Fußnoten (32)

Warum wir mehr über die Kegelbrüder auf Mallorca wissen als über den Klinikstreik in NRW

Demonstrationsplakat in Form einer Spritze mit der Aufschrift NOTRUF
Mitarbeiter von Unikliniken demonstrieren am 26. Juni 2022 in Düsseldorf. Foto: Imago / Dominik Bund

In Nordrhein-Westfalen streikt seit fast elf Wochen das Personal an sechs Uni-Kliniken. Falls Sie nicht in NRW wohnen, könnte Sie das jetzt überrascht haben, denn es ist nicht viel davon zu hören. Es wird nicht verschwiegen, man findet Berichte dazu, aber es ist nicht die Art Nachricht, die einen erreicht, ohne dass man sucht. Die Streikenden können einem Leid tun, auf vielen Ebenen, vor allem wegen der schlechten Arbeitsbedingungen, die überhaupt erst zu dem Arbeitskampf geführt haben.

Der Streik hat nicht nur durch seine Länge inzwischen historische Ausmaße, sondern auch wegen der Ziele der Teilnehmer: Die Pfleger*innen fordern einen „Entlastungs-Tarifvertrag“, also im Wesentlichen eine Regelung, wie viel Personal für die Betreuung der Patienten notwendig ist. Sie wollen nicht mehr Geld, sondern ihre Arbeit machen können – was im Sinne aller potenziellen Patienten sein sollte. Und trotzdem kommen sie mit ihrer Botschaft medial nicht wirklich durch. Ich würde gerne einmal gucken, warum eigentlich nicht.

Die Geschichte vom Klinikstreik hat eigentlich alles, was es braucht: Sie ist aktuell, sie ist relevant, sie ist breit1)Zur Sicherheit: „breit“ in der Sprache von Redaktionen ist eine Geschichte, wenn sie viele Menschen im Publikum betrifft (hier jeden mit einer Gesundheit), nicht weil sie viele Aspekte abdeckt. Ich nehme an, das war eh klar. und sie ist emotional. Schlechte Arbeitsbedingungen gehen jeden an, Gesundheit sowieso und die Betroffenen leiden tatsächlich sehr.

Man könnte abziehen, dass Streiks im Gesundheitswesen – anders als zum Beispiel bei der Bahn – nie komplett durchgezogen werden, weil zu unser aller Glück die Streikenden natürlich keine Notfälle abweisen und die Pflege Bedürftiger nicht einstellen. Ein ziemlich großer Teil des bestreikten Betriebs funktioniert also trotzdem. Zu berichten gäbe es dennoch genug. Es gibt dort schließlich einen Konflikt, der uns alle angeht. Die Krise in der Pflege beschränkt sich nicht auf NRW.

„Stramm am Tisch“

Kurzer Zwischen-Check: Kennen Sie den Namen des Kegelvereins, dessen Mitglieder auf Mallorca in Untersuchungshaft saßen, weil man ihnen vorwarf, besoffen eine Bar abgefackelt zu haben? Der Club heißt „Stramm am Tisch“, aber ich habe den Verdacht, Sie wussten das. Die Geschichte der Kegelbrüder war, angetrieben von „Bild“, eine Medien-Lieblingsgeschichte der letzten Wochen. Ich kann das nicht empirisch belegen, aber ich bin mir sicher, mehr Menschen in Deutschland können Details des Abenteuers der „Stramm am Tisch“-Kegler nacherzählen als Details des NRW-Streiks.

Der Grund ist einfach: Die Geschichte ist besser. Das klingt erstmal falsch, aber ich meine das nur im Sinne des klassischen Dramas: Wir können mit einzelnen Menschen mitfühlen, aber nicht mit der Menschheit. Je konkreter etwas ist, umso klarer ist die Assoziation, die es auslöst, und umso mehr fühlen wir mit. Es braucht immer einen Menschen,2) Als Begründer des Dramas im Alten Griechenland gilt Thespis, der dem bis dahin bei Aufführungen allein wirkenden Chor einen einzelnen Schauspieler gegenüberstellte, den Protagonisten. oder wenigstens ein paar wenige,3) Das Theater weiter entwickelt haben Aischylos, der den zweiten Schauspieler hinzu erfand, und später Sophocles, der – wait for it! – einen dritten einführte. Seine Lebenszeit, ziemlich genau das 5. Jahrhundert v. Chr., gilt als die Hochzeit der griechischen Tragödie. deren konkretes Schicksal wir kennen.4) Auslöser für den so genannten Arabischen Frühling war der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich nach ewigen Schikanen durch die Behörden selbst anzündete und an den Verletzungen starb. Das hat nichts mit seriöser oder unseriöser Berichterstattung zu tun: Die Berichte über Liza Dmytriyeva, die vierjährige Ukrainerin, die beim Spaziergang mit ihrer Mutter von einer russischen Rakete getötet wurde, bewegt uns mehr als die abstrakte Zahl von Millionen Flüchtenden. Liza Dmytriyeva schob einen Kinderwagen. Sie hatte das Down-Syndrom. Sie hatte ein Gesicht. Sie ist konkret.

