ihrer Kinder auf, als das Weltgeschehen ihren Garten erreicht. Es ist ein Dienstag Ende Juli, halb acht morgens. Licht flutet die Weiden und Felder um Passau, erhellt auch ihr Bauernhaus, einsam an einer Straße gelegen. Da schlagen die Hunde an. Caroline Spreitzer hält inne und schaut aus dem Fenster.

Was folgt, ist eine herausragende Reportage. Sie erzählt das, was in Passau in jenen Tagen passiert, aus mehreren Perspektiven; sehr nah, beeindruckt, aber reflektiert. Sie hat eine Haltung, sie steht auf Seiten all derer, die tun, was sie können. Sie steht eher nicht auf den Seiten von Leuten wie Horst Seehofer, der „mit Reden über ‚massenhaften Asylmissbrauch‘ das Sommerloch stopft“.

Die Reporter fragen: „Wie viel Wohlwollen muss eine wohlhabende Gesellschaft aufbringen? Wie viel Entgegenkommen gegenüber jenen, die ihrerseits Tausende Kilometer zurückgelegt haben?“ Sie freuen sich: „Im Lauf dieser Recherche werden sich nicht bloß Bilder der Besorgnis und Bedrängnis finden, sondern viele Gründe, stolz auf dieses Land zu sein. Anders stolz als Rechtsextreme.“

Meint Giovanni di Lorenzo Sätze wie die folgenden, wenn er kritisiert, dass Journalisten die „Willkommenskultur“ „gefeiert“ hätten?

Die Arbeit der Polizisten ist Leid am Fließband. Schaut man ihnen ein paar Tage zu, erkennt man, dass auch sie sehr müde sind, aber alles dafür tun, den Fremden so viel Nähe zu geben wie möglich. Jedem Einzelnen in der Masse seine Würde zu lassen.

Wie stark eine Zivilisation ist – vielleicht ist das am besten in Zeiten wie diesen zu ermessen. Und an Orten wie einer Polizeiwache.

Die Reporter berichten:

Als sich Caroline Spreitzer um die Flüchtlinge in ihrem Garten gekümmert, ihnen Wasser gebracht und Nutella-Brötchen geschmiert hatte und ihr Nachbar davon erfuhr, begann der zu schimpfen: „Bist du blöd? Gib denen nichts! Sonst kommen immer mehr!“

Dieser Zwiespalt, er zieht sich durch das ganze Land und auch durch jedes Dorf im Landkreis Passau. Einige Nachbarn lassen sich Alarmanlagen einbauen. Andere halten Essen bereit wie für Vögel im Winter. Manche ärgern sich über leere Trinkflaschen in ihren Hecken. Andere bieten sich als Nachhilfelehrer an. In jedem Ort steht Anteilnahme gegen Angst. In der niederbayerischen Abgeschiedenheit gibt es Menschen, die sich vor eingeschleppten Krankheiten fürchten. Viele fragen sich: Warum tragen so viele dieser Fremden saubere Sachen, sogar Turnschuhe von Nike? Müssten sie nicht elender aussehen? Das ist der Eindruck des Augenblicks. Unsichtbar bleiben die Verluste. Der fehlende Vater. Das zerbombte Haus. Der gefolterte Sohn. Unsichtbar bleiben Szenen wie jene auf dem Autobahnrastplatz, an dem auch die Shamos deutschen Boden betraten: Da zieht eines Morgens ein Vater seinen fünf Töchtern die letzten sauberen Sachen an, Jeans mit Pailletten, Pullover mit Schmetterlingsmuster. Er wäscht ihre Gesichter, kämmt ihre Haare, damit sie ordentlich vor die deutschen Behörden treten. Und ihnen etwas Selbstachtung bleibt. Bei alldem fehlte: eine Mutter. (…)

Eine Flucht ist Darwinismus in reinster Form. Am ehesten kommen durch: die Jungen, wenn auch gealtert. Die Starken, wenn auch geschwächt. Und die Wohlhabenden, auch wenn sie viel zurückgelassen haben.

Das „Willkommen!“ von der Titelseite übersetzt sich gegen Ende des Artikels in diese Sätze:

Wenn Passau tatsächlich ein Praxislabor für Flüchtlingspolitik ist, dann sieht man, dass die Menschen hier wie überall mit ihren Vorbehalten ringen. Man sieht, wie sich Bürger ihres historischen Glücks und ihres geografischen Privilegs bewusst werden, gerade jetzt in gerade diesem Land leben zu dürfen. Dass Polizisten gewissenhaft zwischen „illegalen Einwanderern“ und kriminellen Schleusern unterscheiden. Man ist dabei, wenn Bürokraten unbürokratische Lösungen für Familien wie die Shamos finden. Man begreift, dass ein Bürgermeister trotz des knappen Haushalts nicht nur kurzfristige Kosten, sondern auch langfristigen Nutzen sieht. Und dass ein Staat – bei aller Vorsicht und trotz aller Schuldenbremsen – auch ein wenig stolz sein kann, bei so vielen Menschen so viele Hoffnungen zu wecken.

Es ist ein bisschen merkwürdig, die „Zeit“ gegen die Kritik ihres Chefredakteurs in Schutz zu nehmen, aber genau das Bedürfnis habe ich. Natürlich kann man in genau diesen Sätzen große Naivität lesen: Bei so vielen Menschen so viele Hoffnungen geweckt zu haben, gilt im Nachhinein als eines der großen Probleme der deutschen Flüchtlingspolitik. Aber diese Reportage ist eine beeindruckende, preiswürdige Nahaufnahme aus dieser Stadt in dieser Situation.

In ein Horn mit der Kanzlerin

Der Grundton aus Sabine Rückerts Leitartikel, sagte Giovanni di Lorenzo bei einer viel beachteten Rede in Dresden, habe sich „über Wochen“ gehalten

und wurde medienübergreifend vertreten, ohne dass auch skeptische Stimmen genug zur Sprache kamen. So verfestigte sich der Eindruck, die Medien würden mit Kanzlerin und Regierung in ein Horn blasen. Nach dem Motto: Wer Angst vor zu vielen Flüchtlingen im Land hat, ist ein Modernisierungsverweigerer. Wer eine Obergrenze fordert, befürwortet auch Stacheldraht und den Schießbefehl an der Grenze.

Da ist etwas dran. Solche „skeptische Stimmen“ waren rar und fanden sich in der „Zeit“ eher in abwertend klingenden Nebensätzen. Es war aber auch wenig Platz zwischen der Erschütterung über die Angriffe auf Flüchtlinge und der Begeisterung darüber, wie viele Menschen sich engagieren.

Das bedeutet aber nicht, dass die „Zeit“ auf Pro-Flüchtlings-Propaganda umgestellt hätte. In der nächsten Ausgabe fragt das Blatt: „Retten Flüchtlinge unsere Rente?“, und antwortet unter anderem:

Ja. Allerdings weiß momentan niemand genau, wie groß der Anteil der Flüchtlinge ist, die kurz- und mittelfristig Jobs in Deutschland übernehmen und somit auch Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen können.

Es ist kein aktivistischer, sondern ein differenzierter, skeptischer Artikel mit mehr Fragen als Antworten.

Größte politische Aufgabe

Wieder eine Woche später stellt die „Zeit“ unter dem angestrengt zweideutig gestalteten Titel „ZuMUTung“ fest: „Die Republik steht vor ihrer größten Veränderung“.

