Wochenschau (129)

Stuckness: Warum wir endlos in denselben Diskussionsschleifen festhängen

Warnschild mit Person, die feststeckt

Das Gefühl stellte sich wieder ein, als ich am Samstag den Gastbeitrag „Die Bellizisten sitzen im sicheren Wohnzimmer“ des Soziologen Hartmut Rosa im „Spiegel“ las. Es ist ein Gefühl, das ich in letzter Zeit immer wieder habe: Das Gefühl, sich in einer Wiederholungsschleife der Diskurse und Verhandlungen zu befinden und nicht aus diesem Nachrichten-Loop rauszukommen.

Der „Atlantic“-Autor Charlie Warzel hat dieses Gefühl sehr präzise in seinem Newsletter umschrieben und benutzt ein Wort dafür: Stuckness. Man könnte das mit Festgeklemmtheit oder Festgebohrtheit übersetzen, das Gefühl, sich im Status des Festsitzens zu befinden.

Er beschreibt, wie ihn dieses Gefühl ereilt, wenn wieder ein Amoklauf in den USA passiert ist, wenn wieder Thoughts and Prayer geteilt werden und wieder Gesetzgeber nichts dafür tun, weiteren Terror dieser Art zu verhindern.

Ich empfinde eine derartige Stuckness zum Beispiel bei den aktuellen Debatten, ob der Ukraine schwere Waffen geliefert werden sollten, ob ein Tempolimit sinnvoll ist, ob Maßnahmen gegen die Pandemie nötig sind. Es werden Argumente veröffentlicht, beispielsweise in offenen Briefen, dann Repliken, die den Argumenten in den offenen Brief widersprechen, dann Gastbeiträge, welche die erstgenannten Argumente wiederholen, vielleicht präzisieren oder elaborieren und sie an die gegenwärtige Kriegssituation anpassen, dann wiederum Versuche, diese gleichen Argumente mit den gleichen bereits angeführten Gegenargumenten zu entkräfte.

Es ist eine diskursive Möbiusschleife, in der es von außen betrachtet nicht wirklich zu einer Auflösung kommt bzw. kommen kann, unabhängig davon, ob man ethisch, politisch, strategisch oder ökologisch argumentiert. Alle notwendigen Informationen sind bekannt, alle Schlussfolgerungen, die unterschiedliche Akteure mit ihren unterschiedlichen Einschätzungen und Positionen ziehen können, wurden bereits gezogen. Nun also Hartmut Rosa und abermals das Gefühl der Stuckness.

Das Internet ist kein Ort, sondern eine Zeit

Und genauso wie Charlie Warzel frage ich mich: Woher kommt dieses frustrierende Gefühl, dass wir uns im Kreis drehen, in der Art und Weise, wie wir debattieren, insbesondere in sozialen Medien, und uns auch journalistisch sisyphosmäßig immer wieder auf einer Art Penrose-Treppe abarbeiten?

Warzel stellt eine faszinierende Idee des Schriftstellers und Technologietheoretikers L.M. Sacasas vor, die helfen könnte, diese Schleife zu erklären und vielleicht sogar aufzubrechen. Einem breiteren Publikum ist Sacasas nach einem Gespräch mit Ezra Klein bekannt geworden. In dessen Podcast stellte er eine Liste mit 41 Fragen vor, die wir seiner Ansicht nach der Technik stellen sollten, die unser Leben bestimmt.

Sacasas stellt die These auf, dass das Internet kein Ort für menschliche Interaktionen sei, sondern eine Zeit. Genau genommen sei das Internet die jüngere Vergangenheit.

„Wir konzentrieren uns nicht auf das Ereignis oder die Bewegung vor uns, sondern auf das, was direkt hinter uns liegt“, erklärt Sacasas in einem Gespräch mit Warzel:

„Wenn wir diese Ereignisse überlagern, wird es schwierig, dass etwas durchbricht. Man versucht, in das Informationsumfeld und die Debatte einzudringen, und findet eine Abstraktionsschicht nach der anderen über dem ursprünglichen Konfliktpunkt. Man redet darüber, was die Leute über die Sache sagen, anstatt über die Sache zu reden. Wir legen Schichten von Kommentaren über das Ereignis selbst, und das Ereignis verblasst.“

Leben in der Vergangenheit

Zusammengefasst sind das die sieben Punkte, die er in seinem Essay „We Are Not Living in a Simulation, We Are Living In the Past“ macht:

