Netflix-Doku „Gladbeck“

„Ja, aber du guckst auch!“ Warum Volker Heise uns nochmal alle zu Gaffern eines Geiseldramas macht

Geiselnahme von Gladbeck - 18. August 1988: 10.53 Uhr Der Fluchtwagen der beiden Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski und ihrer Geiseln Silke Bischoff und Ines Voitle sowie Rösners Freundin Marion Löblich steht in der Kölner Fußgängerzone Breite Straße, umringt von einem Pulk Schaulustiger und Journalisten. Die Täter geben vor laufenden Kameras Interviews - Köln wird zum Schauplatz der wohl berüchtigsten Pressekonferenz der deutschen Kriminalgeschichte. Der Express-Reporter Udo Röbel steigt später sogar in den Fluchtwagen, um den Geiselnehmern den Weg bis zur Autobahn zu zeigen. Als die Limousine sich um 12.31 Uhr wieder in Bewegung setzt, drängen Presseautos die Verfolgungsfahrzeuge der Polizei ab.
18. August 1988: Der Fluchtwagen der Geiselnehmer steht in der Kölner Fußgängerzone, umringt von einem Pulk Schaulustiger und Journalisten.Foto: IMAGO / United Archives

Beim sogenannten Geiseldrama von Gladbeck im Jahr 1988 starben drei Menschen: die 18 und 14 Jahre alten Geiseln Silke Bischoff und Emanuele de Giorgi, erschossen von ihren Entführern, sowie der Polizist Ingo Hagen bei einem Verkehrsunfall. Nach einem Banküberfall waren die Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski und Rösners Freundin Marion Löblich durch West- und Norddeutschland sowie die Niederlande geflüchtet. Insgesamt dauerte die Geiselnahme 54 Stunden.

Ständig begleitet wurden die Täter und ihre Opfer von Schaulustigen und Journalisten, die Grenzen überschritten. Der Fotograf Peter Meyer nahm zeitweise die Rolle eines Vermittlers ein; der „Express“-Reporter (und spätere „Bild“-Chefredakteur) Udo Röbel setzte sich mit in ein Fluchtfahrzeug und lotste die Geiselnehmer aus der Kölner Innenstadt; der sterbende de Giorgi wurde gefilmt und die Aufnahmen im Fernsehen gezeigt. Über das Geiseldrama und seine Umstände wurde danach viel diskutiert; es ist zum gängigen Negativbeispiel in der Journalismus-Ausbildung geworden.

Die Netflix-Dokumentation „Gladbeck: Das Geiseldrama“ verzichtet auf Einordnungen, Interviews mit Zeitzeugen und neu gedrehtes Material. Regisseur Volker Heise (Film Five) montiert ausschließlich Bilder und Töne von damals. Aus den verschiedensten Fragmenten entsteht so eine außergewöhnliche 90-minütige Erzählung, die den Zuschauer in die Rolle eines Schaulustigen im Jahr 1988 versetzt.


Übermedien: Das Geiseldrama von Gladbeck wurde vielfach medial aufgearbeitet, unter anderem in einem Zweiteiler der ARD im Jahr 2018 zum 30. Jahrestag. Warum jetzt nochmal ein Film darüber?

Volker Heise: Gladbeck beschäftigt mich, seit Gladbeck passiert ist, immer wieder. Bei Gladbeck hat sich die mediale Wirklichkeit verändert. Es gab bis dahin nur die öffentlich-rechtlichen Sender, sowohl im Hörfunk als auch im Fernsehen. Plötzlich kamen die Privaten dazu, und es ging es nicht mehr nur im Entertainment-, sondern auch im Informationsbereich um Quote, um Zuschauer. Ein ganz anderer Wettbewerb war auf einmal im Gang.

Deshalb hat mich das immer interessiert: Was passiert, was kann passieren, wenn sich eine mediale Umgebung verändert? Ich hatte – und habe – das Gefühl, dass wir wieder in einer Situation sind, in der sich eine mediale Umgebung stark verändert. Und ich dachte, vielleicht gucken wir mal zurück und schauen uns das noch mal genauer an. Ich glaube, dass jede Generation Gladbeck neu lesen wird. Das ist ein Punkt in der Mediengeschichte, an den wir immer wieder zurückkehren werden; ein Ereignis, das man alle fünf oder zehn Jahre noch mal neu erzählen wird, es neu in Erinnerung ruft.