Endlich stellt sich die Politik in Berlin die Frage, die sie so lange verdrängt hat: Wie lassen sich Jahr für Jahr Hunderttausende Asylbewerber aus vielen Regionen der Welt menschenwürdig unterbringen, ernähren und medizinisch versorgen? Wie lassen sich ihre Anträge rasch und fair prüfen, wie lassen sich diejenigen, die hier bleiben dürfen, unterrichten, ausbilden, in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integrieren?

Das zu schaffen, das ist vielleicht die größte politische Aufgabe unserer Zeit. Um sie zu bewältigen, muss sich die Republik verändern wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr.

Die Autoren fordern „eine andere Debatte“:

Eine, die weniger verdruckst ist, die ebenso empathisch wie differenziert geführt wird, eine, die in den Migranten tatsächlich Menschen sieht, die hierherkommen, Menschen mit Geschichten und Absichten, und das heißt auch: nicht bloß Opfer, nicht ausschließlich Gestrandete, sondern in ihrer Not und in ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft durchaus rational entscheidende Wesen. Menschen, die Fluchtrouten kennen und gegeneinander abwägen, Menschen, die Informationen sammeln und einschätzen können, Menschen, die auf veränderte Bedingungen flexibel reagieren.

Ein gespaltenes Land

Am 27. August schreibt Heinrich Wefing:

Was ist eigentlich los mit Deutschland in diesem Sommer der Flüchtlinge? Fast täglich werden Notunterkünfte angegriffen, in Heidenau tobt der Mob, Til Schweiger wird im Netz angepöbelt, weil er sich für Asylbewerber engagiert. Ist Deutschland wirklich so hässlich, so engherzig, so blöd?

Aber dann eben auch: eine atemberaubende Hilfsbereitschaft. Menschen helfen Menschen, einfach so, voller Hingabe, jeden Tag. Aus eigenem Antrieb, in einer beispiellosen Volksbewegung, die berührend ist und ein Grund, stolz zu sein auf dieses Land. (…)

Ist dieses Deutschland also ein gespaltenes Land, zerrissen zwischen Hass und Hilfe? Niemand kann das sicher sagen, aber es spricht mehr dagegen als dafür. Wenn „Bild“ und „taz“, die Kirchen und die SPD alle fragen: „Was kann ICH jetzt tun?“, dann steht es nicht schlecht um die Solidarität. Engagement erzeugt Engagement.

Kann das auch kippen? Natürlich. Wenn die Last zu groß wird. Wenn Überforderung in Verzweiflung umschlägt. Oder wenn sich das Gefühl breitmacht, Grundregeln der Fairness würden verletzt. Das ist vielleicht die größte Gefahr. Aber sie kommt nicht von außen, von denen, die zu uns wollen. Sie kommt von innen, aus Europa.

Land des Mangels

In derselben Ausgabe steht ein Gastbeitrag des SPD-Vorsitzenden und Vizekanzlers Sigmar Gabriel. Er schreibt unter anderem darüber:

wie schlecht wir auf den Zustrom von Flüchtlingen vorbereitet sind; wie viel Hilfsbereitschaft und Mitgefühl im deutschen Alltag existiert; und worauf wir aufpassen müssen, damit diese Hilfsbereitschaft nicht in Gefahr gerät.

Und betont später:

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin weder der Meinung, dass wir über Jahre hinweg eine unbegrenzte Zahl an Flüchtlingen aufnehmen können, noch unterschätze ich die Konflikte, die mit der hohen Zahl an Zuwanderern in kurzer Zeit bei uns auch entstehen werden. Ich glaube darum auch nicht, dass wir ganz auf restriktive Maßnahmen verzichten können.

Gabriels Text könnte in weiten Teilen auch von einem „Zeit“-Redakteur als Leitartikel geschrieben worden sein. Vielleicht ist er sogar einen Hauch skeptischer als die veröffentlichte „Zeit“-Position damals.

Andererseits ist in derselben Ausgabe auch zu lesen:

Es fehlen Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter und Verwaltungsbeamte. Es fehlen Ärzte. Es fehlen Wohnungen. Wenn man so will, könnte Deutschland erstmals in Merkels Amtszeit zu einem Land des Mangels werden.

Und, immer noch in dieser Ausgabe, mehrere Texte unter der gemeinsamen Überschrift: „Natürlich schaffen wir das.“ Über die Helfer.

Diese Menschen grölen nicht, sie hören zu. Sie werfen keine Steine, sie schmieren Brote. Sie sorgen dafür, dass Flüchtlinge bekommen, was für andere selbstverständlich ist: ein Bett. Eine Schule. Einen Termin beim Arzt.
Es sind Beamte und Ärzte, Lehrer und Sozialarbeiter, die seit Wochen länger arbeiten, als sie müssten. Es sind Freiwillige, die helfen, wo der Staat Lücken lässt.

Unbekanntes Gelände

Am 3. September nimmt ein Leitartikel von Gero von Randow den Gedanken vom „Glück“ für Deutschland wieder auf:

Aber hat Deutschland schon in vollem Umfang begriffen, welches Glück ihm gerade selbst widerfährt? Mehr Glück als Verstand, möchte man sagen: Jahrzehntelang hat es darüber hin und her gegrübelt, ob es seine Altersstruktur durch Einwanderung verändern solle. Vergreist oder multikulti, dazwischen mochte es sich nicht entscheiden, außerdem gab es ja stets dringlicheres Krisengeschehen zu bearbeiten. Nun hat die Geschichte dem Land die Entscheidung abgenommen. Deutschland wird sich bald verjüngt und ethnisch bunter wiederfinden als je zuvor.

Das wird nicht bloß lustig. Sind die Neuankömmlinge erst einmal frisch versorgt, werden sie bald zu Mitschülern, Kollegen, Konkurrenten, Nachbarn, Verkehrsteilnehmern, Erziehern oder Delinquenten; und etliche bringen neben Lebensgewohnheiten, die Reibereien erzeugen werden, allerlei Unerfreuliches mit – Antisemitismus, Patriarchat, Schwulenhass. Auch in diesen Dingen haben die Deutschen ihre Einstellung in jüngster Zeit verändert, Konflikte sind unvermeidlich.

Kurz: Ein Experiment hat begonnen, das Deutschland tiefgreifender verändern wird als die Wiedervereinigung. Vor uns liegt unbekanntes Gelände.

Ein großer Wille zur Gelassenheit, zur Nicht-Panik-Mache lässt sich daraus lesen. Und natürlich kann man der „Zeit“ vorwerfen, dass sich diese Gelassenheit ja gut propagieren lässt aus der Sicht derjenigen, denen es gut geht, die sich engagieren können, die sich nicht vom Staat und vom Wohlstand abgehängt fühlen. Aus der Sicht von „Zeit“-Lesern eben.

Vielleicht klingt es aus Sicht von Hartz-IV-Familien wie Hohn, wenn von Randow am Ende schreibt:

Nur gut, dass die Bundesregierung ihre Haushaltskassen so sorgsam geführt hat: Jetzt kann das Geld sinnvoll ausgegeben werden.

Für Flüchtlinge.

Ein Interview mit Innenminister Thomas de Maizière beginnt die „Zeit“ tatsächlich mit der Frage:

Herr Minister, warum sollten 800.000 Flüchtlinge pro Jahr auf Dauer für Deutschland zu viel sein, wie Sie sagen?