  • Im Internet leben wir immer in der Vergangenheit. Es gibt online keine Gegenwart, sondern nur die Wiederherstellung und Erinnerung an Ereignisse der Vergangenheit.
  • Im Internet sind alle Handlungen Eintragungen. Wir erstellen ständig digitale Versionen von Ereignissen, um dokumentierte Reservoirs zu schaffen, die für Menschen und Maschinen lesbar sind.
  • Im Internet gibt es keine Gegenwart, sondern nur unterschiedlich organisierte Fragmente der Vergangenheit. Wir verbringen Zeit und Mühe damit, uns damit zu beschäftigen, die Vergangenheit immer wieder neu zu interpretieren, neu zu ordnen, neu zu kombinieren und neu zu arrangieren.
  • Im Internet ist es viel einfacher, über das zu streiten, was geschehen ist, als sich vorzustellen, was geschehen könnte. Wir streiten über die Vergangenheit, und weil unsere Kämpfe online dokumentiert sind, streiten wir schnell über den Streit – und der eigentliche Kern verschwindet aus dem Blick. Irgendwann lässt sich die Ursache kaum noch erkennen, und nichts ändert sich.
  • Im Internet bauen wir nicht an der Zukunft, sondern füttern nur die digitalen Archive der Vergangenheit – wie digitale Brotkrümel, bei denen wir auf die Spuren schauen, die wir hinterlassen haben, anstatt nach vorne zu blicken.
  • Da wir im Internet in der Vergangenheit leben, wird die Zukunft nicht gelebt, sondern programmiert. Wenn wir Zeit damit verbringen, unsere Vergangenheit zu dokumentieren und zu digitalisieren, werden diese Datenpunkte aufgesammelt, aggregiert und bilden die Struktur, die zukünftige Handlungen diktiert.
  • Im Internet ist die Vergangenheit ein schwarzes Loch, das die Zukunft in sich aufsaugt. Unsere Fähigkeit, in der Gegenwart zu leben und uns die Zukunft vorzustellen, nimmt ab, da Aufmerksamkeit, Energie und Kreativität verschlungen werden.

Luhmann und die Zeitlichkeiten von Massenmedien

Diesen Vorschlag, das Internet als eine Zeit wahrzunehmen, finde ich reich, wenn auch komplex und abstrakt, aber er bietet uns die Möglichkeit, über die Zeitlichkeiten von Massenmedien nachzudenken. In seinem Buch „Die Realität der Massenmedien“ (1996) hat der Systemtheoretiker Niklas Luhmann folgende Beobachtung über das zeitliche Verhältniss zwischen Ereignis und Abbildung des Ereignisses beschrieben, nur natürlich ohne Wissen über die Wirkungsweisen von Social Media:

„Es muß mit allen Mitteln einer eigens dafür ausgebildeten journalistischen Schreibweise der Eindruck erweckt werden, als ob das gerade Vergangene noch Gegenwart sei, noch interessiere, noch informiere. Dafür genügt die Andeutung einer Kontinuität, die vom letzten bekannten Stand der Dinge ausgeht und über die Gegenwart hinaus bis in die unmittelbar bevorstehende Zukunft reicht, so daß zugleich verständlich wird, wieso man an der Information interessiert sein kann. Ereignisse müssen als Ereignisse dramatisiert – und in der Zeit aufgehoben werden. In einer Zeit, die auf diese Weise schneller zu fließen beginnt. Die gesellschaftsweite Beobachtung der Ereignisse ereignet sich nun nahezu gleichzeitig mit den Ereignisse selbst.“

Bei seinen Betrachtung darüber, wie mit der Zeitlichkeit eines Ereignisses umgegangen wird und wie journalistisch wiederum eine eigene Zeitlichkeit hergestellt wird, stellt er jedoch schon damals, in der frühen Phase des Internets für den privaten und journalistischen Gebrauch, fest, dass aus Nachrichten in elektronischen Medien Berichte gemacht werden, um Vergangenem neuen Neuigkeitswert geben zu können.

