Doku über Helmand

„Die steinigen uns hier“: RTL macht Drama in Afghanistan

„Wenn Kandahar schon schlimm ist für Frauen, dann ist Musa Qala die Hölle für Frauen. Die Provinz Helmand ist absolutes Taliban-Kernland und dort haben sie schon immer das Sagen gehabt. Dort gibt es keine anderen Einflüsse. Und die Menschen unterstützen auch alle die Taliban – schon immer.“

Das ist die Erzählung, die RTL-Reporterin Liv von Boetticher in ihrer Dokumentation „60 Tage Frauenhass: Eine Reporterin bei den Taliban“ verbreitet. Schon der Titel klingt wie ein Experiment nach dem Vorbild anderer Selbsterfahrungs-Formate, in denen sich Reporter:innen eine Zeitlang in einen anderen Beruf, eine andere Religionsgemeinschaft oder sonst ein Setting begeben, das sich von ihrer Lebenswirklichkeit unterscheidet.

60 Tage Afghanistan heißt demzufolge also 60 Tage Frauenhass – eine fragwürdige implizite Gleichsetzung.

RTL-Reporterin Liv von Boetticher steht in Kandahar neben afghanischen Menschen auf einem Markt
RTL-Reporterin von Boetticher in Kandahar Foto: RTL / Christoph Klawitter

Und überhaupt: Die Taliban haben dort in Helmand, wie es im eingangs erwähnten Zitat heißt, „schon immer das Sagen gehabt?“

Man muss vielleicht nicht damit anfangen, dass Afghanistan zu den ältesten von Menschen besiedelten Regionen der Welt gehört, aber vielleicht könnte man zumindest daran erinnern, dass es in den 1970er-Jahren eine Republik war und später kommunistisch wurde? Oder irgendwo nachlesen, dass die Provinz Helmand in dem eher liberalen Königreich, das von 1926 bis 1973 existierte, Schauplatz einer Modernisierungskampagne mit amerikanischer Hilfe war und zeitweise den Namen „Little America“ trug?

RTL aber verkauft Helmand als Ort, an dem es „keine anderen Einflüsse“ gebe, als ob dort noch nie jemand andere Bücher gelesen hätte als den Koran oder mit einer Satellitenverbindung mal das Internet erblickt hätte, kurz: dass die Taliban, trotz jahrzehntelanger amerikanischer Militärpräsenz in der Region, Anfang und Ende der 50.000-jährigen Geschichte menschlicher Zivilisation in Helmand sind. Reporterin von Boetticher stellt das einfach mal fest, wie aus einem dominierenden Bauchgefühl heraus.

Doch was führt sie überhaupt an jenen vermeintlich blinden Fleck auf der Landkarte, in dem die Taliban angeblich „schon immer“ das Sagen haben?

Man sei dorthin gefahren, heißt es in der Doku, um auf einem Markt Interviews mit Einheimischen zu führen. Was ja hieße, auf die Menschen zuzugehen. Aber schon als das Team auf dem Markt eintrifft, warnt Christoph Klawitter, der als Afghanistan-Experte ausgegeben wird und ständiger Begleiter der Reporterin ist:

„Die steinigen uns hier, das ist keine Witzveranstaltung!“

Klawitter weist Reporterin von Boetticher deshalb an, nur mit dem Übersetzer zu sprechen, wenn sie etwas kaufen wolle, und dass sie niemanden direkt anschauen solle. Das klingt nicht so, als würde man beabsichtigen, Interviews zu führen. Haben sie dann auch nicht, kein einziges Interview.

Afghanische Männer, die gucken

Was genau dort so gefährlich sein soll und warum RTL die Reporterin dieser Gefahr aussetzt, bleibt unklar. Am Ende kehrt von Boetticher wieder um, nachdem sie einen Beutel voll mit einem Gewürz gekauft hat, und tatsächlich werden sie und ihr Team von Menschen umringt, aber das kann einem auch bei Dreharbeiten in einer deutschen Fußgängerzone passieren, von Gegenden, in denen halt selten Fremde vorbeikommen, ganz abgesehen.