Neues Sommermärchen

Heinz Bude schreibt in derselben Ausgabe ein Essay über Deutschlands „neues Sommermärchen“ und die Gastfreundschaft. Es ist ein optimistischer Text:

Es gibt in Deutschland eine belastbare Zivilgesellschaft, die zu unkonventionellen Maßnahmen, unwahrscheinlichen Bündnissen und soliden Brückenbildungen in der Lage ist. Das ist ein großer Unterschied zu der Situation von vor zwanzig Jahren, als sich die deutsche Öffentlichkeit durch die Ausschreitungen von Hoyerswerda und Rostock- Lichtenhagen sowie durch den Brandanschlag von Solingen in die Enge getrieben fühlte.

Bude sagt, wir müssten uns darauf gefasst machen, „dass wir mobile Einsatzgruppen von Polizisten mit blauen Gummihandschuhen an Flughäfen und Bahnhöfen erleben, die Menschen die Einreise verwehren und ihre Abschiebung erzwingen. Es wird auf diesem Wege eine Klassifikation zwischen Asylanten aus unsicheren Regionen und Migranten aus sicheren Herkunftsländern durchgesetzt.“ Er spricht von zu erwartenden Konflikten bei der Einfädelung von Flüchtlingen in die Gesellschaft, fügt aber flapsig hinzu: „aber Gäste sind schließlich auch dazu da, das Haus ein wenig durcheinanderzubringen“.

Ein Artikel über Versuche, Asylbewerber in den deutschen Arbeitsmarkt einzugliedern, stimmt dagegen skeptisch:

Die Gefahr ist (…) groß, dass viele Flüchtlinge eben nicht einen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden werden, sondern an ihrem Rand. In einer neuen Schicht von Hoffnungslosen und Enttäuschten.

Die Stimmung kippt

Am 10. September greift die „Zeit“ den fünf Wochen alten Empfangsruf „Willkommen!“ wieder auf, und ergänzt ihn durch ein skeptisches: „Und jetzt?“

Am 17. September kippt die Stimmung im Blatt. Ein langer Artikel beschreibt Angela Merkel zwar eher wohlwollend als „Krisenkanzlerin“. Aber auf der Titelseite ist zu sehen, wie sie ein Selfie mit einem Flüchtling macht und darüber die Zeile: „Weiß sie, was sie tut?“

Es ist, gerade in Kombination mit dem Foto, eine perfide Zeile. Die „Zeit“ fragt nicht mehr, ob die Kanzlerin das richtige tut, sondern ob sie überhaupt weiß, was sie tut – man kann das übersetzen: Ob sie den Verstand verloren hat.

Dass sie Selfies mit Flüchtlingen machen lässt, scheint dafür ein Indiz zu sein. Der „Willkommensjournalismus“ der „Zeit“, wenn man ihn so nennen will, endet damit und mit der Unterzeile:

Ein Ansturm, der kaum noch zu bewältigen ist. Manche Syrer, die gar keine Syrer sind. Und Bürger, deren Ängste wachsen. Doch die Kanzlerin bleibt unbeirrt. Warum?

Zuviel des Guten

Als die „Zeit“ am 1. Oktober 2015 die Flüchtlinge selbst zu Wort kommen lässt und ihnen eine Titelgeschichte „Wir sind die Neuen“ widmet, erscheint sie nicht ohne mahnenden Beipackzettel des sich dafür rechtfertigenden Chefredakteurs. Er schreibt unter der Überschrift „Zu viel des Guten?“:

Ein Zuviel des Guten entsteht dann, wenn Journalisten befangene Akteure werden, Kampagnen organisieren und manchmal sogar zu Zensoren mutieren – anstatt kritische Begleiter zu sein wie bei jedem anderen Thema auch. (…)

Sollen wir die vielen Ungereimtheiten bei der Zuwanderung den Hetzern im Netz überlassen, auf dass der Unmut immer größer werde, bis er ohrenbetäubend ist? Sollen wir über alles Schwierige möglichst hinwegsehen, während sich Teile der Union und der SPD mit den Oppositionsparteien einen Wettbewerb darum liefern, wer die aufnahmefreundlichste politische Kraft im Land ist? Wenn das so kommt, wird das eine Vergiftung des politischen Klimas in Deutschland nach sich ziehen, vor der man sich nur fürchten kann.

Er warnt vor der „Falle der Beschönigung, in die wir nicht weiter tappen dürfen“.

Am 28. Januar 2016 erscheint die „Zeit“ mit einer Titel-Illustration, bei der Menschen blind und arglos der Kanzlerin auf den Abgrund hinzu folgen. Die Schlagzeile lautet: „Sind die Deutschen verrückt?“


Für Deutschland ein Glück

Sind die Journalisten der „Zeit“ im Sommer 2015 beim Thema Flüchtlinge von Journalisten zu Aktivisten geworden, wie ihr Chefredakteur meint? Sie haben mehrmals von einem „Glück“ für Deutschland gesprochen und vom „Stolz“ auf ein Land, das auf eine solche Herausforderung mit soviel Herz, Gelassenheit und Engagement reagiert. Aber sie haben diese Herausforderungen auch nicht verschwiegen. Sie haben vielleicht die Perspektive von deutschen Familien vernachlässigt, die nicht in gediegenen Altbauwohnungen ein paar alte Kleider zum Weggeben raussuchen, sondern ohnehin schon nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen sollen und sich im eigenen Land oft genug nicht „willkommen“ fühlen.

Natürlich ist das „Willkommen!“ auf der Titelseite der „Zeit“ vor einem Jahr zweideutig. Aber „gefeiert“ hat die „Zeit“ in jenen Monaten in erster Linie nicht, dass Menschen in großer Zahl Zuflucht in Deutschland suchen, sondern dass sie hier auf so viel Hilfsbereitschaft und Engagement stoßen. Sie war entschlossen, die Chancen zu beschreiben, die mit den Veränderungen verbunden sind, wenn es gelingt, die Menschen zu integrieren und auszubilden.

Sie hatte eine klare Haltung, aber von einem Aktivismus war sie weit entfernt. Vielleicht war sie manchmal zu optimistisch und zu positiv gestimmt damals. Aber das waren Übertreibungen, die sicher nicht größer waren als die, mit denen der Chefredakteur später öffentlich die angeblichen Defizite der Berichterstattung beschrieb.

36 Kommentare

  1. Interessant, ähnlich wie der Tagesthemen-Artikel.
    Es ist für mich jedoch schwer nachzuvollziehen, ob diese Auswahl hier wirklich die Haltung der Zeit und die Artikel repräsentativ widerspiegelt, dafür lese ich zu wenig und zu unregelmäßig Zeit. Interessant ist es allemal.

    Lose Gedanken zum Text:
    – wird das jetzt eine Serie? Folgen noch Bild und Spiegel?
    – wieso diese Unter-/Überschrift „STEFAN NIGGEMEIER / KNALLER“

    – Ist ein Artikel, der die Frage „Retten Flüchtlinge unsere Rente?“ mit „Ja.“ beantwortet, dann aber hinterher schiebt, dass man das allerdings ja eigentlich gar nicht so genau weiß, tatsächlich „kein aktivistischer, sondern ein differenzierter, skeptischer Artikel“? Oder werden hier mal wieder die Zahlen irgendwie positiv interpretiert? Es ist ja nicht so, dass es aus der Wissenschaft auch deutlich skeptischere Zahlen zu hören gäbe.

    – Ist es wirklich eine Frage des Platzes, ob man „zwischen der Erschütterung über die Angriffe auf Flüchtlinge und der Begeisterung darüber, wie viele Menschen sich engagieren“ noch kritisch die Handlungen und Haltung der Bundesregierung hinterfragen kann?