„Seit gut zehn Jahren kann man eine Verflüssigung der Differenz von Nachrichten und Berichten beobachten. Sie besteht darin, daß publizierte Nachrichten elektronisch gespeichert und für erneuten Abruf verfügbar gehalten werden. Das geschieht inzwischen in riesigen Umfange, so daß bei Bedarf ehemalige Nachrichten in Berichte transformiert werden können. Das System produziert dann erneut Informationen aus Informationen, indem es Berichtskontexte erzeugt, in denen längst abgelegte, vergessene Neuigkeiten wieder Informationswert gewinnen.“

Die berichterstatterische Abbildung schafft durch ihre Art bereits eine eigene Zeitlogik, um eine Nachricht zu vermitteln; es ist, wie in den Himmel zu blicken und das strahlende Licht eines Stern zu sehen, der längst nicht mehr existiert. Ein ähnliche Situation hatten wir in der Berichterstattung rund um die Nordstream 1 und die bange Frage, ob am Stichtag Gas durchkommen wird. Da die Pipeline 1224 Kilometer lang ist und das Gas mit etwa 28 Kilometern pro Stunde fließt, war das Ereignis, ob am Donnerstagmorgen die Gaslieferung wieder anläuft, schon 43 Stunden zuvor, also am Dienstagnachmittag, erfolgt – aber konnte erst am Donnerstag zur Nachricht werden.

Im steten Strom soeben passierter Vorkommnisse

Luhmann geht es hier natürlich nicht um Gefühle oder Subjekte oder die Gefühle der Subjekte, also auch nicht um Stuckness, sondern um das Beschreiben von Kommunikation in den Massenmedien und wie diese Informationen selektieren, sodass Nachrichten und Berichte entstehen.

Aber in unserer digitalen Mediennutzung kommen die nachrichtliche Zeitlogik in der Art, wie Ereignisse abgebildet werden, und die digital empfundene Zeitlichkeit von gerade Geschehenem zusammen. Das Spezifische am Internet als unbegrenztes, hypertextuelles, alles gleichzeitig sichtbarmachendes Hyperarchiv ist, dass wir uns gewissermaßen den ganzen Tag mit der permanent aktualisierten jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen, mit Hochfrequentereignissen von „gerade eben“, in einem steten Strom soeben passierter Vorkommnisse. Die Art, wie wir diese verarbeiten, durch ein tägliches, mehrstündiges Schauen auf das, was gerade soeben passiert war, könnte unsere Art verändert haben, über aktuell Geschehenes oder Eintretendes zu denken.

Im Geiste der These von Sacasas gibt es also keine wirkliche Gegenwärtigkeit – zwar eine vermittelte Unmittelbarkeit und Augenblicklichkeit, aber unser Reagieren kann immer nur nach hinten gerichtet sein. Diese Verhinderung führt zu einer Ohnmacht darüber, das gerade Gewesene nie ändern zu können, sich aber permanent mit dieser Frustration auseinandersetzen zu müssen.

Warzel erklärt:

„Das ständige Aufnehmen und Kommentieren von Dingen, die gerade erst passiert sind, klingt für mich wie ein Rezept, um sich machtlos zu fühlen. Im Internet habe ich häufig das Gefühl, in der Vergangenheit festzustecken und gleichzeitig eine düstere Projektion der Zukunft vor Augen zu haben. Die Gegenwart, aus der wir unsere Handlungsmöglichkeiten ableiten, wird kaum beachtet.“

Und Sacasas ergänzt in einem Gespräch mit Warzel, wie dieser in seinem Text beschreibt:

„Dieses Gefühl der Hilflosigkeit rührt daher, dass unsere gesamte Handlungsfähigkeit durch diese Medien kanalisiert wird […] Wir haben diese schwerwiegenden Ereignisse wie den Klimawandel oder die Waffenkontrolle, und wenn wir sie nur durch die Linse des Geschehens oder durch die Abstraktion dessen, was die Leute sagen, betrachten, verlieren wir unsere Handlungsfähigkeit, und alles fühlt sich so sinnlos an.“

Gegen das Gefühl der eigenen Belanglosigkeit

Das bedeutet nicht, dass wir in digital geführten Diskursen nicht auch antizipieren und modellieren oder in Online-Interaktionen nicht auch Erwartungen haben. Beispielsweise verbreiten wir ja Inhalte auch in der Hoffnung, dass andere Menschen darauf reagieren. Und auch Ängste, Sorgen oder aber auch Visionen und Utopien, die wir in Debatten verhandeln, erfolgen auf Grundlage einer Projektion dessen, was im schlimmsten oder besten Fall eintreten könnte. Eine Politik der Angst nutzt diesen medialen Hebel ganz hervorragend – beispielsweise wenn die Grundlage unserer Debatten die Unberechenbarkeit russischer Despoten oder das provokante Pöbeln populistischer Regierender ist. Unsere Energie wird dann umgelenkt in eine Art therapeutischen Bewältigungskonjunktiv angedrohter Szenarien.

