Die Autorin
Annika Joeres ist Klima-Reporterin bei der gemeinnützigen Investigativredaktion correctiv.org und berichtet für die „Zeit“ aus Frankreich über Leben und Politik.
Die Geschichte hätte kaum ein größerer Scoop sein können: Zwei Abgeordnete der linksgrünen NUPES, Raquel Garrido und Alexis Corbière, wortstarke Verteidiger von höherem Mindestlohn und gleichen Rechten für Eingewanderte, beschäftigten angeblich eine Schwarzarbeiterin bei sich zuhause, berichtete „Le Point“.
Noch gravierender: Das Ehepaar habe die algerische Frau ohne gültige Papiere wie eine Sklavin behandelt. In einer Kurznachricht etwa sei ihre Bitte um Lohn mit einem „später“ beschieden worden, denn „Monsieur“ habe gerade keine Zeit, die Frau solle sich gedulden und auch an diesem Abend auf die Kinder aufpassen. Falls sie sich beschweren wolle, gebe es genug andere, um sie zu ersetzen.
Die Nachricht von dem linken Sklaventreiber-Paar mitten in Paris landete in wenigen Minuten auf den meisten Onlineseiten französischer Medien, stets bebildert mit den Abgeordneten und angereichert mit Zitaten aus dem Programm der linken NUPES-Koalition, die etwa faire Arbeitsbedingungen für alle Flüchtlinge einfordert.
Die exklusive Geschichte von „Le Point“, rechts-konservativ orientiertes und zugleich meist gelesenes Nachrichtenmagazin Frankreichs, schlug ein. Das Problem: An dem Artikel stimmte nahezu nichts. „Alles ist falsch“, schrieben schließlich auch Garrido und Corbière in einer eilig verfassten Pressemitteilung, aber wer sollte ihnen schon glauben?
Ma réponse à l’article mensonger du Point : Tout est faux ! pic.twitter.com/3smf2yVCwC
— Alexis Corbière (@alexiscorbiere) June 22, 2022
Frankreichs Medien gaben sich in diesen Tagen ohnehin einer Art Rote-Socken-Kampagne hin: Die NUPES, diese neu geschmiedete Koalition aus Linken, Grünen, Sozialisten und Kommunisten, war gerade zur größten Oppositionspartei von Emmanuel Macrons Regierung geworden, und ihr Programm inklusive Vermögenssteuer, höherem Mindestlohn und Atomausstieg verursachte offenbar in vielen Redaktionen Angstzustände. Editorialisten brandmarkten die NUPES als Gefahr für die Demokratie, sie wurde schließlich sogar auf Titelseiten mit der Rechtsextremen Marine Le Pen gleichgestellt. Mit der Frau also, die Diskriminierung amtlich machen will, indem Franzosen und Französinnen bei Wohnungen und Jobs automatisch den Zuschlag vor Zugewanderten erhalten würden. In dieser Anti-Links-Stimmung wurde dem Artikel viel ungeprüftes Echo zuteil.
Es dauerte schließlich keine 24 Stunden, bis „Le Point“ die Schmähschrift (hier archiviert) zurücknehmen musste. Denn tatsächlich war alles falsch – Garrido und Corbière haben keine Angestellte im Haus, die herbeiphantasierte Einwanderin war schlicht inexistent. Stattdessen kümmere sich von Zeit zu Zeit die Großmutter um die drei Kinder des Paares, die auch nicht, wie im Artikel behauptet, täglich nach Paris gebracht würden, um dort „bessere Schulen“ zu besuchen. Die beiden Älteren studieren längst, und die jüngste geht am Wohnort nördlich der Hauptstadt auf eine öffentliche Schule.
Wie konnte eine so faktenfreie Geschichte publiziert werden – noch dazu, ohne dass die Angegriffenen die Gelegenheit hatten, Stellung zu nehmen?
„Die Redaktion wurde doppelt eingenebelt“, sagte ihr Chefredakteur Etienne Gernelle schließlich in einem Radiointerview.