  2. Und weswegen genau sollen Herrn di Lorenzo jetzt von den CDU-Innenministern die doppelte Staatsbürgerschaft entzogen werden?
    Fürs Feiern der deutschen Hilfsbereitschaft oder für die Kritik an Merkel?

  3. Jemand, der öffentlich derartig über seine Mitarbeiter spricht, ist in der Tat ein ganz besonderer Kritiker.
    Schon deshalb verdienen diese Ihre Verteidigung, Herr Niggemeier!

  4. @2 Herr di Lorenzo ist manchmal etwas verwirrt und geht darum sicherheitshalber zweimal wählen.
    Er ist als Chef wirklich ein Geschenk für seine Mitarbeiter.

  5. Wenn eine Zeitung Haltung zeigt, macht sie sich damit angreifbar, klar. Das halte ich allerdings nicht für verwerflich, solange man sich nicht vor der Gegenseite verschließt. Ich habe die Berichterstattung der Zeit selbst recht intensiv mitverfolgt. Sie war, wie Stefan Niggemeier erkennt, durchaus eingefärbt, aber nicht verfälscht.
    Ich meine mich zu erinnern, dass Kritiker durchaus auch die (inzwischen) fehlende Haltung der Medien zu bestimmten Themen bemängelt haben.

  6. Letztlich ist es egal, ob ZEIT oder andere Medien, ob Journalisten schreiben oder Kommentatoren zu Meßstetten – sie alle sind zu Ethnologen geworden, die eine Spezies erleben oder von ihr lesen, von der sie so noch nicht berührt worden waren. Entweder als Flüchtling oder seinem Ego Alter, dem deutschen Rechtsradikalen.

    Die Emotionen wallen hoch von Staunen über Freude, von Distanz zur Nähe bis zum Erwachen im Befremden und Nachdenken.

    Hätte man sich nur ansatzweise an sozialer Arbeit z.B. in Stadtteil oder Schule engagiert, wäre einem nichts fremd gewesen, außer der Anzahl der Ankommenden.

    So gesehen sind die Geschichten aus dem Elfenbeinturm sehr interessant und die Elfenbeintürmer das Interessantere der Fabelwesen.

  7. „Sollen wir die vielen Ungereimtheiten bei der Zuwanderung den Hetzern im Netz überlassen, auf dass der Unmut immer größer werde, bis er ohrenbetäubend ist?“
    (G. di Lorenzo)

    Aus meiner Sicht ist das des Pudels Kern. Das massive Wettern der Hardcore-Rechten in den sozialen Medien, auch und gerade in den Kommentarspalten der „Lügenpresse“, zeigt Wirkung. Die Redaktionen sind verunsichert, sind Getriebene.

    Ein Beispiel: um ja nicht in den Verdacht zu geraten, etwas aus politischen Gründen zu verschweigen, wird seit Anfang des Jahres in den meisten Lokalzeitungen bei wirklich jedem noch so lächerlichen Vergehen die Nationalität oder der Migrationshintergrund genannt. Was früher nicht ohne Grund als unzulässige Stigmatisierung betrachtet wurde, ist heute gängige Methode, um sich den Pöbel vom Hals zu halten.

    Zudem kümmern sich die etablierten Medien mit geradezu leidenschaftlichem Engagement darum, die Themen der AfD zu diskutieren. Ob Kopftuch, ob Burkha, der Islam als Ganzes… zwar übernimmt man nicht die Positionen der AfD, aber man gibt ihnen viel Raum, um nicht den Unmut im Netz zu groß werden zu lassen. Der AfD ist das ganz recht: das Agenda-Setting funktioniert. Und schon hat man den Eindruck, der Bundesrepublik drohe wegen geschätzt etwa 100 Niqap-Trägerinnen eine kulturelle Katastrophe.

    Giovanni di Lorenzo ist ein guter Journalist, denke ich, aber er hängt sein Fähnchen gerne nach dem Wind. Dass genau diese Einstellung den Mob noch mehr bestärkt, ist die Tragik so mancher etablierter Redaktion. Man hofft für die „Zeit“, dass der Rest der Mannschaft mehr Rückgrat zeigt als der Chef.

    Danke an Stefan Niggemeier. Dieses wichtige Medienthema wird ansonsten ja recht stiefmütterlich behandelt.

  8. Die Medien sind ein Spiegel der Politik. Man argumentiert gegen Behauptungen der Rechten, statt in die Offensive zu gehen.
    Seit Jahren lassen wir zu, dass patriarchale Strukturen in Familien weiter tradiert werden, dass in Moscheen rechte, rassistische und homophobe Hetzerei betrieben wird. Für die Arbeit mit und in Familien gibt es weder in Schulen noch im Stadtteil richtige Strategien. Es geht um viel mehr als um die Verschleierung. Es geht um die Bereitschaft zu Gewalt im Namen der Ehre, um das Verbannen von Mädchen und Frauen in die Wohnungen, um Heirat in der Ethnie ansonsten Ausstoß, um mangelnde Beratungsstellen für so was außerhalb der Großstädte und es geht um brutale Erziehungsmethoden, die teilweise strafrechtlich relevant sind. Über all das wird im Konkreten hinweg gesehen. Aus Unsicherheit und aus Bequemlichkeit. Man tingelt meistens an der Oberfläche herum. Deshalb landet das Ausmaß so auch nicht in der Presse, weil die gar nicht informiert sind. Ich kenne in den provinziellen Mittelstädten keine einzige Schwulengruppe an Schulen – geschweige denn türkische oder arabische. Auch das hat die Presse noch nie interessiert, sie bleibt bei ihren jährlichen Standardberichten über Aidshilfe, Rosa Hilfe, etc. Medien hinken meistens hinter der Realität her, vorwärtstreibende Impulse aus dunklen Tabubereichen kenne ich kaum. Oder doch nicht?

    Es geht auch nicht um eine deutsche Rechte – es geht um Rechte. Die Presse versäumt es, den richtigen Gegenschlag zu führen und AfD wie Graue Wölfe (als ein Beispiel) gemeinsam als Gegner zu fokussieren. Desgleichen lassen wir uns in der Islamdiskussion vorführen, wobei wir meines Erachtens offensiv die Religionsfreiheit für alle verteidigen oder für alle löschen.

    Viele AfDler sind tatsächlich zu dumm, das Ausmaß der Freiheit zu begreifen, aber sie begreifen etwas, wenn wir die katholische Kirche genau gleich behandeln wollen wie sie den Islam. Wenn die Kirchen auch dazu zu lax sind, dann sind sie mit im Fokus.

    Eine demokratische Offensive muss viel aggressiver ablaufen als jetzt im Moment, wo nur versucht wird zu erklären, dass der Muslim und Flüchtling „auch ein Mensch“ sein und wir aus der Verteidigungshaltung nicht raus kommen. Denn wenn die deutschen Rechten ihr Standbein der Ausländerfeindlichkeit verlassen, haben sie ein erschreckendes Bündnispotential. Von daher sollten wir uns um Arschlöcher kümmern, die international sind.

  9. Früher hatte ich das Gefühl, De Lorenzo sei der am meisten überschätzte Journalist Deutschlands. Seit ich das Vergnügen hatte, ihn einmal persönlich zu treffen, bin ich mir sicher, dass das stimmt.

