Wochenschau (123)

Offener Brief an den offenen Brief

Brieftaube bringt einer Frau einen Liebesbrief, Sehnsucht, um 1910, Deutschland, Europa *** Carrier pigeon brings a woman a love letter, Sehnsucht, around 1910, Germany, Europe Copyright: imageBROKER/our-planet.berlin iblhek04897457.jpg
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Lieber offener Brief,

ich frage mich, wie zeitgemäß du noch bist. Ohne dich herabwürdigen zu wollen in deiner historischen Relevanz und Wirkung, aber: Was ist dein politischer Wert in einer Medienwirklichkeit, in der sich jeder jederzeit mitteilen kann? Und anders gefragt: Gibt es überhaupt noch eine Notwendigkeit, dich in etablierten Medien zu veröffentlichen?

Versteh’ mich bitte nicht falsch. In der Geschichte der publizistischen Formen nimmst du eine ganz besondere Rolle der Meinungsäußerung ein. Eine deiner vielleicht bekanntesten Ausführungen haben wir in der Schule lange und eingehend studiert: den 1889 von von Émile Zola verfassten offenen Brief „J’accuse“ an den französischen Präsidenten Félix Faure. Zola schrieb ihn in seiner eigenen Zeitung „L’Aurore“ zur Verteidigung des zu unrecht verurteilten Alfred Dreyfus, prangerte dort die Ungerechtigkeit an, wurde dafür selbst verurteilt (und musste ins Exil nach London fliehen). Dreyfus aber bekam einen zweiten Prozess und wurde rehabilitiert, das ist auch dein Verdienst.

Damals hast Du, lieber offener Brief, bewiesen, ein wirkmächtiges Bewusstsein für den Missstand, den du anprangerst, zu schaffen. Du hast dafür gesorgt, dass ein Unrecht, das einem Mann angetan wurde, nicht hingenommen wurde.

[Korrektur: An dieser Stelle war in einer vorherigen Version des Textes auch von einem Brief Mahatma Gandhis an Adolf Hitler die Rede. Dieser war jedoch direkt adressiert und wurde erst im Nachhinein öffentlich.]

Ein anderes Mal hast Du den Lauf der Geschichte verändert, ohne überhaupt als offener Brief gedacht gewesen zu sein. Im Birmingham Prison Letter aus dem Jahr 1963 antwortet Martin Luther King auf eine Erklärung von acht weißen Geistlichen aus Alabama, die seine Methoden im Kampf gegen die Rassentrennung kritisierten. King erklärt darin, dass es eine moralische Verantwortung gibt sich gegen ungerechte Gesetze zu wehren und greift auf theologische, politische und historische Argumente zurück, um diesen zivilen Ungehorsam zu rechtfertigen. Der Brief sollte zwar nicht in der Presse veröffentlicht werden, wurde jedoch (ohne Kings Einverständnis) im New York Post Sunday Magazine und später auch in anderen Zeitungen abgedruckt.

Was macht dich überhaupt aus?

Deine Form setzte sich als gesellschaftspolitisches Instrument durch. Du bist eine epistolare Protestform, verschriftlichtes Klagen, kondensierter Appell, der den Geist einer Demokratie nicht besser repräsentieren könnte, denn du hast es oft geschafft, mithilfe einer freien Presse als Bühne und renommierten Unterzeichnenden als Multiplikatoren eine öffentliche Verbindung herzustellen, zwischen einem Anliegen und den Regierenden.

Du warst der Outcall, lange bevor es das Internet gab. Als ein Hybrid zwischen Individual- und Massenkommunikation, bist du heutzutage vielleicht sogar das Kampagneninstrument schlechthin einer digitalisierten Gesellschaft.

Das Besondere an dir ist, dass deine Briefform, die normalerweise für die private Korrespondenz gedacht ist – ein Sender, ein Empfänger – und zugleich den Charakter des Rechtsverbindlichen und Administrativen hat, in ihrer Offenheit eine neue Medienwirkung entfalten kann. Eine publik gemachte private Meinung bekommt die Gravitas des Förmlichen, eine Verlautbarung mit Appellcharakter, die nicht so leicht ignoriert werden konnte. Statt eine Anzeige zu schalten, kann man seinen Standpunkt, sofern die richtigen Menschen ihren Namen – offenbar hat sich in deiner jüngeren Vergangenheit das Unterzeichnen mehrerer Sender etabliert – drunter setzen, kostenlos in einem Medium darlegen.