Der Film arbeitet, von ein paar Texttafeln zu Beginn und am Ende abgesehen, ausschließlich mit Archiv-Material, in Ton und Bild. Obwohl Sie auf Einordnungen, Experten, einen Sprechertext verzichten, wird die Gladbeck-Erzählung, die vorher aus vielen Fragmenten bestand, plötzlich zu einer ausgeweiteten, stringenten, in Teilen ganz neuen Geschichte.

Das war unsere Absicht: nicht nur die bekannten Bilder zu zeigen, sondern auch, in welchem Kontext sie entstanden sind. Was ist passiert zwischen den Verbrechern, der Polizei, den Journalisten, den Medienhäusern und den Zuschauern? In diesem Fünfeck entstand ein Sog, aus dem keiner so richtig rausgekommen ist in diesen drei Tagen, bis die Situation am Ende gewaltsam gelöst wurde. Die Entstehung der Bilder, wie sie reproduziert werden, wie sie wieder reproduziert werden, wie sie Einfluss haben auf das, was dann passiert, das hat uns wahnsinnig interessiert – wir haben da jedes Fitzelchen gesucht.

Zum Beispiel wenn der Geiselnehmer Rösner im Bus hin und her läuft wie ein Tiger im Käfig, der beobachtet wird von allen Seiten, Polizei, Medien, Zuschauern, Passanten. Dann kommt er raus und hat zuerst Kontakt mit dem Fotografen Peter Meyer. Und dann rufen ihn die Journalisten zu sich. Ich glaube, das hat so noch keiner gezeigt, dass das aktives Handeln der Journalisten war. Die wollten mit Rösner reden. Als Hans Meiser von RTL bei Rösner anrief, haben wohl alle gesagt: Diesem Scoop müssen wir jetzt hinterher ziehen. Wir müssen mindestens das Gleiche bringen, wenn nicht besser. Daraus ist ein Wettbewerb entstanden.

Warum haben Sie sich – wie schon bei „Berlin 1945“ – gegen eine Einordnung des Originalmaterials durch Off-Kommentare oder Zeitzeugen und Experten entschieden? Sie haben mal gesagt, die Aussagekraft von Zeitzeugenberichten nimmt mit zunehmender Distanz zum Ereignis ab. Aber bei „Gladbeck“ hätte man ja auch Material aus den ein, zwei Jahren danach nutzen können, etwa aus Talkshows, die das Verhalten von Medien und Behörden verhandelt haben.

Wir haben bei „Gladbeck“ zunächst offengelassen, ob wir vielleicht doch Interviews machen, ob wir vielleicht Ausschnitte aus Talkshows nehmen, etwa aus den Jahren 1988 bis 1990. Aber wir haben all das weggenommen, weil für Janine Dauterich im Schnitt, für Yan Schoenefeld als Produzent und mich klar wurde: Wir müssen die Geschichte so rein wie möglich erzählen mit dem Material, das da ist. Jeder spätere O-Ton hätte irgendetwas entschuldigt oder die Deutung in die ein oder andere Richtung geschoben. Ich fand es viel besser, wenn man die Zuschauer sich das angucken lässt: Dann sollen die urteilen. Ich wollte keine Interpretation vorgeben.

In einem SZ-Artikel von Tobias Kniebe heißt es über die Zuschauer ihres Films: „Sobald man sich auf die Sache einlässt, hängt man moralisch mit drin. Man ist nicht besser als die Kölner Gaffer, die das Gaffen vor laufender Kamera verdammen und dann völlig ungerührt weiterschauen.“ War das Absicht?

Als wir mit diesem Stoff angefangen haben, war die erste Frage: Wie gehen wir damit um? Sagen wir im Off: „Das sind ja schlimme Bilder, die hätten nie gemacht werden können. Aber gucken Sie sich die mal an!“ Das wäre Quatsch, das wäre verlogen. Wir haben gesagt: Okay, wir zeigen die Bilder und auch, wie sie gemacht worden sind, in welchem Kontext sie entstanden sind. Und wenn man bis fünf zählen kann, kommt man als Zuschauer zu dem Punkt, dass man erkennt: Ich hänge genauso drin wie die Gaffer, die im Film zu sehen sind. Und ich als Filmemacher genauso wie die Zuschauer.