  10. Sofern hier „ad hominem“ (Beweisrede zum Menschen) argumentiert wird, geht die Argumentation am Kern des Problems vorbei. Ob der Kritiker Chefredakteur ist, eine doppelte Staatsbürgerschaft hat oder sich als illoyaler Chef erweist, hat nichts mit der Richtigkeit oder Falschheit seiner Argumentation zu tun.

    Die Frage, die Giovanni di Lorenzo aufwirft ist doch: Sollen Medien/Journalisten überwiegend informieren oder überwiegend meinungsbildend in Sinne „richtiger“ Anliegen sein? Meine Einschätzung dazu ist, dass sich Journalisten überflüssig machen, wenn sie ihre Arbeit überwiegend einem richtigen oder falschen Anliegen unterordnen.

    Zugespitzt auf das Thema „Lügenpresse“: Vielleicht hätte dieses Schlagwort nicht die Bedeutung gewonnen, wenn sich die „Mainstream“-Medienverantwortlichen früher mit der jetzt erst aufgeworfenen Frage beschäftigt hätten.

    Zur genaueren Untermauerung meiner These möchte ich auf die Arbeiten von Uwe Krüger (https://de.wikipedia.org/wiki/Uwe_Kr%C3%BCger) verweisen.

  11. Aus meiner Sicht wird oben klar, dass die Zeit-Redaktion so sehr an ihre eigenen Lügen geglaubt habt, dass sie mit voller Überzeugung behaupten konnte, die Flüchtlingskrise sei eigentlich gar keine Krise, sondern ein Geschenk. Kleinere unerwünschte Gegen-Argumente könnte man stets mit der Moralkeule wegbügeln.

    Jede Rechnung, die die Zeit zum Thema aufgestellt hat, vor allem hinsichtlich der Kostenfrage, konnte man in Sekunden widerlegen. Man hat sich nicht mal bemüht zu differenzieren.

  12. Rainer Meyer:

    „Die Frage, die Giovanni di Lorenzo aufwirft ist doch: Sollen Medien/Journalisten überwiegend informieren oder überwiegend meinungsbildend in Sinne „richtiger“ Anliegen sein?“

    Seien Sie versichert: Giovanni di Lorenzo ist schlau genug, dass er den Unterschied zwischen einer Wochenzeitung und einer Nachrichtenagentur kennt und schätzt. Außerdem hat Stefan Niggemeier hier doch nun genügend Beispiele dafür aufgelistet, dass die „Zeit“ sehr differenziert berichtet hat.

    PS: Moritz Gathmann hat über Uwe Krüger hier bei Übermedien eine lesenswerte Rezension verfasst –

    https://uebermedien.de/3260/ganz-unverschworen/

  13. Die Zeit ist klassische Lügenpresse und mit diesem Artikel beweisen auch die Übermedien, dass sie ausschließlich im Stechschritt der Propaganda zu marschieren wissen.

    Als Beweis dazu:

    „Das bedeutet aber nicht, dass die „Zeit“ auf Pro-Flüchtlings-Propaganda umgestellt hätte. In der nächsten Ausgabe fragt das Blatt: „Retten Flüchtlinge unsere Rente?“, und antwortet unter anderem:

    „Ja. Allerdings weiß momentan niemand genau, wie groß der Anteil der Flüchtlinge ist, die kurz- und mittelfristig Jobs in Deutschland übernehmen und somit auch Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen können.“

    Die Schlussfolgerung der Übermedien daraus:

    Es ist kein aktivistischer, sondern ein differenzierter, skeptischer Artikel mit mehr Fragen als Antworten.

    Jetzt mal ernsthaft:

    Ein Organ der Lügenpresse behauptet entgegen jeder Vernunft, jeder Erfahrung und jedes rationalen Gedanken, dass die Migranten die Rente retten. Dann finden sich die Übermedien ein und erzählen dem Leser tatsächlich, dies sei differenziert, skeptisch, nicht aktivistisch.

    Haltet Ihr eure Leser für derart bescheuert? Es grenzt ja beinahe an Schwachsinn was einem hier aufgetischt wird. Glaubt ihr denn wirklich, die Menschen sind nicht mehr in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen?

    Das war es dann wohl mit dem Abonnement. Wenn ich Lügenpresse konsumieren will, suche ich bewusst deren Portale auf.

  14. Wir leben, medial gesehen, zunehmend in einer Art Irrenhaus, in dem sich alles verdreht, was früher richtig war. So schnell kommt man ja gar nicht mit! Eine gerettete jesidische Familie aus Mossul, Nordirak, sie war also vor über einem Jahr auf dem Titel der „Zeit“. Sie wäre Opfer des geplanten, teilweise durchgeführten Völkermordes an den Jesiden geworden, durch den IS. Und alles, was man für sie tut, ist richtig! Es waren kämpfende Kurden aus dem Irak und aus Syrien, die diesem Volk, dieser Religion, zur Seite standen. Sie retteten es vor dem Völkermord, kein einiger Panzer der Türkei kam zur Hilfe.
    Und nun? Nun feiern unsere Medien die türkischen Panzer wegen ihres Einmarschs in Syrien und sie berichten über Kämpfe der Türken gegen genau diese Kurden mit vielen Toten. Erdogan hatte die Kurden zu Terroristen erklärt. Die Rettung der kurdischen Jesiden war dennoch richtig!
    Doch die Öffnung der Grenzen für jeden war ein riesiger Fehler und beruhte auf Unkenntnis der Situation der Staaten von Nordafrika bis Afghanistan. „Fluchtursachen bekämpfen“? Eine gute Strategie. Nie jemanden in andere Länder mit Panzern einmarschieren zu lassen! Nie dort jeden abknallen zu lassen, der den Invasoren nicht gefällt. Das wäre „Fluchtursachen bekämpfen“.
    Völlig geisteskrank dürfte die Darstellung der Türkei in unseren Medien geworden sein. Erst sahen wir angebliche oder tatsächliche türkische Helden, die die Führer türkischer Panzern aus diesen Todesmaschinen zogen, um sie zu töten. Dann wird uns berichtet, dass der Abschuss derselben Panzer durch die syrische Kurden in Syrien nicht richtig sei?

    Und im Nachtprogramm laufen in Endlosschleife Dokumentationen zum Panzereinmarsch in Polen, 1939. Er geschah wegen „Terrorismus“ von Gleiwitz. Es wurde zurück geschossen, wie es nun von der Türkei gegen die Kurden von Syrien berichtet wird. Nicht einmal mit einem „Gleiwitz“ als Vorwand, nur mit der Absicht, Menschen auszurotten und einem Volk jeden Staat zu verwehren. Was dann vom den Medien sogar als legitim dargestellt wird, von deutschen Medien!

  15. @DSIE: Wenn Ihnen unsere Artikel zu differenziert sind, zahlen wir Ihnen gerne die Abo-Gebühr zurück. (Dazu müssten Sie uns allerdings Ihre tatsächliche E-Mail-Adresse mitteilen, nicht die, die Sie hier angegeben haben.)

    Aber weil Sie so freundlich gefragt haben, ein paar weitere Zitate aus dem „Zeit“-Stück, das ich als „differenzierter, skeptischer Artikel mit mehr Fragen als Antworten“ bezeichnet habe, den Sie aber für irren Lügepresse-Stechschritt haben:

    Sind Flüchtlinge eine Belastung für den Sozialstaat?

    Das lässt sich pauschal nicht sagen. Solange sie nicht arbeiten, muss die Gemeinschaft die Kosten für ihre Unterbringung, Verpflegung und Gesundheitsversorgung tragen. Inwieweit sich das ändert, wenn die Flüchtlinge eine Arbeit gefunden haben, hängt vor allem von zwei Faktoren ab: dem Alter und der Qualifikation. (…)

    Was würde Flüchtlingen nutzen – und dem Rest des Landes?

