Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Es gibt Titel, die sind legendär zumindest unter Journalisten aus Generationen, die noch erlebt haben, dass Magazine relevant waren. Der „Rolling Stone“ ist so ein Titel, ein Magazin für Popkultur und Politik, gegründet 1967 in San Francisco, geschrieben aus der Sicht der antispießigen Gegenkultur jener Zeit. Viele der Schreiber und Fotografen dieses Heftes wurden selbst zu Ikonen, allen voran Hunter S. Thompson, dessen „Fear And Loathing In Las Vegas“ ursprünglich als Geschichte für das Magazin entstand. Zu den Fotografen, die „Rolling Stone“ groß gemacht hat, gehören Annie Leibovitz, Mark Seliger und David LaChapelle.
Bis heute erscheinen hier aufregende, investigative Geschichten zu den Themen der Zeit. Wenn Sean Penn im Dschungel den mexikanischen Drogenbaron „El Chapo“ interviewt, dann natürlich für dieses Heft. Für alte Säcke wie mich ist der „Rolling Stone“ deshalb gefühlt immer noch Rock’n’Roll.
Die deutsche Ausgabe erscheint seit 1994. Sie war nie das, was der amerikanische Ur-„Rolling Stone“ war, aber zumindest ein bisschen färbt das große Erbe natürlich ab. Ich muss allerdings gestehen, dass die noch aktuelle Augustausgabe seit Jahren die erste ist, die ich gelesen habe. Mit großen Hoffnungen. Denn, ganz ehrlich, Rock’n’Roll fehlt dem Journalismus heute sehr.
Auf dem Cover sind die Beatles, was einerseits schlecht ist, weil alt und retro, aber man kann auch nicht willkürlich das wahrscheinlich einzige Retro-Cover im Jahr rausgreifen und es dafür kritisieren. Aber, ja, die größte Geschichte im Heft dreht sich um das Jahr 1966 und die Entstehung des Albums „Revolver“, eine spannende, schöne Geschichte, aber eben alles 50 Jahre her. 50 Jahre! Wie alt man sein muss, um davon wirklich bewegt zu sein, möchte ich gerade nicht ausrechnen, aber ich halte erstens die Beatles für die größte Band aller Zeiten und zweitens die Entscheidung trotzdem für falsch, das Jubiläum zur Titelgeschichte zu machen, wenn man sich nicht ganz sicher ist, dass die größte Zahl der Leser damals schon Musik gehört hat. Dann würde ich allerdings eine größere Laufschrift wählen, wegen der nachlassenden Sehkraft.
Wollen 30-Jährige heute tatsächlich zwölf Seiten lange Geschichten über die Beatles lesen? Als wichtigstes Thema in einem Popkulturmagazin? Ich glaube es nicht. Ich glaube eher, dass exakt der Geist des Rock’n’Roll dazu antreiben müsste, Ikonen infrage zu stellen und ihnen Neues entgegenzustellen, entgegenzurotzen meinetwegen. Tote alte Männer in Schwarzweiß sind das Gegenteil von neu. Und ich glaube, daran zeigt sich ein Grundproblem des gesamten Heftes.
Vergessen wir Hunter Thompson, natürlich gibt es keinen Text im deutschen „Rolling Stone“, der auch nur ansatzweise seine (oder irgendeine) Wucht entfaltet. Aber ich werde jetzt wahrscheinlich zumindest Höflichkeitsregeln des Zitierens verletzen, weil ich den merkwürdigsten Einstieg in eine Geschichte, den ich vielleicht je gelesen habe, etwas ausführlicher zitieren und besprechen muss. Angekündigt im Vorspann als „(K)ein Gespräch mit Gitarrengott J Mascis […]“ beginnt die Geschichte (über Dinosaur Jr.) folgendermaßen:
Finden Sie nicht auch, dass Konsonanten oft viel besser klingen als ein rund gelutschter Vokal? Viel ausdrucksstärker, viel entschlossener und überhaupt viel deutscher? Rammstein haben daraus eine ganze Weltkarriere gebaut. Aber um beim Thema zu bleiben: Nehmen wir ein K, ergänzen damit das Wörtchen „ein“ und erzeugen so eine, zugegeben, etwas simple Sinnverfremdung. Aus „Ein Gespräch mit …“ würde ein für Magazin- und Feuilletonleseraugen viel interessanteres „Kein Gespräch mit …“ „Kein Gespräch mit Joseph Donald Mascis jr.“ müsste passen.