Die Szenen mit den Schaulustigen in Köln stehen ja an einer entscheidenden Stelle im Film. 

Das war der Punkt, an den ich den Film treiben wollte. Das kommt kurz vor dem Finale, wenn man klassischerweise eine Reflexionsebene hat. Wenn einer der Schaulustigen sagt: „Ich stehe hier, ist ein tolles Ding. Ich gucke zu, aber ich sollte nicht zugucken.“ – dann sagt das fast alles über diesen Film. Klar soll diese Geschichte spannend sein und vorwärts gehen. Aber gleichzeitig schiebe ich eine Bombe unter die Couch.

Der Film zeigt das distanzlose Verhalten der Journalisten, andererseits reproduziert er deren Bilder. Ist das nicht problematisch?

Na ja, ich muss das schon zeigen. Ich könnte einen akademischen Aufsatz darüber schreiben, aber wenn ich den Film drüber machen will, dann habe ich ja keine andere Chance, als mich den Bildern auch zu stellen und der Art und Weise, wie sie hervorgebracht wurden und rezipiert worden sind und immer noch werden. Für mich lag immer ein Schleier über diesen Ereignissen, und den wollten wir zur Seite ziehen. Mir war schon klar, dass das an die Grenze geht. Aber mir war auch klar, dass ich auch an diese Grenze gehen muss, um dieses Unbegreifliche noch mal zu thematisieren. Und das ohne Einordnung. Ich hätte natürlich sagen können: Hier der Röbel, der ist wirklich ganz schlimm, oder der Peter Meyer ist schlimm. Aber ich sah darin eher eine Dynamik, in der alle gefangen waren. Keiner hat gesagt: „Schluss!“ Und das wollte ich erzählen: Was passiert, wenn keiner „Schluss!“ sagt? Denn am Ende dieser Geschichte sind ja zwei Menschen tot, das ist das bittere Resultat der Ereignisse, das darf man nicht vergessen.

Um diese Geschichte zu erzählen, haben Sie und Ihr Team Material aus unterschiedlichen Quellen zusammengetragen. Es werden nicht nur ausgestrahlte, sondern auch ungesendete Aufnahmen von Journalisten verwendet, ebenso Mitschnitte aus dem Polizeifunk. Wie sind Sie an das Material gekommen?

Ausführlichste Recherche, gute Kontakte, jahrelange Beziehungen unserer Rechercheure zu Sendern und anderen Quellen. Normalerweise würden Sie ja etwa zu der Frage, welche Fehler die Polizei gemacht hat oder ob Journalisten an allem schuld waren, Interviews neu drehen und aus dem Archivmaterial nur die entscheidenden Stellen auswählen. Weil wir aber alles aus dem Material selbst heraus erzählen wollten, haben wir auch Sachen genommen, die vor uns keiner angefasst hat, das, was vor und nach den oft gezeigten Bildern noch aufgenommen wurde. Von dem Interview, das Rösner gibt, werden normalerweise diese berühmten zwei Minuten verwendet. Aber wir haben eben auch den Vorlauf, wie die Journalisten ihn heran rufen, wie das Gespräch in Gang kommt, wie es dann aufhört, während er da sprachlos steht.

Wir können unsere Quellen nicht freilegen, aber es war oft auch so, dass wir einfach Wühlarbeit geleistet haben, in einen Keller gestiegen sind, wo noch keiner war. Da was zu finden, ist auch Glückssache. Beim Polizeifunk war es anderes, einiges davon war ja schon lange öffentlich. Bloß wir haben eben das ganze Tape aufgetan.

Das hat sicherlich seinen Preis.

Sagen wir, es ist teuer. Aber wir reden bei Netflix auch von anderen Territorien als beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, können weltweit viel mehr Menschen erreichen. Ob man den Film mit den Öffentlich-Rechtlichen so, wie er jetzt ist, hätte machen können, weiß ich nicht. Das liegt aber auf einer anderen Ebene als beim Geld.

Wie viel Material war das, und wie lange haben Sie für die Recherche gebraucht?

Sieben Monate lang haben wir gesucht. Die meiste Zeit hat es gekostet, kurze Zwischenstücke aus verschiedenen Quellen zu finden, die uns dramaturgisch vom einen Ort zum anderen bringen. Das war manchmal sehr schwer. Das Material selbst war dann gar nicht so viel. Sonst haben Sie oft Tonnen von Bildern in den Archiven. Bei „Gladbeck“ hatten wir insgesamt Material von nur fünf Stunden. Die Arbeit war viel eher, mit diesem wenigen Material die Kerngeschichte herauszuarbeiten.