    Damit die anerkannten Flüchtlinge gute Jobs finden können, müssen wir sie aus- und fortbilden. Klingt banal, funktioniert aber in der Praxis häufig nicht. (…)

    Wichtig wäre, nicht blind auf die Rechnung zu vertrauen, dass Flüchtlinge immer da helfen können, wo die Alterung der einheimischen Bevölkerung die größten Leerstellen hinterlässt.

  16. DSIE ist Teil der Lügenpresse (höchstwahrscheinlich Zeit-Redaktion!) und will hier nur einen Kritiker diffamieren!
    Ehrlich! Voll keine Wahnvorstellung!

  17. Zitat: „Aber sie haben diese Herausforderungen auch nicht verschwiegen. Sie haben vielleicht die Perspektive von deutschen Familien vernachlässigt, die nicht in gediegenen Altbauwohnungen ein paar alte Kleider zum Weggeben raussuchen, sondern ohnehin schon nicht wissen, wie sie die Miete bezahlen sollen und sich im eigenen Land oft genug nicht „willkommen“ fühlen.“

    Was hier als verschämte Kritik über einen halben Absatz daher kommt, ist aber doch das zentrale Problem. Diese ganze Diskussion ist – inklusive der hier vertretenen Auseinandersetzung damit- unheimlich Eliten-zentriert. Wenn etwa befürchtet wird, dass die Stimmung gegenüber Flüchtlingen „kippen“ könnte, schwingt immer eine moralische Geringschätzung der Stimmungen der Ungebildeten, Rassisten, etc. mit, statt zu fragen, auf welchen realen Lebensumständen diese Stimmungen sich entwickeln. Und das in Medien und ernstzunehmender Politik, in der es die sogenannte Sozialdemokratie verabsäumt, Merkel auf jedes „Wir schaffen das!“ ein „Ja, aber wer ist eigentlich ‚wir‘?“ entgegenzuhalten. Wie von Menschen, denen man seit Jahrzehnten sagt, dass sie flexibler, unternehmerischer, kreativer, mobiler und was weiß ich noch alles werden sollen, denen gegenüber die Gesellschaft also nicht gerade sehr solidarisch ist, Solidarität einfordern?

    Siehe das Sozialstaats-Beispiel im oben stehenden Artikel: Müsste eine weniger Eliten-zentrierte Sichtweise nicht fragen, ob ein Land, in dem die Masseneinkommen seit zwei Jahrzehnten bestenfalls stagnieren und der Druck in den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes (z.T. staatlich gesteuert – Hartz IV) enorm gewachsen ist, tatsächlich Massenzuwanderung „braucht“, oder nicht etwa doch nur der Teil dieser Gesellschaft, dessen Lebensstil von immer weiterem Nachschub an billigen Fahrtendiensten, Paketzustellern und anderen „Dienstleistern“ gestützt wird. Was nicht heißt, dass man nicht aus humanitären Gründen Flüchtlinge aufnehmen soll!

  18. MST:

    Die Frage, ob die Heftigkeit des Widerstands gegen die Aufnahme von flüchtenden Menschen tatsächlich nennenswert damit zusammenhängt, dass diese Einheimischen in prekären Verhältnissen leben oder einen ökonomischen Absturz befürchten, scheint mir keineswegs eindeutig beantwortet. Da sind auch jede Menge Beamte und Pensionäre dabei, die noch niemals ökonomischen Druck gespürt haben. Was bewegt dann diese Leute?

    Sollte aber tatsächlich die Abkehr von Merkel zusammenhängen mit prekären Verhältnissen , wirft das weitere Fragen auf.

    Ich meine, wenn man diese Leute nicht für komplett blöd erklärt, müsste man doch deiner Theorie zufolge diese Leute auch fragen dürfen, warum sich ihr Hass nicht gegen die „Eliten“ richtet, sondern konkret gegen Menschen, die noch weniger haben als sie selbst.

    Und last not least käme noch ein Punkt zum Tragen: warum eigentlich gibt es so viele Zigtausend bis Hunderttausend Menschen mit eben diesen oder ähnlichen ökonomischen Sorgen, die sich stattdessen ehrenamtlich tatkräftig um Flüchtende kümmern?

    PS: Früher haben vor allem Konservative und Rechte Witze darüber gemacht, wenn es hieß, die Gesellschaft sei an vielem schuld. Wo bleibe denn da die Verantwortung des Einzelnen, wurde gefragt. Die Zeiten ändern sich halt.

  19. @Theo/22
    „Was bewegt dann diese Leute?“

    Die „jede Menge Beamte und Pensionäre“ gehören wahrscheinlich dann zu denjenigen, die auf die „kulturelle Bereicherung“ wenig Lust haben.

    Und wer sagt denn, dass sich „der Hass nicht auch gegen die Eliten richtet“? Ist das nicht sogar auch ein Aspekt einer „Protestwahl“? Wie sollte sich der Hass sonst äußern?

    Über diese Fragen wundert man sich nur, wenn man alle Leute, die die Flüchtlingspolitik der Regierung kritisieren als eine homogene Gruppe von Idioten/AfD-Wählern/Rassisten ansieht. Sprich: wenn man die Diskussion viel zu sehr vereinfacht. Aber das hatten wir ja oben schon.

  20. Max,

    die von rechter Seite gerne genutzte Wendung der „kulturellen Bereicherung“ ist in so vieler Hinsicht abgeschmackt, herablassend und auch unsinnig, dass ich Sie gerne damit alleine lassen würde.

    Nein, der Hass von rechts hat sich eigentlich noch nie gegen jene Eliten gerichtet, die für ungleiche Vermögensverhältnisse verantwortlich sind. Das Programm der AfD zeichnet sich auch nicht dadurch aus, dass die Einkommens-Schere gemildert werden soll. Zumindest in der Hinsicht wartet auf die Querfront-Ideologen noch eine Menge Arbeit.

  21. „Die Frage, ob die Heftigkeit des Widerstands gegen die Aufnahme von flüchtenden Menschen tatsächlich nennenswert damit zusammenhängt, dass diese Einheimischen in prekären Verhältnissen leben oder einen ökonomischen Absturz befürchten, scheint mir keineswegs eindeutig beantwortet. Da sind auch jede Menge Beamte und Pensionäre dabei, die noch niemals ökonomischen Druck gespürt haben. Was bewegt dann diese Leute?“

    Gefährlich sind die, die noch was zu verlieren haben, nicht jene, die bereits alles verloren haben. (In Weimar wählten mehr Arbeiter und Beamte als Arbeitslose die Nazis) Und die aus PräBabyboomer-Altersgründen heute noch gut abgesicherten haben auch Kinder, Enkel und weniger glückliche Ex-Kollegen, an denen Sie beobachten können, dass die bei selbem Fleiß dennoch in Zukunft nicht mehr ebenso sicher ökonomisch und gesellschaftlich fest integriert und respektiert sein werden.

    Die neoliberale Gesellschaftserosion hat neben vielen anderen Aspekten das Verhältnis zwischen dem Einzelnen, dem Individuum und der Gesellschaft fundamental zum Schaden des Einzelnen verändert.