Das permanente Debattieren, das Permutieren gleicher Argumente, der Drang, den Worten, die bereits existieren und die schon längst auserzählt wurden, doch noch einen weiteren, vermeintlich neuen Gedanken hinzuzufügen – endlich die eine Replik, die alle anderen Stimmen und Argumente wie einen gordischen Knoten zerschlägt – erscheinen wie Strategien, das Gefühl der eigenen Belanglosigkeit durch eine Erfahrung der Selbstwirksamkeit zu bekämpfen. Man beteiligt sich am Liken, Teilen und Kommentieren und kann letztlich doch kaum etwas – oder gar nichts – beeinflussen. Die klassische illusion of control.

Sacasas erklärt, dass dies auch die Influencer-Kultur begünstige, da die ökonomisch davon profitiere, immer weitere Kommentarschleifen zu aktivieren. Es begünstigt natürlich auch eine Troll-Politik, wie Donald Trump sie virtuos beherrscht. Algorithmisch wird das stete Metakommentieren, also das Kommentieren des Kommentierens, belohnt und das rückbezügliche Kanalisieren der Aufmerksamkeit auf die eigene, endgültige Einordnung honoriert.

Mehr Aufmerksamkeit für die Zukunft!

Systemtheoretiker Luhmann stellte fest,

„daß politische Themen im strukturellen Rahmen des politischen Systems nicht beliebig erzeugt und entwickelt werden können, sondern eine Art Lebensgeschichte haben, die, wie das Leben selbst, verschiedene Wege gehen und vorzeitig abgebrochen werden kann, gleichwohl aber nach typischen Phasen geordnet ist. In den einzelnen Phasen der Karriere eines Themas stehen jeweils bestimmte Möglichkeiten offen, sind bestimmte Probleme zu lösen, bestimmte Teilnahmevoraussetzungen zu erfüllen, und daraus ergeben sich strukturelle Handlungschancen für diejenigen, die das Thema bewegen, es fördern, bremsen, blockieren oder auf bestimmte Bahnen leiten möchten.“

Behält man die These von Sacasas im Hinterkopf, könnte man feststellen: Die redundanten Interaktionsphasen mit den künstlich verlängerten Berichten verstärken diesen Loop der diskursiven Selbstumkreisung jeden Nachrichtenzyklus aufs Neue mit repetitiven Takes, auch weil Plattformen, Politiker:innen und Multiplikatoren davon leben, uns in den Schleifen zu halten. Wir können ja mittlerweile sogar selbstironisch vorhersagen, wer sich auf welche Weise zu etwas äußern wird und wie ein Debattenzyklus höchstwahrscheinlich vonstatten gehen wird – und dennoch gibt es kein Entkommen – wir sind stuck, wie die Hosts aus der Serie „Westworld“ oder die Protagonisten der Miniserie „DEVS“.

Die am Ende von Sacasas und Warzel gestellten Fragen halte ich für höchst relevant, nicht nur für unsere Diskurse, sondern auch für die Lösung der großen Problem, die einen produktiven, kreativen oder innovativen Blick in die Zukunft notwendig machen, wie bei der Bewältigung der Klimakrise:

„Wie können wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Gegenwart und Zukunft lenken, wenn wir einen so großen Teil unseres Lebens damit verbringen, uns mit Meldungen aus der jüngsten Vergangenheit zu beschäftigen?“

13 Kommentare

  1. „Mehr Informationen finden Sie unter tagesschau.de“ – es sind immer ältere Texte.
    Und gleichzeitig findet eine Vorhersage statt, um 12 Uhr wird die Arbeitslosenquote veröffentlicht. Die Zahlen lauten…
    Zeit ist tatsächlich fluider geworden, das ist für eine unmittelbare zwischenmenschliche Interaktion hinderlich. Wie immer sehr gut beobachtet und dargestellt. Danke dafür.

  2. Intuitiv hätte ich gesagt, dass das I-Net mehr Diskussionen überhaupt ermöglicht, die man früher nur in Form von Leserbriefen oder dergleichen hätte führen können.

    Aber bei längeren drüber Nachdenken – warum sollte ich auf ein Argument hören, das ich schon drölfzigmal gehört oder gelesen habe? Bzw., warum sollten andere das tun?
    Im I-Net erreicht man halt schneller der Punkt, an dem sich alle ihre Meinung gebildet haben.

  3. Aber wie war es denn früher? Haben sich die Leute da machtvoller gefühlt? Auch da konnte man ja nur über die Vergangenheit diskutieren.