Nun schreiben dank der sozialen Medien Menschen, Prominente und Privatpersonen, täglich Briefe an die Öffentlichkeit. Tweets, textbasierte Insta-Kachel, Facebookpostings, etliche digitale offene Briefe mit Gedanken, Kritik und Wünschen an die Welt. Wirkst du deswegen nicht nur anachronistisch, sondern in Anbetracht der komplexen, globalen Probleme, die du zumeist adressiert, in deiner Form nicht auch ein wenig hilflos?

Es ist, als solle das Gewicht der Namen und die Ernsthaftigkeit des Mediums, in dem du auftauchst, kompensieren, dass du oftmals aus der Verzweiflung eines Ohnmachtgefühls heraus verfasst wirst. Die sichtbare Geballtheit der Unterstützenden scheint eine formalistische Weiterentwicklung des offenen Briefs zu sein, vielleicht auch um sich durchzusetzen in einem Medienumfeld, in welcher jede und jeder theoretisch einen offenen Brief verfassen kann.

Vertraute Namen

So haben Ende Februar mehr als tausend Schriftsteller:innen in einem offenen Brief den Krieg in der Ukraine verurteilt.

Can Dündar, Orhan Pamuk, Olga Tokarczuk, Gert Scobel und Margaret Atwood haben die Erklärung des Autorenverbands PEN International, die „ein Ende des Blutvergießens“ fordert, unterschrieben. Aber bleibt dies nicht nur eine kommunikative Geste, ein internationales Signal für diejenigen, die dankbar wahrnehmen, dass Autor:innen als Gewissen der Gesellschaft funktionieren und agieren? Oder gibt es doch eine Notwendigkeit, große Namen öffentlich hinter einem Aufruf zu versammeln? Welche Bedeutung hat das? PEN-Präsident Deniz Yücel sagt dazu in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“:

Das heißt zum Beispiel, dass Sie jetzt wegen dieses offenen Briefes dieses Interview führen. Also interessiert das Ihre Redaktion und hoffentlich Ihre Leser. Genau in solchen Dingen zeigt sich Reichweite, von internationalen Schriftsteller von Rang.

Vertraute Namen, die dich unterschreiben, sind ein Grund, warum wir uns so intensiv mit dir auseinandersetzen: Sie dienen uns als Selbstversicherung, ob man in existenziellen Fragen mit den Renommierten seine Position teilt, ob man mit den Verbrämten unterschiedlicher Meinung ist – oder entgegen der eigenen Erwartung anderer Meinung als eine verehrte Autorin, der Lieblingsschauspieler, die geachtete Professorin ist.

Ein Beispiel: Als Intellektuelle befürchteten, dass „der freie Austausch von Informationen und Ideen (…) täglich mehr eingeschränkt wird“, veröffentlichten sie im Juli 2020 im „Harper’s Magazine“ einen Brief mit Namen „A Letter on Justice and Open Debate“ und man staunte, welche Wortführenden und Kulturschaffenden da offenbar den Eindruck hatten, nicht frei genug das Wort führen und Kultur schaffen zu können.

Ein anderes Beispiel: Der Brief, der am 9. Januar 2018 in der französischen Zeitung „Le Monde“ erschien und von einem Kollektiv von 100 Frauen verfasst wurde, darunter berühmte Schauspielerinnen und Schriftstellerinnen wie Catherine Millet, Ingrid Caven und Catherine Deneuve. Der Text trägt den Titel „Nous défendons une liberté d’importuner, indispensable à la liberté sexuelle“: „Wir verteidigen die Freiheit zu stören, die für die sexuelle Freiheit unerlässlich ist“. Der offene Brief ist der Versuch eines Kontrapunktes zu der öffentlich Auseinandersetzung um #Metoo und zugleich ein Rehabilitationsversuch der Unbeholfenheit beim Flirten.

Offener Brief auf offener Brief

Und kürzlich schrieben in der „Emma“ 28 Menschen des öffentlichen Lebens, Kunstschaffende und Denkende, um den Bundeskanzler aufzufordern, keine weiteren schweren Waffen an die Ukraine zu liefern.

Das zeigt: Wenn es darum geht, eine behauptete Einhelligkeit in Bezug auf politische Entscheidungen aufzubrechen, wenn es um den Diskurs um des Diskurses Willen geht, das Sprechen über das Sprechenkönnen, dann warst du in dieser jüngsten Form stets erfolgreich, selbst heute in einer saturierten Aufmerksamkeitsökonomie. Fast eine Woche später wirst du noch besprochen, analysiert, widerlegt, als seiest du eine politische Ansprache historischer Tragweite, denn natürlich lädst du in deiner Form bei “Emma” zu Kritik ein – insbesondere wenn du das Überleben eines Landes auf Grundlage spekulativer oder nicht zutreffender Prämissen verhandelst und eine Form von militärstrategischen Utilitarismus verteidigst, der bei allen handlungsethischen und politischen Berechnungen vergisst, Entscheidendes mit einzupreisen: die Kosten, die die Ukraine in diesen Szenarien gezwungen wird zu zahlen.