    „Ich meine, wenn man diese Leute nicht für komplett blöd erklärt, müsste man doch deiner Theorie zufolge diese Leute auch fragen dürfen, warum sich ihr Hass nicht gegen die „Eliten“ richtet, sondern konkret gegen Menschen, die noch weniger haben als sie selbst.“

    Recht banaler psychologischer Mechanismus: Wer für sich mehr ökonomische Mildtätigkeit erbittet, fühlt sich dabei als bittstellender Loser. (Und das erst recht in einer neoliberalen Leistungsgesellschaft) Wer nach unten tritt, fordert etwas was ihm mehr zusteht als dem wirklichen Loser. Das ist recht universell, wenn auch vielleicht in der deutschen Leitkultur dieser Faktor überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist.

    „Und last not least … warum eigentlich gibt es so viele Zigtausend bis Hunderttausend Menschen mit eben diesen oder ähnlichen ökonomischen Sorgen, die sich stattdessen ehrenamtlich tatkräftig um Flüchtende kümmern?“

    Sind das dieselben? Das bezweifle ich. Es ist aber auch egal: Die entsprechenden sozioökonomischen Bedingungen und Menschenbilder produzieren nicht 1:1 identische menschliche Ergebnisklone. Unter Bedingung A) wird nur 1/100 so. Unter B) sind es schon 6-7 von 100 und unter C) vielleicht schon bis zu 25 (womit wir den derzeitigen Stand in EU-Land haben und uns bereits Richtung Weimarer Zeit bewegen)

    Das verfestigte rechtsextreme Kernpotential schwankt bekannterweise recht zeitunabhängig in D und den meisten anderen westlichen Staaten natürlich zwischen 5-10%. Leicht ansprechbar für solches sind bis ca. 15%. Und unter den passenden Umständen sind 30 bis zu 40% anschlussfähig und -willig.

    Um es zu pauschalisieren: Jedes Land, in dem DIE zweistellige Wahlanteile bekommen, stellt den Respekt für die Menschenwürde offenbar allzu brutal unter einen Finanzkraftvorbehalt. Und wenn der Einzelne als Mensch an sich keinen Respekt erwarten kann, bleibt nur der Ausweg einer einenden privilegierten Volksgemeinschaft, die dann aggressiv eingefordert wird.

    Und die Querfront ist wegen Bedeutungslosigkeit vernachlässigenswert. Ein Teil der früheren Linken hat sich im universellem Westarroganzbellizismus mit Neocons und US-Weltpolizisten verbündet (sehr viele Ex-Maoisten ), ein weiterer Teil lief im angesagten Rebellen-Modus direkt nach ganz rechts über und der anarchistische Bodensatz predigt heute die neoliberale Asozial-Freiheit.

    Die paar esoterisch verstörten Ex-Alternativen in der Querfront, mit dem intellektuellen Potential eines Xaviers, in ihrer Bedeutung zu unterschätzen dürfte nahezu unmöglich sein.

    Wie auch immer: Hypothetischer Fall Massenvollbeschäftigung in voll abgesicherten, nicht prekären Arbeitsverhältnissen vorausgesetzt, hätte die AFD in MV nicht mal ein zweistelliges Ergebnis erreicht. Und, entsprechende Beschäftigungssituation in den 20-30er-Jahren vorausgesetzt, hätte es keinen Führer und kein 3. Reich gegeben. Daran kann es keinen ernsthaften Zweifel geben, oder?

    Meine sehr persönliche Sorge ist, dass solange eine Mehrheit der Multiplikatoren in den Medien ähnlich vorsätzliche Begriffsstutzigkeit perpetuieren, und Trump/AFD und co stets immer nur auf den völkisch-rassistischen Kern reduzieren, sich das einfach so weiterentwickelt, zu deren Gunsten.

  22. „Gut ausgebildete und integrierte Menschen bereichern das Land.“
    Ebenso richtig wie abstrakt.
    Von Journalismus erwarte ich aber, dass er frühzeitig der Frage nachgeht, wie gut ausgebildet die Menschen sind, die tatsächlich kommen, und darauf aufbauend, wie viele Menschen mit diesen Voraussetzungen vernünftig integrierbar sind. Dazu gab es zunächst nur Schweigen oder naive Träume. Kritiker, die darauf hinwiesen, wurden gerne ohne jede Differenzierung in die rechte Ecke gestellt. Die Konflikte und Kämpfe, die dadurch aufgebrochen sind, werden wir uns noch lange beschäftigen.
    Natürlich sind Seehofer und die CSU bis heute daran schuld, auch in diesem Beitrag wieder. Das ist ziemlich peinlich, weil mittlerweile jeder sehen kann, dass der Brand nirgendwo stärker lodert als in Preußen, in Sichtweite der weißen Türme auf dem Hamburger Moralhügel, unter anderem im Wahlkreis einer Kanzlerin, die offensichtlich jeden Draht zu „ihrem“ Volk verloren hat.

  23. @Andreas Müller: Ab wann hätte sich halbwegs seriös die Frage beantworten lassen, wie gut ausgebildet die Leute sind, die da kommen? Und Sie meinen, wenn man es wüsste, könnte man irgendwie als Zahl angeben, wie viele sich davon integrieren lassen?

    Ich will gar nicht die Berichterstattung der „Zeit“ komplett verteidigen, ich sehe sie durchaus ambivalent. Aber sie hat die Aufgabe, die da zu leisten ist, durchaus als große Anstrengung bezeichnet. Was Sie fordern, ist nicht die Frage: „Wie schaffen wir das?“, die die „Zeit“ durchaus gestellt hat. Sondern die Aussage: „Das ist nicht zu schaffen“.

    Dass nun gerade Mecklenburg-Vorpommern überfordert sein soll mit der Integration der Flüchtlinge, ist allerdings eine steile These. Dafür gibt es aber inzwischen sehr gute, differenziertere Erkärungsversuche für den großen Erfolg der AfD dort.

  24. @29 Stefan Niggemeier
    „Ab wann hätte sich halbwegs seriös die Frage beantworten lassen“
    Stichproben wären vom ersten Tag an möglich gewesen und nicht per se weniger seriös als der undifferenzierte Jubel über die eigene moralische Größe.
    „Sondern die Aussage: ‚Das ist nicht zu schaffen‘.“
    So einfach ist das nicht, denn die Größe der Aufgabe war durchaus steuerbar, wie die Schweden im Dezember gezeigt haben. Wollen Sie etwa behaupten, dass es a priori Pflicht war, die Aufgabe unbegrenzt groß werden zu lassen und gleichzeitig darauf zu bestehen, dass sie zu schaffen ist?
    „Dass nun gerade Mecklenburg-Vorpommern überfordert sein soll mit der Integration der Flüchtlinge“
    habe ich nicht behauptet, sondern dass dort der politische Brand hoch lodert, den angeblich die bösen Bayern verursacht haben.
    „Dafür gibt es aber inzwischen sehr gute, differenziertere Erkärungsversuche für den großen Erfolg der AfD dort“
    und auch in Sachsen-Anhalt. Erklären ist Eines, Ändern etwas ganz Anderes. Die jahrelange debattenfeindliche Einstimmigkeit des Merkel-Blocks hat die Republik verändert, vor allem aber Preußen. Das und das anti-bayrische Getöse von Leuten wie Spiegel-Kuzmany lässt im Süden durchaus auch langsam Gedanken an eine mögliche Sezession heranreifen. Vom Brexit bis zum Bayxit wird nach und nach vieles denkbar, was vor Jahren nach undenkbar schien.