Wenn es ein Guantanamo für Geschichteneinstiege gäbe, dann müsste dieser Einstieg dort hin. Ihn zu lesen ist wie einem Mann ohne Hände beim Masturbieren zusehen zu müssen, peinlich, schmerzhaft und auf traurige Art faszinierend – und selbst wenn er es richtig gut machen würde, wollte man nicht dabeisein. Mir fällt jedenfalls beim besten Willen kein Weg ein, einem Autor zu helfen, der sich im Einstieg verschwurbelte Gedanken zum Vorspann seiner Geschichte macht. Aus meiner Sicht ist es eine Verletzung der Aufsichtspflicht, das zu drucken. Und abgesehen davon, dass ich alle seine Gedanken zu Feuilletonleseraugen für selbstreferenziellen Blödsinn halte, sind sie auf keinen Fall Rock’n’Roll.
Da macht es die Demütigung nur noch perfekter, dass der Texter des Vorspannes dem Vorschlag des Autoren nicht einmal ganz folgt und nur ein verschämt geklammertes „(K)ein Gespräch“ draus macht, obwohl der nackte Konsonant doch so viel entschlossener und deutscher ist. Nach dem Lesen hatte ich jedenfalls mehrere Stunden lang einen Tinnitus, der nach Rammstein klang.
Aber der „Rolling Stone“ kann es noch schlechter. Sie haben in dieser Ausgabe so etwas wie den perfekten Sturm geschaffen, eine Geschichte, an der wirklich alles falsch ist. Sie handelt von einem Mann namens Ryley Walker, der offenbar „brilliert mit federleichtem Psych-Folk“. Die Geschichte ist mit einem doppelseitigen Portrait-Foto aufgemacht, bei dem der Bruch durch das Gesicht geht, was mich nervt, vor allem weil die Aufmachung völlig unnötig groß ist, denn nach dem Riesenaufmacher folgt nur eine weitere Doppelseite. Das steht in keinem Verhältnis. Und der Text ist ein Rätsel.
Er beginnt mit: „Nach einem Jahr Unterwegssein kehrt Ryley Walker im Dezember 2015 nach Chicago zurück.“
Okay, „Unterwegssein“ ist noch nicht die interessanteste Tätigkeit, der ein Mann nachgehen kann, aber die Gegenwartsform spricht ja zumindest dafür, dass gleich etwas passiert, oder? Tut es aber nicht. Sie wandelt sich nach ein paar Sätzen kurz in die Vergangenheit („Er ist vor einigen Jahren hergezogen […]. Er mochte Chicago schon immer“), dann ist in der noch vergangeneren Vergangenheit plötzlich Gegenwart („Als junger Teenager fährt er mit der Bahn in die Weltstadt“). Dann kommt eine Seite lang seine Lebensgeschichte, bis wir irgendwann wieder im Dezember 2015 angelangt sind, wo er, ta daa, mal wieder eine Platte aufnimmt, weil er „nicht auf seinem faulen Arsch herumsitzen“ will. Es passiert einfach nichts, das irgendwie rechtfertigt, warum diese Geschichte im Dezember 2015 beginnt, nur um danach nochmal bei seiner Kindheit anzufangen und irgendwann sanft über den Dezember 2015 hinwegzugleiten, in dem er Musik macht – wie in praktisch jedem anderen scheiß Monat seines Lebens auch. Der Mann ist Musiker, mein Gott!
Selbst die Bildunterschrift ist unsauber („BERLIN-BLUES; Walker auf den Dächern der Stadt“ – ein Mann steht auf EINEM Dach, oder meinetwegen „über den Dächern von“, aber er steht nicht auf mehreren Dächern, das sieht man übrigens auch auf dem Foto, verdammt! Am meisten ärgert es mich, dass ich mich so ärgere, dass ich inzwischen selbst solchen Mini-Mist erwähne). Liest denn das alles keiner mehr, bevor es gedruckt wird?
Es gibt natürlich auch diesen gigantisch großen Teil mit Plattenkritiken im „Rolling Stone“, und das ist eine eigene Kunst, in der man scheitern und brillieren kann, und ich würde sagen, es gibt beides in dieser Ausgabe, und es scheitert immer da, wo jemand abgeklärt tut, überheblich und wissend. Ich habe mich über ein paar Texte gefreut wegen ihrer offensichtlichen Freude am Thema und am Subjekt, und sehr regelmäßig stand der Name „Birgit Fuss“ drunter, der ich gerne vier Bier ausgeben und mit ihr über Musik reden würde, weil sie mit so viel Liebe schreibt.