Haben Sie bei der Recherche auch mit den Protagonisten von damals gesprochen?

Ja, klar. Ich persönlich habe auch mit den Angehörigen der beiden getöteten Geiseln gesprochen, mit Silke Bischoffs Mutter und mit der Familie des damals 14-jährigen Emanuele de Giorgi. Das war wichtig für uns: Von denen brauchen wir ein Okay. Ohne das Einverständnis von Silke Bischoffs Mutter hätten wir das Material auch nicht verwenden dürfen. Deshalb wollte ich vor allem anderen erstmal das Gespräch mit ihr abwarten. Wir haben uns getroffen und lange gesprochen.

Neben Bischoff saß auch Ines Voitle im Auto der Geiselnehmer. Sie ist im Film aber kaum zu sehen. Warum?

Wir haben genau die zwei Bilder, die es von ihr gibt, wo sie wirklich zu sehen ist. Das ist wirklich irre. Von dem Moment im Bus an, wenn Rösner das erste Mal Silke Bischoff rausholt, scheint es allen klar gewesen zu sein: Das ist die, auf die wir uns alle fokussieren, Verbrecher wie Journalisten. Es gibt ja diese Szene in der Kölner Innenstadt, wo ein Journalist zu hören ist: „Jetzt auf die andere Seite, ich brauch eine Geisel.“ Er hätte auf der gleichen Seite bleiben können, da saß auch eine Geisel. Ines Voitle. Aber er ist um das Auto rum …

… und dann fällt der Satz „Halt ihr die Waffe an den Kopf“ von einem Journalisten.

Wir dachten auch alle, das sagt ein Journalist, aber wir haben uns die Situation genau angesehen, und da ist sehr deutlich, auch für Zuschauer eigentlich, ein Dialog zu sehen zwischen Degowski, Rösner und Löblich, in der der Satz fällt – und dann haben wir noch mal die Stimmen genauer angehört und da gab es dann keinen Zweifel mehr.

Das kann man falsch verstehen. Wäre das nicht ein Argument dafür, dass ein Film, der selbst als Zeitdokument betrachtet wird vom Zuschauer, doch eine Einordnung  bräuchte? Ich als Zuschauer höre das einen Journalisten sagen und weiß gar nicht, dass das falsch ist.

Ja, aber das ist eher Ihr Problem als meins. – Nein, es ist natürlich immer eine Gefahr und Möglichkeit zugleich, nicht einzuordnen. Ich will niemandem die Schuld geben, ich will niemandem eine Rechtfertigung liefern. Die Zuschauer haben eigene Ohren, eigene Augen. Und die sollen sie auch benutzen. Ich wollte diese Geschichte so gut wie möglich erzählen, damit die Leute selbst über sie nachdenken können. Weil ich glaube, dass sie einen ganz tiefen inneren Punkt bei uns berührt, der mit Voyeurismus und Schaulust zu tun hat.

Gab es Szenen im Archiv-Material, die sie bewusst nicht gezeigt haben?

Ja! Es gab Verabredungen, auch mit den Familien der Opfer. Und eine Verabredung für mich war besonders wichtig, obwohl ich das sowieso nicht gezeigt hätte. Es gibt Bilder von Emanuele de Giorgi, wie sein Kopf, nachdem auf ihn geschossen wurde, noch mal angehoben wird und alle noch mal ein Foto machen von dem blutenden, sterbenden Jungen. Das war in den „Tagesthemen“ und auch im ZDF zu sehen. Das haben wir nicht genommen. Wir zeigen die Gegenperspektive. Auch weil mir wichtiger war, die Fotografen zu zeigen, die noch mal versuchen, auch in den Flur reinzukommen, in den de Giorgi geborgen wurde. Das war die viel wichtigere Szene für mich. Auch Szenen aus der Kölner Fußgängerzone und vom Einsatz an der Autobahn haben wir nicht verwendet. Wir haben uns da auf das Wichtigste beschränkt. Alles weitere wäre eine Bloßstellung der Opfer gewesen.