Du stehst im Mittelpunkt, die Medienöffentlichkeit arbeitet sich an dir ab. Deine Unterzeichnenden kritisieren dann wiederum diese Kritik. Offenbar fühlen sie sich intentional missverstanden – was natürlich (wiederum: wiederum) Fragen zu deiner inhaltlichen Konsistenz und rhetorischen Qualität aufwirft.

Und so wird immer mehr über dich gesprochen: Alice Schwarzer erklärte eine Stunde lange bei „Bild“-TV und (in weniger Zeit) beim Deutschlandfunk, außerdem im „Morgenmagazin“, wie du gemeint gewesen seist; Lars Eidinger erklärte auf drei Insta-Kacheln, was er persönlich ausgedrückt haben wollte, als er dich im Kollektiv unterzeichnete; Dieter Nuhr schrieb ein drei Normseiten langes Facebookposting darüber, was er nicht gemeint hat, als er dich unterschrieb; Harald Welzer erklärte im NDR-Hörfunk und bei Bayern 2, was deine eigentliche Intention gewesen sei, nämlich die Debatte revitalisieren und der Diskussion-Verengung etwas entgegen zu setzen; und Juli Zeh erklärt, du wurdest geschrieben, um zu äußerster Vorsicht zu mahnen.

Heute erschien bei der „Zeit“ nun eine Antwort darauf, in der andere Menschen des öffentlichen Lebens, Kunstschaffende und Denkende, den Bundeskanzler aufzufordern, eben doch schwere Waffen an die Ukraine zu liefern.

Kanalisierte Aufmerksamkeit

Eines kann man dir nicht vorwerfen: mit deinem Anliegen nicht auf allen Kanälen besprochen worden zu sein.

Damit hast du deinen Zweck vielleicht erfüllt. Oder eben gerade auch nicht. Denn wir diskutieren zwar über dich, deine Forderungen und Warnungen und ich schreibe dir sogar einen Brief über deine eigene Form. Du hast die Aufmerksamkeit auf dein Anliegen kanalisiert, eine Diskussion über kriegsethische Diskussionen erneut in Gang gebracht – gleichwohl das Papier, auf dem du dich argumentativ bewegst, dünn ist. Denn wir wischen im Verstehenwollen der „Emma“-Positionen die Ukraine und ihre geraubte Souveränität weg, wir sprechen über Pazifismusdefinitionen im Wandel der Zeit, aber nicht über das jetzige Sterben und Fliehen, über Massaker und Vergewaltigungen. Stattdessen sprechen wir über die eurozentristische Angst vor einer möglichen Eskalation, aber nicht über eine ukrainische Angst vor einer angekündigten Auslöschung.

Und was ist eigentlich mit dem Adressaten? Tatsächlich hast du eine Reaktion von Olaf Scholz erwirkt, herzlichen Glückwunsch. Das ist mehr Antwort als bei den meisten anderen offenen Briefen.

„Ich respektiere jeden Pazifismus und jede Haltung“, antwortete Scholz auf deinen Inhalt brüllend bei einer Mai-Kundgebung in Düsseldorf (und nochmal etwas leiser auf Twitter).

Aber es muss den Bürgerinnen und Bürgern der Ukraine zynisch vorkommen, wenn ihnen gesagt wird, man solle sich gegen die Putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen.

Vielleicht meinte er damit nicht nur deinen Inhalt bei „Emma“, sondern auch ein bisschen dich ganz allgemein, lieber offener Brief. Ich glaube auch: Wir schenken dir einfach zu viel Aufmerksamkeit.

Mit postalisch-pamphletischen Grüßen,

deine Samira

Wer den offenen Brief von Samira El Ouassil ebenfalls unterzeichnen möchte…

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Bisherige Unterstützer*innen

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Jens Martens
Sven Kirschenbauer, Fotograf

15 Kommentare

  1. Ich unterzeichne grundsätzlich keine Offenen Briefe.*

    Herzlich
    Philipp Greifenstein, Redakteur „Die Eule“

    * Bin auch erstaunt, wie viele Journalist:innen einen der Offenen Briefe zum Ukraine-Krieg ausgezeichnet haben. Aber das ist nochmal ein anderes Medien-Thema.