RTL-Reporterin Liv von Boetticher
Guck mal, wer da guckt: RTL-Reporterin von Boetticher Screenshot: RTL

Gesteinigt wurde die Reporterin jedenfalls nicht. Die afghanischen Männer und Jungen, die sich um sie scharen, schimpfen nicht, schreien nicht, schlagen nicht, sie haben offenbar auch keine Waffen dabei, alles, was sie machen, ist: Sie gucken.

Doch dieser Blick der muslimischen Männer, so empfindet es von Boetticher, sei ein „Spießrutenlauf“. Und da dies offenbar noch nicht dramatisch genug ist, rechtfertigt sie ihre Angst nach glücklicher Rückkehr ins Auto damit, dass ihr Übersetzer gehört habe, einer der Männer wolle sie entführen und „wer weiß was“ mit ihr anstellen.

Eine RTL-Sprecherin sagt auf Anfrage von Übermedien, die Aussage („Die steinigen uns hier, das ist keine Witzveranstaltung!“) sei „als eindringlicher Appell im historischen Kontext zu verstehen, sich in Musa Qala an die Situation vor Ort anzupassen“. Man sei „im Vorfeld davon ausgegangen, dass zwar niemand mit unserer Reporterin direkt sprechen wird, Interviews mit einem männlichen Begleiter aber möglich“ sein würden. Dies habe sich dann anders entwickelt.

Völlig unklar ist allerdings, ob eine reale Gefahr bestand – oder ob man Zeuge einer Inszenierung wird, in der der angeblich lüsterne, vor sich hingeifernde muslimische Mann, der „schon immer“ die Taliban unterstützt habe, allein deshalb zur Lebensbedrohung mutiert, weil er guckt. Dass RTL und die Reporterin damit in einer langen Tradition des westlichen Blicks auf „den Orient“ steht, dessen koloniale und rassistische Implikationen seit Jahrzehnten wissenschaftlich, journalistisch und gesellschaftspolitisch verhandelt werden, sei hier nur am Rande erwähnt.

Der Marktbesuch ist eine Schlüsselszene der ganzen Doku: Es ist grundsätzlich weder falsch noch verwerflich, als Reporter:in auch mit wenig Vorwissen zu berichten, wenn man dem Publikum dadurch authentischer erzählen will, wie man sich in einer unbekannten Umgebung zurechtgefunden hat. Das ist das Erfolgsrezept aller Selbstversuch-Formate, die im Fernsehen und auf Youtube in den vergangenen Jahren immer mehr wurden. Allerdings ist ein Selbsterfahrungs-Trip nach Afghanistan, den man dann auch noch „60 Tage Frauenhass“ nennt, dafür einfach furchtbar ungeeignet.

Interessante Begenungen geraten in den Hintergrund

Es gibt auch interessante Begegnungen in dieser Dokumentation, etwa wenn von Boetticher zwei Ärztinnen trifft, von denen eine als Gynäkologin ein Mindestmaß an Sexualaufklärung und medizinischer Versorgung für Frauen leistet. Während sie arbeitet, passt ihr Mann auf die Kinder auf, auch das ist ungewöhnlich. Später sieht man die Reporterin mit der Familie auf einem Kabuler Jahrmarkt Autoscooter fahren. Ein Einblick in den Alltag Afghanistans, der überraschend ist – und sich vom zumeist an Anschlägen und Terror orientierten Bild der Nachrichtenmedien unterscheidet.

Auch die Geschichte einer jungen Volleyball-Spielerin, die nicht von den Taliban, sondern von ihrer eigenen Familie unterdrückt wird, ist sehenswert. Offenbar nutzen die männlichen Familienmitglieder die Taliban nur als Vorwand zur totalen Kontrolle über die Frauen, was von der Reporterin gleich verallgemeinert wird – als wäre das in der Mehrheit der afghanischen Familien der Fall. Bei dieser aber fragt man sich natürlich, ob es die Protagonistin nicht womöglich gefährdet, wenn RTL das nun so sendet.