  25. @Andreas Müller: Sie meinen, man hätte den Leuten am Bahnhof in München nicht nur Teddys und Wasser in die Hand drücken müssen, sondern sie auch gleich fragen sollen, was sie studiert haben? (Es gab gar keinen undifferenzierten Jubel. Lesen Sie die großartige Reportage von Amrai Coen und Henning Sußebach.)

  26. „Lesen Sie die großartige Reportage von Amrai Coen und Henning Sußebach.“
    Das habe ich getan, finde sie aber weder so großartig noch eine Reportage:
    „Eine neue Völkerwanderung ist im Gange, in diesem Sommer wird sie mitten in Europa sichtbar. Flüchtlinge sitzen an Italiens Stränden, im französischen Calais springen sie auf Lastwagen, die nach England fahren. Die Entwicklung befeuert längst die Politik, füllt Schlagzeilen und Sondersendungen, Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer stopft mit Reden über „massenhaften Asylmissbrauch“ das Sommerloch. Im anschwellenden Meinungsgetöse ist eine Geschichte nahezu unerzählt geblieben. Dass sich eine Grenzstadt im Südosten der Republik in ein deutsches Lampedusa verwandelt: Passau. Von Osteuropa aus betrachtet, ist die Stadt der erste große Verkehrsknotenpunkt im Westen, das erste erreichbare Stück Deutschland, erschlossen mit drei Autobahnabfahrten. “
    Allein dieser kurze Textabschnitt strotzt nur so vor Fehlern und Wertungen:
    1.) Aus dem französischen Calais kommt so gut wie niemand nach England, der auf einen Lastwagen springt. Dort wird mit Minimalchancen jahrelang gewartet. (In diesem Sommer haben übrigens Bauern und Geschäftsleute aus Calais wieder für die Räumung des als „Dschungel“ bekannten Lagers demonstriert, ohne dass sie von den französischen Medien als „Pack“ bezeichnet wurden. Ihre Gründe wurden ebenso fair und sachlich berichtet wie die der Bewohner, nach England zu wollen. Ich habe sowohl die Regionalpresse wie Fernsehberichte dazu verfolgt.)
    2.) Horst Seehofer stopft mit seinen Reden das Sommerloch grundsätzlich nicht mehr und nicht weniger als Angela Merkel oder Sigmar Gabriel. Diese willkürliche Behauptung hat in einer guten Reportage gar nichts verloren: kein Bericht, sondern eine reine Wertung.
    3.) Passau ist nicht der erste größere Verkehrsknotenpunkt im Westen. Seit wann gehört Österreich nicht mehr zum Westen und warum Slowenien noch nicht?
    Wollen Sie eigentlich nicht sehen, dass alle drei kritisierten Elemente den Zweck haben, dem Leser eine Unausweichlichkeit von Merkels Politik vorzugaukeln, ihn darüber zu täuschen, dass Deutschland einen ziemlich einsamen Sonderweg eigenschlagen hat und sich allein eine riesige Last auflädt, und darüberhinaus jede legitime Kritik daran von Anfang an in ein moralisches Zwielicht zu stellen?
    Was Sie für großartig halten, ist ziemlich exakt in dem einseitigen journalistischen Kampagnenstil geschrieben, der das ganze Land seit dem Sommer 2015 regelrecht gespalten hat und weiter keine Chance lässt, dass diese wieder verschwindet. Bis heute ist es so, dass hier genug Kommentatoren herumlaufen, die es zum Non-Argument erklären, dass Großbritannien genau 30000 aufgenommen hat und keinen einzigen Flüchtling mehr. Inzwischen bauen die Briten an ihrem Tunnelende in Dover einen Zaun als Vorsorge für den Fall, dass die Franzosen in Calais ihre zugegeben beinharte Verhinderungspolitik ändern. Französische Medien berichten das, deutsche nicht, denn es ist ja unmöglich bzw. sinnlos bzw. verbrecherisch bzw. was auch immer.

  27. Korrektur:
    Es waren natürlich keine französischen Bauern (wie sonst), sondern LKW-Fahrer, die die Autobahn bei Calais blockiert haben, um die Räumung und Zerstörung des „Dschungels“ durchzusetzen. Sie wollen nicht mehr die Verantwortung dafür tragen, dass Bewohner von dort sich beim Vorbeifahren zur Bahnverladung unter ihre Fahrzeuge schmuggeln und dabei nicht selten zu Tode kommen. Die allermeisten, die es schaffen, werden bei der Verladung mit Hunden gefunden und zurückgeschafft. Die französischen Medien muten ihren Zuschauern diese Forderung und damit die Tatsache zu, ohne den Migranten niedere Beweggründe für ihren Einreiseversuch nach England vorzuwerfen und ohne gleichzeitig eine Kampagne für die generelle Öffnung der Grenze zu fahren. Sie INFORMIEREN über das, was ist und was zu entscheiden ist. Beides gleichzeitig scheint in Deutschland nicht möglich zu sein.

  28. „Dafür gibt es aber inzwischen sehr gute, differenziertere Erkärungsversuche für den großen Erfolg der AfD dort.“

    Das würde mich sehr interessieren. Wäre es möglich, einen Hinweis darauf zu geben, wo Sie die gefunden haben?
    Die FGW-Vorwahlumfrage bot ja schon spannende Ergebnisse im Detail.
    Ob nun politische oder empirische Analyse: Ich wäre für jeden Link zu differenzierteren Bearbeitungen sehr dankbar.

  29. Das ist, wie so soft, ziemlich willkürlich, was der Güllner da zusammeninterpretiert. Der Mann ist in erster Linie das, was die Angelsachsen einen „Spin-Doktor“ nennen. Wenn Sellering stärker verloren und nicht eher überraschend stabil abgeschnitten hätte, hätte er eingeflochten, dass ihm seine Kritik an Merkel im Wahlkampf geschadet habe:
    http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-08/erwin-sellering-angela-merkel-afd-mecklenburg-vorpommern
    Kostproben zu diesem Argument findet man bei den Leserkommentaren. So schweigt er lieber darüber. Güllner ist inzwischen so einfach zu lesen wie ein offenes Buch.

  30. @Stefan Niggemeier:

    Danke. Schwäche der Landes-CDU und ihres Spitzenkandidaten erscheint plausibel. Das ist sicher ein Faktor.
    Die von Güllner genannten Zahlen scheinen mir aus der selben (FGW?-)Umfrage für die ARD zu stammen.
    Sieht man sich die darin erhobenen, als relevant genannten, Problemthemen und zugeordnete Lösungs-Kompetenzzuschreibung für die AFD an, kamen wohl zumindest die Hälfte ihrer Stimmen von Wählern, die der Partei nichts zutrauen und sie nicht mal zwingend mögen. Das nenne ich eine typische Protestwahl, die nur zum Teil Reaktion auf das Flüchtlingsthema ist. Den weiteren Gründen nachzugehen kommt mir bei Güllner zu kurz, da bieten die weiteren erhobenen relevanten Themen durchaus Ansätze. Und seine Relativierung anhand der Nichtwähler finde ich sogar irreleitend, denn der erhebliche Anstieg der Wahlbeteiligung resultierte aus der Mobilisierung ehemaliger Nichtwähler durch die AFD.

    …lese FAS…

    Danke für den Tipp, lesenswert. Endlich überwindet mal jemand die Verengung auf den völkischen Aspekt. „Infrastruktur“ beispielsweise war für die befragten Wähler ein Topproblem. Da ich MV selbst gar nicht kenne, hilft mir dieser Artikel dabei, das konkreter zu verstehen.

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