  2. Das _Konzept_ eines offenen Briefes ist doch ok. Ich bin nicht gegen Offene Briefe als Gattung, nur weil mir einige inhaltlich nicht zusagen.

    In dem Fall ist das Problem aber der unaufrichtige Egoismus: wer ehrlichen Herzens der Ansicht wäre, es sei für _die Ukraine_ besser zu kapitulieren, der würde das doch Selenskyj sagen und nicht Scholz.
    Und Putin würde vllt. erstmal das Gas abstellen, bevor er mit Atombomben wirft.
    Und „wir“ sind nicht einmal annähernd so weit, die Ukraine militärisch zu unterstützen, insofern muss man davor noch lange nicht warnen.
    Deren Argumente ärgern mich mehr als die Sache selbst.

    Aber ja, aus Protest gegen offene Briefe unterschreibe ich keine offenen Briefe. Brezelschluss.

  3. Das Porto für einen Offenen Brief innerhalb Deutschlands (bis max. 50g Relevanz) sollte drastisch erhöht werden damit dem inflationären Gebrauch ein wenig ein Riegel vorgeschoben wird 🦊

  4. Offene Briefe mutieren ja auch gern zu Petitionen. Statt sich auf ganz wenige Unterzeichner zu beschränken, die ihn tatsächlich formuliert haben, werden diese Leute zu (einem Teil der) „Erstunterzeichner(n)“, quasi Lockvögeln, gern mit klingenden Namen, Titeln, Prominenz, denen dann viele folgen sollen. Die Anzahl der vielen gibt dann Gewicht statt der Argumente darin.

  5. @3: /wooosh ;)

    Dass die Emma / Alice Schwarzer die Debatte instrumentalisiert um sich Relevanz einzuhauchen, geschenkt. Deshalb muss der Inhalt aber auch nicht komplett falsch sein.
    Ich kann die Frau absolut nicht leiden, aber dass sie den selbsternannten Neo-Waffenexperten Hofreiter mal ganz offen angreift war mehr als erfrischend.
    Ich wünschte, es wäre eine andere Person gewesen, die das initiiert; eine bei der nicht sofort Bildzeitungsgeschmäckle aufkommt.

    Dieser Beitrag, der m. E. viel zu wenig öffentlich diskutiert wurde hier bringt es für mich auf den Punkt:
    https://www.spiegel.de/kultur/waffenlieferungen-in-die-ukraine-wir-werden-unweigerlich-schuldig-debattenbeitrag-von-hartmut-rosa-a-219590d3-012e-4c52-9c18-c69c5ce904b1

    Bisher konnte mir noch keiner kohärent erklären, wie schwere Waffen zum schnelleren Frieden beitragen. Gerade Anton Hofreiter drückt sich momentan um exakt diese Frage. Alle Sätze beginnen mit „wir müssen“ und „wenn wir nicht liefern, dann doof“.
    Was ist da die Prämisse, so generell? Krieg schnell beenden? Somit zivile Opfer vermeiden? Den Krieg gewinnen? Russland einen Denkzettel verpassen? Geostrategische Planung für nach dem Krieg? Bündnispartner warmhalten? Endlich überkompensierend der militärischen Verantwortung nachkommen, die man 20 Jahre lang ignoriert hat? Steuergeld durch Rüstungsindustrie?
    An der Stelle muss man in jedem Forum klar stellen: Ich bin kein Puntintroll, selbstverständlich ist das ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg und Putin-Russland ist der alleinige Aggressor. Aber dennoch müssen einem hier dann nicht die Sicherungen durchbrennen.

    Ich bin höchst verwirrt und habe auch keine Antworten. Die Verkürzung „DE liefert schwere Waffen –> Schnelles Kriegsende“ halte ich für unbegründet.
    Im Gegenteil macht es m. E. eher Sinn „DE liefert schwere Waffen –> Krieg dauert umso länger“. Und je länger der Krieg dauert, desto mehr Zivilisten werden sterben.
    Es muss uns nicht schmecken und mir tut so eine Aussage auch bis ins Mark weh, aber ja, wer zivile Ofer vermeiden will, der muss kapitulieren. Und leider ist daraus die Schlussfolgerung: Es scheint nicht darum zu gehen, zivile Opfer zu vermeiden.
    Wir alle wünschen uns, handlungsfähig zu sein, oder zumindest so auszusehen. Der massive Kontrollverlust, den der Krieg offensichtlich gemacht hat kratzt an unserem Ego. Wir sind ohnmächtig und wollen uns nun mit der Lieferung von Waffen einreden, wieder handlungsfähig, Partner und zuverlässig zu sein.
    Dabei fehlt halt leider die Hauptbegründung: Was soll mit der Lieferung schwerer Waffen erreicht werden?