Beschädigtes Fluchtauto der Geiselnehmer.
Zugriff auf der Autobahn. Foto: Courtesy of Netflix

Was ist ihnen aufgefallen beim Sichten des Materials der Öffentlich-Rechtlichen und des jungen Privatfernsehens – haben beide gleichermaßen falsch gehandelt?

Es fängt ja am ersten Tag so an, dass private Radioanstalten in der Bank anrufen und mit Rösner sprechen; das Material gibt es übrigens nicht mehr. Dann springt RTL drauf und versucht mehrmals, Kontakt zu den Geiselnehmern aufzunehmen. Zuerst über eines der Opfer, und dann kriegen sie Rösner direkt dran und es kommt zu dem Interview, das auch im Film ist.

Alle sind vor Ort, Sat.1, WDR, RTL, ZDF, auch der ORF und später das niederländische Fernsehen, alle Nachrichtenagenturen sowieso… manche live, alle treiben sich an. Es entsteht eine Kaskade – das würde, glaube ich, heute so nicht mehr passieren. Da war eine gewisse Naivität und eine Situation, der wahrscheinlich niemand richtig gewachsen war. Ich will das nicht entschuldigen: Man hätte dem gewachsen sein müssen. Aber die Situation war außer Kontrolle geraten.

Am nächsten Tag dann hatten alle das Meiser-Interview im Kopf, dachten, mit denen könne man reden – RTL hat da einen Hit gemacht, jetzt müssen wir auch einen landen. So ist, glaube ich, auch das Foto vom sterbenden Jungen in die „Tagesthemen“ gekommen. Spätestens am dritten Tag wussten wohl alle, dass sie Fehler gemacht haben.

Wer hat diese Fehler vor allem gemacht? Die Reporter vor Ort?

Vielleicht muss man die Verantwortung nicht nur dort suchen, sondern auch ein bisschen höher. Wer sitzt in den Redaktionen und sagt: Das kann nicht sein! Ich war auch mal Reporter und habe manchmal Sachen abgegeben, von denen ich nicht wusste, wie darüber entschieden wird. Das ist ja nicht meine Entscheidung, ob das gesendet wird, dafür haben auch andere Verantwortung und die müssen ihr genauso gerecht werden wie die Reporter vor Ort.

Übrigens ist fast alles, was wir zeigen, Material von Fernsehsendern – bis auf einen Super-8-Film von jemandem, der zufällig auf der anderen Straßenseite stand. Heute wäre das eine völlig andere Situation, Sie hätten wahrscheinlich x Handyvideos, die sofort hochgeladen werden. Heute gäbe es keine Gatekeeper mehr.

Der Fotograph Peter Meyer nimmt eine sehr prominente Rolle im Film ein, tritt quasi stellvertretend für die entfesselte Medienmeute auf. Stand er tatsächlich so stark im Mittelpunkt?

Ich sehe ihn als eine tragische Figur, ehrlich gesagt. Er wird ja herangerufen von Rösner. Der sagt ihm, die Polizei spreche nicht mit ihnen, deshalb brauche er einen Vermittler, und das bist du. In dem Moment hätte er wahrscheinlich sagen müssen: „Ich bin Journalist, kein Vermittler. Tut mir leid.“ Hat er nicht getan.

Das ist vielleicht auch aus einer geteilten Motivation geschehen, einerseits dem Gedanken zu helfen und wahrscheinlich auch dem Gedanken: Ich kann gute Bilder machen. Später, als seine Vermittlerrolle scheitert, wird klar, dass er nicht geholfen hat. Er ist einer von vielen in diesem Ablauf, der plötzlich eine Rolle zugesprochen bekommen hat, sie aber auch angenommen hat und dann nicht mehr rauskam. Auch er hat nicht gesagt: Stopp, ich bin jetzt draußen!

Der Film ist bei Netflix unter anderem englisch, französisch, spanisch, türkisch synchronisiert, genauer: gedubbt. Wird das dem Ansatz des Films gerecht, rohe, authentische Bilder und Tonspuren zu verwenden?

Jein. Also: Man kann ja anklicken, was man will und auf das Dubbing verzichten, den Originalton mit den jeweiligen Untertiteln hören. Natürlich ist es für Zuschauer im Ausland schwer, dem Deutschen zu folgen mit Untertiteln. Da ist das Voice Over der einfachere Zugang. Ich bevorzuge O-Ton und Untertitel.

