Nullwert mit Nullaussage: Die Verwirrung um die Zahl der Corona-Toten
Es gibt sie noch, die guten Nachrichten, und in der „heute in Deutschland“-Sendung gestern um 14 Uhr klangen sie so:
Blicken wir auf Corona und eine Meldung, die zuversichtlich stimmt: Erstmals seit September 2020 wurde kein einziger neuer Todesfall im Zusammenhang mit Covid gemeldet.
Andere Medien freuten sich mit. Der WDR startete in den Montagmorgen mit dieser „guten Nachricht“ …
Guten Morgen NRW! Wir starten in diesen Montag mit einer guten Nachricht: Das Robert-Koch-Institut meldet keine weiteren Corona-Toten. Wann es das zuletzt gab. Und was zum Wochenstart sonst noch wichtig wird ⬇️ https://t.co/ksaecFukok
— WDR aktuell (@WDRaktuell) May 2, 2022
… und auch tagesschau.de meldete: „kein weiterer Todesfall“.
Moment mal: Im Schnitt der vergangenen Woche waren immerhin noch täglich rund 180 Todesfälle im Zusammenhang mit Corona gemeldet worden, und nun soll es mit einem Mal kein einziger mehr gewesen sein? Könnte es sein, dass es nicht an den Todesfällen lag, sondern an den Meldungen?
In der Tat. Am vergangenen Wochenende haben elf von 16 Bundesländern keine aktuelle Zahlen gemeldet: Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen, Rheinland-Pfalz, das Saarland, Sachsen und Thüringen verarbeiten seit Anfang Mai Corona-Daten von den Gesundheitsämtern nur noch montags bis freitags. Das hatten sie auch so angekündigt. Auch verschiedene Landkreise melden am Wochenende neuerdings gar nicht mehr. Entsprechend dünn ist die Datenbasis, entsprechend verzerrt sind die Werte, die das Robert-Koch-Institut montags morgens in sein Dashboard stellt, entsprechend wenig sagen die null Todesfälle aus.
Eine Meldung, vier Versionen
Trotzdem meldete die Nachrichtenagentur dpa gestern Morgen um kurz nach fünf:
Erstmals seit September kein neuer Corona-Toter gemeldet
Berlin (dpa) – Erstmals seit September haben die Gesundheitsämter in Deutschland dem Robert Koch-Institut keinen einzigen neuen Corona-Todesfall binnen 24 Stunden übermittelt. Das geht aus Zahlen vom Montagmorgen hervor, die den Stand des RKI-Dashboards von 05.00Uhr wiedergeben. Nachträgliche Änderungen oder Ergänzungen des RKI sind möglich. Dass kein einziger Corona-Toter innerhalb eines Tages gemeldet wurde, war zuletzt am 21. September der Fall.
Die Agentur schickt jeden Morgen eine solche Meldung heraus. Sie enthält immer auch diverse Hinweise, warum die Zahlen mit Vorsicht zu genießen sind, und montags die Einschränkung, dass an Wochenenden von den Gesundheitsämtern gewöhnlich weniger Fälle gemeldet werden als an anderen Tagen.
In welchem Ausmaß die Zahlen an diesem Montag verzerrt waren, erklärte der Text allerdings nicht.
Diese dpa-Meldung wurde im Laufe der nächsten Stunden gleich dreimal aktualisiert oder berichtigt. Zum ersten Mal um 6:30 Uhr, als die Agentur kurz vor Schluss den Hinweis einfügte, dass laut RKI-Dashboard „nur fünf Bundesländer neue Infektionsfälle“ meldeten.
Um 9:07 Uhr korrigierte die Agentur, dass der letzte Tag ohne Corona-Tote am 21. September 2020 gewesen sei, nicht, wie zuerst gemeldet, der 21. September 2021.
Es dauerte bis 12:17 Uhr, bis die Agentur in einer neuen Fassung deutlich machte, wie wenig aussagekräftig ihre Meldung an sich war. „Kein neuer Corona-Toter gemeldet – Nullwert liegt an Meldepraxis“, lautete die neue Überschrift. „Zur Einordnung“ ergänzte dpa, dass „im Mittel der vergangenen sieben Tage 182 Todesfälle pro Tag an das RKI gemeldet“ wurden.