    Wie der Spiegel Kommentar in Anlehnung an Max Weber schon sagt: Egal was wir tun, wir machen uns ohnehin schuldig.

    Und uns allen würde es mal gut tun, nicht so zu tun, als würden wissen, was wir da gerade tun.

  6. Die eine Überlegung pro Waffenlieferungen ist, dass der Krieg zwar länger dauert als nach einer Kapitulation, aber endet, weil die „Kosten-Nutzen“-Relation für Russland nicht mehr stimmt. Und falls man _dieses_ Ende will, dann wird es umso schneller erreicht, je besser die Ukraine aufgestellt ist. Die andere ist, dass man grundsätzlich keine Eroberungskriege „belohnen“ will. Und die dritte wäre, dass die Ukraine offenbar nicht kapitulieren will, was einem natürlich egal sein kann oder auch nicht. (Es ist sicher legitim zu sagen, man wolle lieber ein lebendiger Russe als ein toter Ukrainer werden, aber ich maße mir nicht an, anderen dahingehend Vorschriften zu machen.)

    Gegen Waffenlieferung spricht (wenn man Putin nicht recht gibt), dass man sich mit Kriegen nicht gemein machen will, oder, dass man ehrlicherweise keine Chance sieht, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann, oder, dass man der Ansicht ist, politische und wirtschaftliche Hebel wären noch nicht ausgereizt.

  7. Nun, die offenen Briefe beleben die Debatte. Sie entlarven mitunter auch intellektuelle Faulheit – wenn nicht gar Unredlichkeit – von Menschen, die sich als intellektuell und damit reflektiert wahrnehmen (und irgendwie dabei auch sich selbst erhöhen). Das hat schon seinen Nutzen, dies erleben / wahrnehmen zu können.

    Was für beide Seiten, Pro schwere Waffen & Contra schwere Waffen gilt: keiner kann in die Zukunft sehen und sagen, was besser wäre, beide Seiten spekulieren über zukünftige Resultate über die es aber gar keine Sicherheit gibt. Beide Seiten stehen – wir alle letztlich – vor einer Black Box. Statt auf diese Ungewissheit mit dem Umherwerfen von pseudo-Gewissheiten und kategorischen Imperativen Pro Waffen oder Contra Waffen zu reagieren, wäre mE eine demütige, die Komplexität und eigene Begrenztheit der Voraussicht anerkennende behutsam, klug argumentierende, sich selbst und die eigene Sichtweisen hinterfragende Herangehensweise angemessener, weil sie der Realität der Begrenztheit menschlichen Erfassens einfach am nächsten und damit am wenigsten spekulativ ist, oder?

  8. Zustimmung zu #10
    Die scheinbaren Gewissheiten der beiden Seiten sind leider nicht viel wert.
    Und leider steckt bei einigen Vertreter*innen beider Lager auch ein gehöriges Mass an Egoismus und/oder machtpolitischen Interessen hinter den moralischen Argumenten. Aber das ist natürlich eine Unterstellung.

  9. @10+11
    Klar, keine Seite kann in die Zukunft schauen.
    Aber die eine seite kann sich anschauen, was die bisherige Politik der Vergangenheit gebracht hat.
    Man hat die Ukraine nach der Krim-Annexion nicht unterstützt, man ist auf Putin zugegangen, wollte die Ukraine sogar außen vor lassen, in dem man zum Beispiel Nordstream 2 gepusht hat.
    Und dennoch hat es Putin nicht vom Angriff abgehalten.
    Man hat in der Vergangenheit auch gesehen, was Putins Truppen machen, wenn sie die Oberhand haben, siehe Butcha.
    Und man hat auch lesen können, wie die russische Elite die Ukraine sieht: als etwas, was keinen wert für die Zukunft hat.

    In sofern, Sorry, die eine Seite mit dem ersten offenen Brief, die scheint mir völlig neben der Spur zu sein.
    Und die andere Seite, die mit Waffen unterstützen will, die sagt ja nicht, dass man nicht verhandeln soll.
    Die merkte an den Erfahrungen der Vergangenheit halt nur, dass ernsthafte Verhandlungen offenbar nur dann möglich sind, wenn Putin nicht denkt, er kann eh machen, was er will.

  10. „ Too much of nothing“ Bob Dylan.
    Gilt leider auch für diesen zu langen Brief🥴

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