Auf Anfrage sagt eine RTL-Sprecherin, man stehe „auch nach unserer Abreise aus Afghanistan mit der Familie in Kontakt“. Sie habe Afghanistan „vor Ausstrahlung unserer Reportage“ verlassen. In der Doku erfährt man davon allerdings nichts. Und die Frage, wie die Familie reagiert, wenn sie erfährt, dass die Tochter laut RTL ihre „Gefangene“ sei, wie es Christoph Klawitter in der Doku formuliert, ist damit auch nicht beantwortet.

Ein Mann für alle Fälle

Ohnehin ist die Rolle von Klawitter ebenso schillernd wie merkwürdig: Er wird eingeführt als Afghanistan-Experte, der 20 Jahre lang in Kabul gelebt habe. Er hat offenbar große Teile der Reise organisiert, das Haus gemietet, den Übersetzer besorgt. Klawitter kennt sogar den deutschen Arzt, der von Boetticher wegen eines Magen-Darm-Infekts behandelt. Und von ihm stammen auch die Pressefotos, die RTL zur Doku anbietet.

Christoph Klawitter (l.) und RTL-Reporterin Liv von Boetticher
„Keine Witzveranstaltung“: Christoph Klawitter Screenshot: RTL

Klawitter ist der Mann für alle Fälle, auch für gefährliche: Als Taliban das Haus des Teams durchsuchen, gibt er den Beschützer und herrscht die bewaffneten Kämpfer an, was ihnen einfalle, in seinem Haus in die Räumlichkeiten einer Frau einzudringen, die nicht zu ihrer Familie gehöre! So zumindest wird es im Off-Text nacherzählt, aber man fragt sich unwillkürlich, ob es wirklich so einfach sein kann. Wenn Taliban klopfen, sagt man einfach: „Sorry, Frau im Haus!“ – und dann gehen sie wieder? Oder liegt es an Klawitter, weil der als „Consultant“, wie er sich auf Linkedin bezeichnet, so viel Einfluss und Erfahrung hat?

Die echte Überraschung folgt jedoch im Abspann. Dort steht: „Redaktion: Christoph Klawitter“.

Klawitter wäre damit Protagonist, Experte, Organisator, Pressefotograf und Secruity in Personalunion – und gleichzeitig der einzige Redakteur? Auf Anfrage sagt RTL dazu lediglich:

„Christoph Klawitter hat zu keinem Zeitpunkt inhaltlich Einfluss auf die Gestaltung der Reportage gehabt. Weder bei der Auswahl der gezeigten Szenen noch in der textlichen Einordnung und Bewertung. Er war unter anderem für Recherchen zur jeweiligen Sicherheitslage vor Dreharbeiten, Recherchen zu Personen und Drehorten für die Dari-Kenntnisse erforderlich waren, zuständig.“

Ein Redakteur ohne Einfluss auf den Inhalt also. Aha. Wie der Widerspruch zum Abspann zustande kommt, erklärt RTL nicht. Dass das alles journalistischen Standards entspricht, darf trotzdem bezweifelt werden.

Zumal man auch den Eindruck nicht los wird, dass die Meinung der Reporterin über das Land erstaunlich deckungsgleich mit der von Klawitter ist. Er behauptet unter anderem, die Sicherheitslage im Land sei nun trotz allem deutlich besser als vor der Machtübernahme der Taliban, weil diese ja zuvor die größte terroristische Bedrohung gewesen seien. Dass die ehemaligen Ortskräfte der Bundeswehr und anderer westlicher Organisationen und Armeen systematisch verfolgt und bedroht würden, bestreiten Klawitter und von Boetticher gleichermaßen.