    Irgendwie würde ich den Filterclash für vieles heute verantwortlich machen – natürlich ohne Belege. Früher wusste man einfach nicht, wie andere Bubbles denken und argumentieren. Jetzt wird man dauernd damit konfrontiert und das stresst.

  4. Spannender Essay, wie immer, vielen Dank. Ich finde die dargestellte Argumentation sehr eingängig, frage mich aber, wieso diese permanente Vergangenheit und Archivierung mindestens gefühlt mit einer kompletten Geschichtsvergessenheit einhergeht. Auf der Website meiner SZ lese ich heute „Linders Steuerpläne nützen vor allem Besserverdienern“ (was sie schon immer getan haben) oder „Auch die beiden größten Projekte der Bahn, der unterirdische Bahnhof Stuttgart 21 […] erweisen sich zunehmend als Desaster“, obwohl sich das nicht gerade erst erweist, sondern von den Kritikern des Projektes seit 2010 genau so vorhergesagt wird – um nur zwei zufällige Beispiele zu nennen. Dieser Vergangenheitsbezug ohne jeden Kontext, bei gleichzeitigem Verharren in der Gegenwart – ist das Stuckness?

  5. @Marvin:
    Ich glaube, früher war das auch nicht „besser“; man hatte eine von zwei Tageszeitungen, und zwar die, die der eigenen politischen Position eher entsprach, und diskutierte eher mit Gleichgesinnten.

  6. @Mycroft: Ich glaube schon, dass der Filterclash heute mehr stresst. Die eine Tageszeitung hätte mich wohl kaum geärgert. Wie hätte ich denn 1985 täglich an die Meinung des Welt-Chefredakteurs kommen können, ohne seine Zeitung zu lesen? Heute ist sie nur einen Retweet entfernt.

    Ob man nun im Gestern über Vorgestern diskutiert, war doch damals und heute eher egal.

  7. Ok, von der reinen Stressigkeit ist es heute schlimmer.
    Aber das heißt ja trotzdem nicht, dass man früher mehr oder schnelleren Fortschritt bei Diskussionen hatte. Man hat es bloß weniger gemerkt.

  8. Was wir am Essay Sacasas‘ nicht gefällt, ist die sehr unpräzise Verwendung des Wort „Internets“.
    Er scheint definitiv nicht das Internet zu meinen, sondern das „World Wide Web“ (WWW), also alles, was per Browser ansteuerbar ist.
    Selbst im WWW gibt es aber Teilbereiche, auf die seine Vergangenheisdeutung nicht zutrifft, z.B. in Online-Browserspielen oder Anwendungen wie z.B. bei scratch.mit.edu

  9. #10:
    Ich denke auch, dass die Beschreibung da Schwächen hat, wo dem Autoren schlicht das Erkennen der Komplexität dieses „Internets“ nicht gelingen will.
    Das Beispiel „Gegenöffentlichkeit“, beim G20 in HH oder im arabischen Frühling, ebenso wie während der Pandemie bei den großen Schwurbelaufmärschen, ist, ganz wertfrei, sicher nicht dadurch belastet, dass „Reagieren […] immer nur nach hinten gerichtet sein (kann)“.
    Sich unmittelbar, spontan und niedrigschwellig organisieren zu können, ist ja gerade ein Merkmal der neuen Medien und daß so viele sie anders benutzen liegt vielleicht gar nicht an ihnen selber. Wird da der Bote gestraft?
    Es will mir auch nicht ganz einleuchten, inwiefern die anderen Medien nicht ebenso leicht eine Zementierung des Vergangenen sein können.