dpa zieht Konsequenzen
Nachrichtenchef Froben Homburger sagt über die ursprüngliche Meldung: „Die Meldung hat einen falschen Eindruck erweckt und hätte mit dieser Überschrift und diesem Leadsatz nicht gesendet werden dürfen.“ Die Agentur hat aus der Panne sowie aus dem veränderten Meldeverhalten der Bundesländer heute Konsequenzen gezogen: „Wir haben beschlossen, sonntags und montags keine eigene Meldung mehr zu den RKI-Zahlen zu senden.“
Auch die Landesdienste der Nachrichtenagentur in Bundesländern, die keine neuen Zahlen lieferten, haben in ihrer RKI-Meldungs-Meldungsroutine gestern fröhlich Meldungen produziert. „Corona-Inzidenz im Saarland sinkt – Keine neuen Infektionen gemeldet“ hieß es – korrekt und doch grob irreführend – im Landesdienst Rheinland-Pfalz/Saarland. Und die Kollegen für Berlin/Brandenburg wussten und erwähnten zwar, dass „die Brandenburger Gesundheitsämter an den Wochenenden keine Neuinfektionen mehr“ melden, ließen sich davon aber nicht beirren zu verkünden: „Corona-Inzidenz in Brandenburg rechnerisch weiter gesunken.“
Auch andere Nachrichtenagenturen hatten ohne klare Einordnung oder Einschränkung am Montagmorgen die vermeintlich positive Nachricht vermeldet. AFP titelte: „RKI verzeichnet 4032 Neuinfektionen – Keine neuen Todesfälle gemeldet“, Reuters: „RKI meldet keine weiteren Todesfälle – Inzidenz fällt auf 639,5“.
Schuld an der allgemeinen Verwirrung hat auch das Robert-Koch-Institut, weil es etwa in seinen täglichen Lageberichten keine konkreten Angaben macht, wie sehr die Datenbasis eingeschränkt ist. Es findet nur der allgemeine Hinweis, dass „die Aussagekraft der tagesaktuellen Berichterstattung der Neuinfektionen am Wochenende und zu Beginn der Woche eingeschränkt“ ist. Aber dass zwei Drittel der Bundesländer gar keine Daten liefern, ergibt sich nur indirekt aus der Tatsache, dass in mehreren Tabellenzellen eine Null steht.
Routine ohne Sinn
Nach zwei Jahren Pandemie ist die Meldung der Corona-Zahlen tägliche Routine geworden. Allerdings hat sich auch nach all dieser Zeit offenbar immer noch kein seriöser, professioneller Umgang mit den Zahlen durchgesetzt. Die Daten werden vermeldet – wie gestern im ZDF-„Morgenmagazin“ viele Male, alle 30 Minuten in den „heute“-Nachrichten auf der Standard gewordenen Grafik. Hinterfragt werden sie und ihre Aussagekraft meist nicht.
Zahlen vermitteln automatisch das Gefühl, eine Entwicklung fassbar zu machen. Sie suggerieren, handfeste Fakten zu sein, selbst wenn sie aus vielfachen und gut dokumentierten Gründen unzulänglich sind. Und wenn sie auffällig oder ungewöhnlich sind, wie die null neuen Todesfälle gestern, ist das für einige Medien nicht Anlass, sie zu hinterfragen, sondern nur, sie ahnungslos zu kommentieren: als positiven Meilenstein zum Beispiel.
Dass beim ZDF aber selbst um 14 Uhr, als sich dpa schon mehrfach korrigiert hatte und die Problematik auf Twitter von einschlägig bekannten Accounts diskutiert wurde, noch niemand etwas gemerkt hat, ist schon besonders traurig.
Und „Bild“ ist halt „Bild“:
Zahlreiche gedruckte Zeitungen heute schaffen das Kunststück, gleichzeitig die relative Bedeutungslosigkeit der Zahl zu vermelden, sie aber trotzdem als große Nachricht zu behandeln. „Erstmals seit September 2020 kein Corona-Toter gemeldet“ steht gleich auf der Titelseite der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.
Die „Norddeutschen Neuesten Nachrichten“ aus Rostock titeln auf Seite 1 sogar, deutlich irreführender: „Erstmals seit 20 Monaten kein neuer Corona-Toter“.
„Erstmals kein Toter wegen Corona“, behauptet auch die „Mitteldeutsche Zeitung“; „erstmals seit September 2020 kein neuer Corona-Toter“, titelt die „Schwäbische Zeitung“.
Und der „Berliner Kurier“ feiert groß:
Und bezeichnet die Tatsache, dass sich die „Null-Tote-Meldung“ auf den Sonntag bezieht, „und viele Bundesländer Wochenend-Fälle erst am Dienstag“ nachmelden, als bloßes „Haar in der Suppe“.
Eine irreführende, aber sensationell erscheinende Zahl zu ignorieren, scheint in manchen Redaktionen einfach nicht vorgesehen. Dabei könnte man es wenigstens so machen wie die „Stuttgarter Zeitung“. Die titelt: „Warum kein neuer Coronatoter gemeldet wurde“ – und erklärt es dann.
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