In der Doku ist das überhaupt kein Thema, es kommt nicht eine einzige ehemalige Ortskraft vor – in zahlreichen Tweets äußert sich von Boetticher allerdings sehr entschieden:

Dabei wird ihr sogar von einer Reporterin widersprochen, die für „Stern TV“ arbeitet, also auch für RTL:


RTL sagt dazu auf Anfrage, „zu keinem Zeitpunkt“ habe die Reporterin eine generelle Gefahr für ehemalige Ortskräfte bestritten. Ihre Tweets berichteten „von den Recherchen vor Ort und gibt den zum Veröffentlichungs-Zeitpunkt aktuellen Stand der Recherche wieder“. Auch andere Medien seien zudem zu der Einschätzung gelangt, „dass man zum jetzigen Zeitpunkt nicht von einer generellen gezielten Verfolgung ehemaliger Ortskräfte sprechen kann“.

Reporterin gefährdet – Ortskräfte nicht?

Es gibt aber eben auch Hilfsorganisationen und andere Journalist:innen, die von zahlreichen Verfolgten und auch von Ermordeten berichten. Und das, was die Reporterin twittert, steht auch in Widerspruch zur Doku, die die Gefahr massiv in den Vordergrund rückt.

Es wirkt alles komisch und inszeniert, wenn von Boetticher zu Beginn ihres Films dem deutschen Kameramann theatralisch ihr Testament übergibt, weil ihre Eltern das so gewollt hätten, sie aber leider keine Gelegenheit mehr gehabt habe, das Testament zur Post zu bringen – um dann im nächsten Zug zu twittern, sie habe keine einzige gefährdete Ortskraft getroffen. Doch alles nicht so schlimm?

Für von Boetticher vielleicht, weil sie als westliche Reporterin eher weniger gefährdet sein dürfte. Clarissa Ward, die seit Jahren für CNN auch aus Afghanistan berichtet, drehte kürzlich eine Einschätzung von einem Markt in Kabul, in der sie die aktuelle Situation vor Ort als eher entspannt beschreibt.

Auch bei anderen Tweets der RTL-Reporterin fragt man sich, wo Einordnungen und journalistisches Handwerk bleiben, wenn sie ungefiltert Regierungspropaganda der Taliban verbreitet. „#Taliban haben kein Problem mit der Presse … Regeln bleiben wie gehabt“, schreibt sie dort. Oder sie verbreitet Statements der Taliban zum Ukraine-Krieg, in denen sie sich mit dem ukrainischen Präsidenten Zelensky vergleichen. Ihr Sender RTL ist in den Tweets stets markiert. Liv von Boetticher gehört dort laut ihres Twitter-Profils zum „Verifizierungsteam und Investigativ-Unit“.

Nach den 60 Minuten, die noch in der Mediathek zu sehen sind, wirkt alles so, als sei hier eine Reporterin mit der Aufgabe, eine große Afghanistan-Doku zu machen, etwas überfordert gewesen, zumal ihr offenbar fundierte landeskundliche und politische Expertise fehlen. Die soll dann von Christoph Klawitter gewissermaßen zugeliefert werden, aber seine Rolle ist eben auch undurchsichtig. Hinzu kommen die fragwürdig überinszenierten Bedrohungsszenarien, die immense Dramatik und die rassistischen Stereotype und Klischees, die anklingen. Es ist einfach kein guter Film.

Eine professionelle Redaktion hätte diese Probleme zumindest abmildern können. Doch bei RTL ist man anscheinend nicht unzufrieden: „Hautnah“ nehme uns die Reporterin „mit auf eine emotionale Reise, die sie an ihre Grenzen bringt“, wirbt der Sender. Und Emotionen, das kann man sagen, werden tatsächlich ausreichend angesprochen. Die Frage ist nur, ob es das ist, was RTL mit seiner Journalismus-Offensive bedienen will.

3 Kommentare

  1. Ich fand das auch alles sehr merkwürdig. Zumal Frau von Boetticher fast nie Ihr Gesicht verhüllte und immer geschminkt war.. Für radikale Taliban wäre das ein no-go gewesen.

  2. Chris Klawitter ist übrigens einer der zivilen Protagonisten in der dreiteiligen Spiegelserie zum Abzug der Deutsch aus Afghanistan.

  3. Warum ist die RTL-Reportage aktuell „offline“? Vlt fragt ihr mal beim Sender nach, ob es an der vielen Kritik lag …

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