Der Autor habe die Redaktion getäuscht und sei wohl seinerseits von seinen Quellen getäuscht worden. Neun Personen würden nun untersuchen, wie es zum Abdruck des Artikels habe kommen können. „Wir erkennen unseren Fehler an und recherchieren nun bei uns selbst“, so Gernelle.
Inzwischen liegen der Pariser Staatsanwalt zwei Anzeigen vor – eine der geschädigten Garrido, die auf „Identitätsmissbrauch“ und „Fälschung und Verwendung einer Fälschung“ klagt. Schließlich verließ sich der Autor des Artikels, Aziz Zemouri, bei seiner Recherche auf einen angeblichen SMS-Austausch zwischen der (erfundenen) Papierlosen und der Abgeordneten Garrido – nur, dass die Screenshots, die „Le Point“ als Beleg zeigte, offenbar von einem Fake-Account stammten: Jemand hatte ein Foto von Garrido als Statusbild eines Accounts genutzt.
Verschiedenen Medien fielen die Manipulationen schon direkt nach der Publikation auf: Die Investigativredaktion „Mediapart“ etwa widerlegte mit geringem Rechercheaufwand, dass die Familie noch ein Appartement in Paris bewohne. Ebenso erkannte sie ein Foto wieder, das die angebliche Hilfskraft als Beweis aus dem Wohnzimmer der Familie heraus geschossen haben soll. Das Foto war aber eine fünf Jahre alte Aufnahme einer Agentur, das in der damaligen Pariser Bleibe Corbières und Garridos geschossen wurde. Es handelte sich also nicht um eine aktuell produzierte Aufnahme, wie behauptet. Auch die SMS selbst hätte der Redaktion verdächtig vorkommen können – Garrido verfügt normalerweise über kein Profilbild.
Wer den Account tatsächlich erstellt hat, könnte nun spannend werden – und die journalistische Affäre zu einer politischen werden lassen: Autor Zemouri behauptet, er sei reingelegt worden und lässt nun, und dies ist die zweite Anzeige in dem Fall, seinerseits die Staatsanwaltschaft gegen zwei Männer ermitteln, die sein „Vertrauen missbraucht hätten“: Der Abgeordnete Jean-Christoph Lagarde und der Polizeibeamte Noam Anouar. Letzterer räumte ein, der „Vermittler“ zwischen der angeblichen „Sklavin“ und dem Journalisten gewesen zu sein, und behauptet – allerdings ohne Beweis – „Rechtsextreme“ hätten die gesamte Affäre geplant.
Der „Le Point“ wiederum gibt an, dass Anouar als Sicherheitsexperte im Rathaus von Drancy arbeite, im Wahlkreis also von Garrido und, genau, dem zweiten Verbindungsmann Lagarde. Der ist Vorsitzender der rechten Splitterpartei UDI, die inzwischen unter der Flagge von Präsident Emmanuel Macrons Partei Renaissance kandidiert. Er war somit Garridos direkter Konkurrent bei den Präsidentschaftswahlen Anfang Juni – die Juristin zog an seiner Stelle in die Nationalversammlung ein.
Welche Rolle Lagarde bei dieser Affäre tatsächlich gespielt hat, ist bislang nicht bekannt, zumindest nicht öffentlich. Dass er eine Rolle spielte, hat er selbst kundgetan, allerdings unfreiwillig: Lagarde wollte offenbar eine Direktnachricht an den „Le Point“-Chefredakteur Gernelle schreiben, setzte stattdessen aber einen öffentlich lesbaren Tweet ab.
Oups. Visiblement, Jean-Christophe Lagarde s’est trompé entre les „tweets“ et les DM. pic.twitter.com/KPPjAlVrCP
— Florian Guadalupe (@FlorianGua) June 23, 2022
In dem stand, er wisse auch nicht, „wie verlässlich die Informationen sind“, die er erhalte und ob man nicht „später darüber sprechen könnte?“ Der Tweet ist inzwischen gelöscht, aber Lagarde hat gegenüber dem „Nouvel Observateur“ eingeräumt, dass er einen „Bedienungsfehler“ auf Twitter begangen habe. Er sei aber lediglich über das Erscheinen eines Skandalartikels informiert worden, nicht aber über seinen Inhalt.