Ein langer Text über den offenbar schlagstärksten Gagschreiber im deutschen Fernsehen und einer über Neofolk, die Musik der neurechten Subkultur, geben dem Heft zumindest den Hauch eines am aktuellen Weltgeschehen interessierten Kulturmagazins, aber für mich reißen sie es nicht dahin, wo ich mir den „Rolling Stone“ wirklich gewünscht hätte: Dahin, wo ich mich alt fühle, weil sie mit Mut und Herzblut mittendrin sind, weil sie härter feiern, mehr schreien und insgesamt einfach mehr Haltung zeigen als ich alter Sack. Aber wenn das hier Rock’n’Roll ist, dann bin ich immer noch Punk.
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Der Vergleich mit dem Man ohne Hände ist schon wirklich sehr auffällig brillant. Selbst entwickelt?
Du beschämst mich, aber: ja.
Donnerwetter.
Mein bisheriger Favorit ist ein Schnipsel aus dem Men’s Health Text und der ging so: „[…] wenn ich am Anfang eines Jahres eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio abgeschlossen habe, die sich dann sechs Wochen später still und leise in eine Fördermitgliedschaft verwandelt hat.“ Seitdem warte ich vergeblich auf eine Gelegenheit, das mal anzubringen.
Wie wäre es denn für die Zukunft mit einem Verbrauchermagazin, das zum Beispiel ein 43. Mal Smoothie Mixer gegen den Thermomix testet, während Yvonne Willicks erklärt, wie man Waschmittel ganz leicht selbst machen kann? So spielt es sich jedenfalls in meiner Vorstellung ab. Es gibt ja sicher einige Formate in dieser Richtung, wobei die tv14 der Sache vermutlich schon nahe kam.
„Aber wenn das hier Rock’n’Roll ist, dann bin ich immer noch Punk.“ – Dann gibt einem dich die Lektüre doch zumindest ein gutes Gefühl, oder?
Am absurdesten ist, dass dieses Magazin im Axel-Springer-Verlag erscheint, und dass man dann durchaus merkt. Rock’n’Roll ist dann doch ganz anders.
Vor ein paar Monaten war im Rolling Stone ein Auszug aus Kim Gordons Autobiografie und der RS hat hier die Beschreibung der Tour, bei der Sonic Youth im Vorprogramm von Neil Young gespielt hat, rausgesucht. Ein relevanter Musiker würde es wohl nur dann ins Heft schaffen, wenn er Bob Dylan erschießt.
Ich freue mich so für Birgit Fuss, obwohl ich die gar nicht kenne und noch nie etwas von ihr gelesen habe.
Ich fürchte ja das neofolk in etwa so sehr die musikrichtung der neuen Rechten ist wie Black metal die Musik der neurechten der letzten Woche war. Naja da es häufig die selben Köpfe in den Bands sind, kann man die alten Artikel durch simples ersetzen der stilrichtung recken aber ob es dadurch besser wird?
Ach, Mann. Ich bin leider gar nicht alt genug und Beatles kann ich aufgrund meiner von den 80ern zerstörten Hörgewohnheit, worunter sich viel Metall und Gestein befindet, nur auf Gras hören (dafür dann aber ziemlich gut), trotzdem hat mich der Artikel gepackt, besser: die Vorstellung, so ein Magazin nochmal in der Gegenwart zu haben. Ein kackfreches Monument, dass sich überheblich, selbstbewusst und überaus gekonnt aus dem zu Beton erstarrtem Einerlei erhebt und Tacheles redet. Ein Magazin, dass man entweder abgrundtief hasst oder uneingeschränkt liebt, deren Autoren man entweder für arrogante Fatzkes hält oder für irre Genies. Mir geht’s ein bisschen so mit dieser feinen Webseite hier – im positiven :-)
Aber dann stellt sich auch gleich die Befürchtung ein, dass ich mich dann nur noch älter fühlen würde und das die Dinge, die in einem solchen Magazin stünden, ganz anders radikal und aufregend wären, als mir lieb wäre. Eben weil heute nicht mehr 67 ist, sondern 2016. Das Internet ist längst passiert, die Verwirrung aber immer noch groß und anhaltend. Etc.
Feiner Artikel über ein Magazin, dass ich tatsächlich immer nur vom Hörensagen kannte und kenne, ehrlich gesagt, und 67 lag 8 Jahre vor meiner Geburt. Fear and Loathing in Las Vegas hab ich aber trotzdem gelesen und vor Lachen weinen müssen und umgekehrt. Okay, eigentlich ging’s ja um die 08/2016 Ausgabe des real existierenden, deutschen Rolling Stones, aber egal.
Und warum lobt hier keiner der Überschrift?
Die ist toll.
Eine Reportage über den Omo in Äthiopien habe ich mal betitelt: „Omo – ein Fluß, der sich gewaschen hat“
Aber mich lobt ja auch keiner.