Normalerweise bleiben wir gerade im Dokumentarfilm immer im nationalen Raum. Für mich als Autor oder Regisseur ist es spannender, von Anfang an zu wissen: Das ist jetzt nicht nur für Deutschland. Ich bekomme jetzt Reaktionen auf den Film aus den USA, den Niederlanden, der Ukraine. In den USA wird an das jüngste Schulmassaker, das Versagen der Polizei gedacht. Der Film wird überall anders gelesen. Und: Gladbeck mag im deutschsprachigen Raum längst als Paradebeispiel für Medienversagen dienen – in anderen Ländern ruft die Geschichte großes Erstaunen hervor.

Sie haben gesagt, Sie wollen dem Zuschauer nicht vorgeben, wie er zu denken hat. Aber wenn man so einen Film macht, hat man ja trotzdem einen Wunsch, was er bewirken soll. Was wäre das bei „Gladbeck: Das Geiseldrama?“

Ich habe mal gelesen: wenn ein Werk vollendet, ein Buch geschrieben, ein Film geschnitten ist, dann ist es, als hätte man ein Schiff gebaut. Und man schickt es auf die Reise. Aber ich selber als Autor bleibe zurück am Kai stehen und musste mich irgendwann abwenden und sagen: Gute Reise, hoffentlich habe ich dich gut gebaut und du überstehst die Stürme.

Was dann passiert, ist sensationell. Zuschauer, Kritiker, dürfen darin sehen, was sie sehen. Oft erstaunt es mich, was sie sehen, und hat gar nichts mit dem zu tun, was man selbst eigentlich wollte.

Damit will ich mich aber nicht aus der Verantwortung stehlen: Ich wollte wirklich versuchen, in die Abgründe der menschlichen Seele zu gucken, unter einem bestimmten Aspekt: unsere Lust, sich Verbrechen und Leid anzugucken. Auf Twitter lese ich jetzt als Reaktion auf den Film viel von den „bösen Journalisten“. Ich denke dann: Ja, aber du auch. Und dieses „du auch“ fehlt mir oft. Die Reflexion der eigenen Position. Wenn ich mit dem Film ein bisschen bei ein paar Leuten dahin komme, dann reicht mir das schon: Ja, du guckst auch und du kannst dich nicht erheben, fang mal bei dir selbst an.

Nachtrag: Wir hatten ein Foto falsch beschriftet; es handelte sich dabei nicht um das Fluchtauto.

7 Kommentare

  1. @Mycroft: Woher kommt diese Definition von Gaffer?
    Bei einem Geiseldrama hätte man als Zuschauer ja sowieso nicht die Möglichkeit gehabt zu helfen. Kann man deshalb in dieser Situation kein Gaffer sein, selbst wenn man vor Ort war?

  2. „… und dann fällt der Satz „Halt ihr die Waffe an den Kopf“ von einem Journalisten.“

    Sicher das es ein Journalist war?
    Ich habe es mir mehrfach angehört und für mich hört es sich so an, als wäre es Hans-Jürgen Rösner vom Vordersitzgewesen gewesen, gefolgt von dem Hinweis, es könnten sich ja Polizisten unter die Journalisten gemischt haben.

  3. Heute zumindest zum Teil gesehen – übers Wochenende werde ich mir das aber definitiv nochmal vollständig anschauen. Ich kann meine Gefühle beim Schauen gar nicht sinnvoll beschreiben, weil sich die Bilder so dermaßen surreal und grotesk anfühlen, dass ich mir regelmäßig vor Augen halten muss: Das sind reale Ereignisse, das ist wirklich so passiert. Für mich würde ich daher schon sagen, dass ich den Film gut, sogar sehr, sehr gut gemacht finde. Man fühlt sich sofort in diesen Strudel der Ereignisse hineingezogen, man fragt sich permanent, was da gerade geschieht und nimmt ungläubig lachend kleine Details wahr, wie bspw. dass der Geiselnehmer Journalisten das Feuer für die Zigaretten hinhält.

    Der Film entfaltet bei mir auf jeden Fall eine wahnsinnig starke Wirkung.

  4. „Beschädigtes Fluchtauto der Geiselnehmer.“ – das Foto zeigt das Auto des SEK, die Geiselnehmer hatten einen BMW.

  5. @Ka #2:
    Im Interview steht doch die richtige Antwort schon: Es war kein Journalist, der das sagte.

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