Die Redaktion wiederum hat auf die Fragen von Übermedien nach den Gründen für mangelnde Verifikation nicht geantwortet, ebenso wenig wie der Autor Zemouri erreicht werden konnte – seine offizielle Redaktionsmail führte ins Nichts, der Autor ist freigestellt.
Französische Journalistengewerkschaften kritisieren den Umgang des Magazins mit dem falschen Artikel – denn bislang macht sein Chefredakteur Gernelle vornehmlich seinen Redakteur für den grob falschen Text verantwortlich, stellt aber die offenbar fahrlässige Überprüfung eines politisch explosiven Artikels nicht in Frage. „Es ist zu einfach, das alles auf eine Person abzuschieben,“ sagt Manuela Bermudez von der Journalistengewerkschaft CFDT und zugleich Mitglied im CDJM, dem deutschen Presserat vergleichbar. Bermudez sagt auf Anfrage von Übermedien, „Le Point“ müsse sich fragen, warum man so blind gegenüber einer erfundenen Geschichte gewesen sei.
Vielleicht spielt auch seine stets polemische Zuspitzung eine Rolle. Denn bekannt ist das Magazin für seine rechts-konservativen Aufmacher. Einst titelte es über Frankreichs größte Gewerkschaft CGT: „Wie die CGT unser Land ruiniert“. Und eine weitere Titelstory war überschrieben mit „Das Frankreich der Drückeberger“. Darin ging es um Arbeitslose und die lange erkämpfte 35-Stunden-Woche.
Häufig spielte das Magazin auch der rechtsextremen Marine Le Pen in die Hände. „Was man nicht zu sagen wagt – die Einwanderung von Roma und Sozialhilfe“, war einer dieser Steigbügel für die Herausforderin von Präsident Emmanuel Macron. Just in jenem Heft kam auch eine Frau zu Wort, die angeblich unter ihrem – islamischen – und polygamen Mann leidet. Allerdings war auch diese Frau frei erfunden, eine Komikerin hatte die Redaktion mit ihrem Anruf reingelegt. Die Geschichte schaffte es offensichtlich ungeprüft ins Blatt.
Auch die Story über einen Linksradikalen, der sich angeblich mit Granaten für die Klimakonferenz 2015 in Paris eindeckte, war falsch – der Aktivist führte Attrappen für eine Kunstaktion bei sich, deckte die „Libération“ schließlich auf. Dennoch ist der Artikel immer noch online – ebenso wie ein stark geklickter Bericht über einen Pornofilm, der angeblich im Rathaus von Asnières gedreht worden sein soll. Die expliziten Bilder stammten allerdings von anderen Orten. Die Redaktion wurde hierfür zweimal verurteilt – der Chefredakteur beschwerte sich vor Gericht lediglich darüber, dass der „Humor“ in diesem Artikel nicht erkannt worden sei.
Corbière und Garrido fordern nun Sanktionen für das Magazin. Die „Ehre des Journalistenberufs“ sei bedroht. Der „Le Point“ schweigt bislang über die Resultate seiner nach eigenen Angaben neun-köpfigen Einsatztruppe zur Aufklärung des Falls.
Annika Joeres ist Klima-Reporterin bei der gemeinnützigen Investigativredaktion correctiv.org und berichtet für die „Zeit“ aus Frankreich über Leben und Politik.
Ein kleiner Korrekturhinweis: Anfang Juni hat nicht die französische Präsidentschaftswahl stattgefunden, sondern die Wahl zur Nationalversammlung.
Danke für solche Artikel!
Gibt es etwas neues von „Le Point“? Man hofft wahrscheinlich, dass sich das totläuft.