  10. Ich würde auch dazu tendieren, dass Diskussion über Vergangenes, Austausch derselben Argumente, also „Stuckness“, nicht etwa erst mit dem Netz/Social Media aufgekommen sind bzw. nicht erst durch das Netz möglich wurde. Wir haben ähnliches doch in den 1970ern und 1980ern schon erlebt in Schüler- bzw. Studentenversammlungen, bei der Formulierung von Artikeln in der regionalen/lokalen Alternativzeitung etc. pp. , bei Leserbriefdiskussionen in der Lokalpresse.
    Aber: Das Netz und die ständige Verfügbarkeit von Diskussionsmöglichkeiten, Diskussionsaufforderungen, geradezu Diskussionsverpflichtungen („DEN Tweet kann man doch nicht unwidersprochen stehen lassen, auf DIE Antwort muss ich doch eine Replik schreiben“) macht die Sache natürlich quantitativ (Wieviel Lebenszeit verbringe ich im Netz mit solchen am ende „sinnlosen“ Diskussionen?) derart umfassender, dass es ins qualitative umschlägt. Man kann dann nur noch entweder mitmachen (zeitaufwändig ohne echte Auswirkungen der Diskussionsteilnahme) oder es sein lassen (Selbstausschluss, ebenfalls ohne Auswirkungen der Nichtteilnahme). Man ist also „stuck“ zwischen weitgehend ergebnisfreien Alternativen. Und insofern hat der Bericht auch den Grund für beginnende Frustration auf den Punkt gebracht. Die Explosion der Meinungsäußerungsfreiheit auf allen Ebenen bringt zugleich eine faktische Meinungsbefreitheit der Ergebnisse mit sich. Der Diskurs bleibt insgesamt in wirkunsgloser Beleibigkeit stecken. Wir treten im Treibsand mit den Füßen um die Wette, um nicht unterzugehen, gehen dann aber gerade deshalb unter …

  11. „Das Spezifische am Internet als unbegrenztes, hypertextuelles, alles gleichzeitig sichtbarmachendes Hyperarchiv ist, dass wir uns gewissermaßen den ganzen Tag mit der permanent aktualisierten jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen, mit Hochfrequentereignissen von „gerade eben“, in einem steten Strom soeben passierter Vorkommnisse. Die Art, wie wir diese verarbeiten, durch ein tägliches, mehrstündiges Schauen auf das, was gerade soeben passiert war, könnte unsere Art verändert haben, über aktuell Geschehenes oder Eintretendes zu denken.“
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    Ein poetisch sicherlich wertvoller Text, aber inhaltlich lässt er die entscheidende Komponente vollständig außen vor. Der Punkt ist nicht, dass alles ständig wiederholt (egal in welcher Zeit), sondern dass das Gehirn nur eine bestimmte Menge an Informationen parat halten kann und die Leserschaft nur begrenzte Zeit zur Verfügung hat.
    So ist es ein Vollzeitjob sich über die verschiedenen Argumente zur Bewertung eines beliebigen Sachstandes auf dem laufenden zu halten, da die wenigsten Artikel an einer kontextorientierten Berichterstattung interessiert sind.
    Das spiegelt sich eben ganz genau so in den Social-Media-Kommentarspalten wieder. Auf 500 Bullshit-Kommentare die eher mehr als weniger das gleiche aussagen kommt ein relevanter Kommentar.
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    Was fehlt ist eine Übersicht der Informationen und Argumente (von mir aus auch Meinungen). Aber genau das ist m.M.n. die eine Sache, die Journalismus wertvoll machen würde.
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    #4 Christian gab bereits ein schönes Minimalbeispiel für Kontextorierung.
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    „frage mich aber, wieso diese permanente Vergangenheit und Archivierung mindestens gefühlt mit einer kompletten Geschichtsvergessenheit einhergeht. Auf der Website meiner SZ lese ich heute „Linders Steuerpläne nützen vor allem Besserverdienern“ (was sie schon immer getan haben) oder „Auch die beiden größten Projekte der Bahn, der unterirdische Bahnhof Stuttgart 21 […] erweisen sich zunehmend als Desaster“, obwohl sich das nicht gerade erst erweist, sondern von den Kritikern des Projektes seit 2010 genau so vorhergesagt wird – um nur zwei zufällige Beispiele zu nennen. Dieser Vergangenheitsbezug ohne jeden Kontext, bei gleichzeitigem Verharren in der Gegenwart – ist das Stuckness?“
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    #12 Henning Müller
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    „Die Explosion der Meinungsäußerungsfreiheit auf allen Ebenen bringt zugleich eine faktische Meinungsbefreitheit der Ergebnisse mit sich. Der Diskurs bleibt insgesamt in wirkunsgloser Beleibigkeit stecken. Wir treten im Treibsand mit den Füßen um die Wette, um nicht unterzugehen, gehen dann aber gerade deshalb unter …“

    Auch hier würde eine Sortierung der Argumente helfen. Am Ende ist die eigene Meinungsäußerung ein „like“ für die dargestellte Meinung. Wenn die eigene Meinung noch nicht dargestellt wurde, ergänzt man sie eben. Die Frage ist für mich, ob die Diskutanten das denn überhaupt wollen. In einer sortierten Meinungsdarstellung wird es schwieriger sein EGO/seine Reichweite mit markigen Kommentaren zu optimieren.

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