Ein Streik produziert in der Regel weniger solche konkreten Geschichten. Dieser hier allerdings schon, perfiderweise aber auf der anderen Seite: In der „Rheinischen Post“ lief die Geschichte des Zweijährigen Emil, dessen Krebsbehandlung wegen Personalmangels immer wieder verschoben werden musste, wofür auch Ärzt*innen der Klinik die Streikenden verantwortlich machten. Das ist einigermaßen verheddert in einem Streik gegen Personalmangel – aber es zeigt, wer die bessere PR macht.

Denn natürlich kann man durch effektive PR-Arbeit die Erzählung ändern, aber es ist ein bisschen zynisch, das von überarbeiteten Krankenpfleger*innen zu fordern. Die Frage ist ja gerade: Warum dringt eine gesellschaftlich wichtige Nachricht nicht von alleine durch? Und dabei schwingt mit: Wären Journalisten nicht eigentlich in der Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sie durchdringt?

Währung Aufmerksamkeit

Die Antwort ist verworrener, als man denken sollte: Journalisten stellen im ersten Schritt keine Öffentlichkeit her, sondern ein journalistisches Produkt. Ich glaube, die Differenzierung ist wichtig, auch wenn sie weh tut. Journalismus ist seinem Wesen nach kaum als Ware geeignet. Es ist die Ausnahme, wenn Journalismus direkt von Kund*innen bezahlt wird.5) Eine der Ausnahmen ist Übermedien, das ausschließlich durch Übonnent*innen finanziert wird. Die Währung, nach der normalerweise abgerechnet wird, ist die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen – Medienhäuser verkaufen sie weiter an Werbetreibende. Das macht zum einen die Suche nach der „besten Geschichte“ noch drängender, aber vor allem auch die Abgrenzung des eigenen Produktes zu denen der Konkurrenz.

Die Entscheidung, vor der eine (Chef-)Redakteur*in ständig steht, ist dreistufig: Welche Geschichten sind relevant, haben also Nachrichtenwert? Welche davon die „besten“?6)Die Kriterien unterscheiden sich in Abstufungen je nach Medium, sie können zum Beispiel umfassen, wo etwas passiert ist (der regionale Bezug), wie prominent die Beteiligten sind oder ähnliches. Und in welcher journalistischen Form sollen sie aufbereitet werden? Aber gleichzeitig stellt sich die Frage in Bezug auf die eigene Marke: Welche Geschichten ergeben in ihrer Mischung das stimmigste Produkt? Und plötzlich ändert sich die gesamte Gleichung.

„No German will freeze in Greece“

Zur Anschauung: In den letzten Tagen hat eine Meldung die Runde durch weite Teilen der Medien gemacht, dass der griechische Tourismus-Minister deutsche Rentner einlädt, in Griechenland zu überwintern, um den gestiegenen Heizkosten zu entgehen. Die Geschichte ist nicht im klassischen Sinne eine Nachricht: Sie wirkt, als hätte sie der Minister im Gespräch mit der „Bild“ ausprobiert, oder es hatte sie gar jemand in der Redaktion selbst. Auf Nachfrage sagten der Minister und nach ihm auch zum Beispiel der Bürgermeister der kretischen Stadt Chania, natürlich seien die deutschen Gäste willkommen, und „no German will freeze in Greece“.

Die Redaktion produzierte mit vier Reportern Texte, Bilder und Videos auf Kreta, unter anderem unter der Überschrift „Das COSTA ja fast gar nix“ phonetisch halb konsequent aufgeschriebene Übersetzungen für Fragen wie: „Ist das nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut?“ Man muss das nicht lustig finden, aber es ist eine Idee. Angesichts der drohenden Kälte in deutschen Wohnzimmern ist die Geschichte aktuell, relevant, breit und emotional. Man kann jetzt streiten, ob sie überhaupt eine Nachricht wert ist, aber ich würde behaupten: In ihrem Kern steckt die Gaskrise, natürlich hat das Nachrichtenwert. Nur ist dieser Nachrichtenwert eben selbst geschaffen. Es ist in Wahrheit Markenbildung.

Die „Nachricht“ wurde reihenweise in Online-Medien und TV-Sendungen aufgegriffen, sie hat sich durchgesetzt. Beim „Spiegel“ machten sie gleich eine Fotostrecke mit den besten Reisezielen dazu. Selbst der britische „Guardian“ berichtete. Nicht, weil die Nachricht irgendwie wichtiger ist als andere, sondern weil sie als bunte, eher fröhliche und leichte Meldung eben auch von allen anderen dazu benutzt werden kann, aus der Seite oder Sendung des Tages ein stimmiges Produkt zu machen.7)Und sie produziert weiter Nachrichten, denn wessen Idee es auch immer war, sie hat ein Eigenleben entwickelt: Das Ministerium arbeitet jetzt fieberhaft daran, das „Angebot“ mit buchbaren Angeboten zu unterfüttern. Wenn man mit Krieg, Inflation und Waldbränden in die Nachrichten eingestiegen ist, dann tut es ganz gut, hinten raus ein paar traumhafte Inseln zu zeigen anstatt Tag 74 eines Klinikstreiks.

Es tut einigermaßen weh, zu dem Schluss zu kommen, dass Streikende mehr bunte Einfälle haben müssen, um medial durchzukommen mit ihren objektiv wichtigen Anliegen. Andererseits muss das selbst eine ukrainische Regierung, die den Krieg um die öffentliche Meinung mindestens so klug führt wie den auf dem Schlachtfeld. Sich Medien anders zu wünschen, als sie sind, ist ungefähr so sinnvoll, wie sich Menschen anders zu wünschen: Man kann nicht anders, und man sollte nie damit aufhören, aber man muss damit leben können, dass es höchstens in Nuancen passiert. Anders als das Bier auf Kreta 8)Soweit ich es kenne, da ist Craft Beer auch a thing, und wer weiß schon immer genau, was die da reintun. werden Nachrichten nicht nur nach dem Reinheitsgebot gebraut.

Fußnoten

Fußnoten
1 Zur Sicherheit: „breit“ in der Sprache von Redaktionen ist eine Geschichte, wenn sie viele Menschen im Publikum betrifft (hier jeden mit einer Gesundheit), nicht weil sie viele Aspekte abdeckt. Ich nehme an, das war eh klar.
2 Als Begründer des Dramas im Alten Griechenland gilt Thespis, der dem bis dahin bei Aufführungen allein wirkenden Chor einen einzelnen Schauspieler gegenüberstellte, den Protagonisten.
3 Das Theater weiter entwickelt haben Aischylos, der den zweiten Schauspieler hinzu erfand, und später Sophocles, der – wait for it! – einen dritten einführte. Seine Lebenszeit, ziemlich genau das 5. Jahrhundert v. Chr., gilt als die Hochzeit der griechischen Tragödie.
4 Auslöser für den so genannten Arabischen Frühling war der tunesische Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich nach ewigen Schikanen durch die Behörden selbst anzündete und an den Verletzungen starb.
5 Eine der Ausnahmen ist Übermedien, das ausschließlich durch Übonnent*innen finanziert wird.
6 Die Kriterien unterscheiden sich in Abstufungen je nach Medium, sie können zum Beispiel umfassen, wo etwas passiert ist (der regionale Bezug), wie prominent die Beteiligten sind oder ähnliches.
7 Und sie produziert weiter Nachrichten, denn wessen Idee es auch immer war, sie hat ein Eigenleben entwickelt: Das Ministerium arbeitet jetzt fieberhaft daran, das „Angebot“ mit buchbaren Angeboten zu unterfüttern.
8 Soweit ich es kenne, da ist Craft Beer auch a thing, und wer weiß schon immer genau, was die da reintun.

6 Kommentare

  1. Von der Sache mit dem Kegelverein auf Mallorca habe ich ehrlich gesagt bis zu diesem Text überhaupt nichts mitbekommen.

  2. War das der Kegelverein, der angeblich oder tatsächlich dieses Vordach angezündet hat?
    Dann ja.

    Klinikstreik war aber zum Beispiel auch nicht so prominent wie Warteschlangen an Flughäfen. Um nach Mallorca zu fliegen. Wo es diese Vordächer gibt. Prioritäten.

  3. Ich habe von beidem mitbekommen, zum einen, weil die Mallorca-Sache ja eigentlich wirklich durch alle Medien ging, man sie also kaum übersehen konnte, wenn man breiten Medienkonsum hat.

    Zum anderen hab ich auch vom Streik mitbekommen, weil ich letztes Jahr mit meinen KollegInnen das gleiche Problem beim im Grunde gleichen Streik um Entlastung in der Pflege auf den Berliner Straßen hatte.
    Da haben wir dann letztlich ein für uns annehmbares Ergebnis erstreiken können, allerdings sorgt Vivantes dafür, dass die Umsetzung erst jetzt so langsam anrollen soll, während es in der Charité alles wesentlich schneller ging.

    Ich schreibe das hauptsächlich, um auch noch mal auf den Berliner Streik aufmerksam zu machen, dessen Ergebnisverschleppung seitens Vivantes gerne auch etwas Publiker werden darf und auch, um den KollegInnen in NRW auch hier meine Solidarität auszudrücken.
    Danke @Übermedien, dass ihr drüber berichtet.

  4. In der Tat: vom Klinik-Streik habe ich nichts mitbekommen, vom Kneipenbrand in Mallorca schon und vom Streik der Hafenarbeiter.
    Peinlich, peinlich eigentlich, habe ich während der Corona-Pandemie das Thema lebhaft verfolgt.

  5. Und kaum berichtet Übermedien ist der Streik auch schon rum (Scherz). Das Ergebnis liest sich im Spiegel ganz erfreulich: „Zentrale Punkte der Einigung seien ein besserer Personalschlüssel insbesondere in patientennahen Berufsgruppen, eine schichtgenaue Belastungsmessung durch freie Tage oder finanziellen Ausgleich und Entlastungstage bei Unterschreiten der neuen Personalschlüssel.“

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