Wochenschau (122)

Vielleicht Völkermord

„Als Genozidforscher bin ich Empiriker, Rhetorik lehne ich normalerweise ab. Ich nehme auch Völkermord-Behauptungen mit einer Wagenladung Salz entgegen, weil Aktivisten es jetzt fast überall anwenden. Nicht jetzt. Es gibt Taten, es gibt Absichten. Mehr Völkermord kann es nicht sein. Schlicht und für alle sichtbar.“

So eindeutig ordnete der amerikanisch-ukrainische Historiker Eugene Finkel das Massaker in Butscha ein. Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 4. April die Stadt besuchte, in der nach dem Rückzug der russischen Truppen die Leichen von Hunderten von Zivilisten gefunden wurden, erklärte er: „Die Welt wird das als Genozid anerkennen.“ Er forderte bereits zuvor, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag Ermittler für Kriegsverbrechen entsendet. Die ukrainische Regierung sammelt mögliche Belege für Kriegsverbrechen in einem öffentlichen Online-Archiv (Inhaltswarnung wegen drastischer Bilder).

Der amerikanische Präsident Joe Biden vermied den Begriff, betonte aber, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei, der vor Gericht müsse. Der spanische Premierminister Pedro Sánchez ging weiter und sprach von „Völkermord“, ebenso der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki. Boris Johnson sagte, es sei „nicht weit weg von Völkermord“.

In der deutschsprachigen Berichterstattung wird der Begriff „Völkermord“ oder „Genozid“ jedoch weitgehend vermieden. Hauptsächlich wird der Begriff genutzt, um darüber, wie hier auch, zu reflektieren, ob er angewandt werden darf bzw. sollte. Sonst taucht er vor allem als Zitat auf. Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor von Human Rights Watch stellt im SZ-Podcast den Gebrauch der Wörter „Genozid“ oder „Völkermord“ infrage, aber hält fest, dass es „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ seien.

Statt „Völkermord“ liest man in Headlines und Texten häufiger das auch von mir gleich zu Beginn dieses Textes genutzte „Massaker“, ebenso auch „Gräueltaten“ im Zusammenhang mit Butscha.

Dagegen titelte der „Daily Mirror“ in großen Lettern „Genocide“. Im „New Yorker“ stellte Philip Gourevitch bereits am 13. März die Frage: „Ist es an der Zeit, Putins Krieg in der Ukraine als Völkermord zu bezeichnen?“

Eine Frage der Intention

Wenn in der politischen Kommunikation ein Wort dieser Aufladung von nicht wenigen europäischen Akteuren genutzt wird – warum wird es in der Berichterstattung vermieden? Um das zu klären, müssen wir uns die genaue Definition anschauen. Nach dem internationalen Vertrag der Völkermordkonvention von 1948 werden „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, als Genozid bezeichnet. Der Begriff wurde erstmals von dem polnischen Rechtsanwalt Raphael Lemkin in seinem 1944 erschienenen Buch „Die Herrschaft der Achsenmächte im besetzten Europa“ verwendet.

Um als solches charakterisiert zu werden, braucht es die Dimension einer gruppenbezogenen Mordabsicht, die klare Intention, eine Gruppe von Menschen auf Grundlage eines verbindenden Elements ganz oder teilweise zu vernichten. Die tragische Frage, die in Anbetracht der Ereignisse als zynische Rabulistik wirken kann, aber völkerrechtlich relevant ist: Wurden die vielen Frauen, Männer und Kinder wahllos vom russischen Militär erschossen, weil sie im Weg waren, um die ukrainische Moral zu schwächen oder/und Angst zu verbreiten? Das wären Kriegsverbrechen, für die sich Putin verantworten muss. Oder wurden die Opfer systematisch erschossen, weil sie Ukrainer sind und daher aus russischer Perspektive eliminiert werden müssen? Dann wäre es zusätzlich zu den Kriegsverbrechen ein Völkermord. Der Vorsatz muss nachgewiesen werden. Das macht eine Eindeutigkeit bei der Nutzung des Wortes schwer, denn wenig ist juristisch schwerer zu belegen als Absicht.

„Völkermord“ ist wie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und „Kriegsverbrechen“ ein klar definierter Rechtsbegriff – auch wenn alle im allgemeinen Sprachgebrauch und in sozialen Medien fälschlicherweise synonym verwendet werden. Im Völkerrecht stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Oberbegriff dar, unter den sowohl „Kriegsverbrechen“ als auch „Genozid“ bzw. „Völkermord“ fallen. Jeder Völkermord stellt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar, aber nicht jedes Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist auch ein Völkermord. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind breit angelegte oder systematische Übergriffe auf eine Bevölkerung; darunter fallen Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung. Darunter fällt auch die systematische Verfolgung von Menschen aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven. Ein Völkermord kann auch außerhalb eines Kriegskontextes stattfinden; Kriegsverbrechen, wie der Mord an Zivilisten, Vergewaltigungen, Plünderungen, finden immer innerhalb eines militärischen Konfliktes statt.

Möglicherweise Strategie

Dass der Nachweis einer genozidale Absicht schwierig ist, zeigt sich in den aktuellen Debatten – einschließlich eines laufenden Verfahrens vor dem Internationalen Gerichtshof darüber, ob Myanmar Völkermord an den Rohingya, einer muslimischen Minderheit, begangen hat. Von den USA wurde die Gewalt vor zwei Wochen als „Genozid“ eingestuft.

Auch die Einordnung der Taten in Srebrenica wird bis heute diskutiert. Die Ermordung der bosnischen Muslime wurde zwar sowohl vom Internationalen Jugoslawien-Tribunal als auch vom Internationalen Gerichtshof als Völkermord eingestuft. Eine Resolution des Uno-Sicherheitsrats, die das Massaker als Genozid verurteilen sollte, wurde jedoch gestoppt, durch ein Veto Russlands.

Es wird erst mithilfe etlicher Forensiker:innen, Historiker:innen, unabhängigen Ermittler:innen akribisch rekonstruiert und völkerrechtlich entschieden werden können, ob der Begriff hier zutrifft, aber die Berichte, die darauf hinweisen, häufen sich. Der deutsche Geheimdienst hat Funksprüche russischer Soldaten aus der Region nördlich von Kiew abgefangen, in denen es um die Ermordung der Zivilisten geht. Nach Auswertung der Aufnahmen durch den BND, liege der Schluss nahe, zitiert der „Spiegel“, dass es sich weder um Zufallstaten handele noch um Aktionen einzelner aus dem Ruder gelaufener Soldaten:

„Vielmehr lege das Material nahe, so hieß es, die Soldaten unterhielten sich über die Gräueltaten wie über ihren Alltag. Dies, so hieß es am Mittwoch in Berlin, deute darauf hin, dass Morde an Zivilisten Teil des üblichen Handelns der russischen Militärs geworden seien, möglicherweise sei es Teil einer klaren Strategie.“

Entmenschlichende Sprache

Ein Völkermord wird durch Propaganda und eine Sprache vorbereitet, die die Zielbevölkerung abwertet und dämonisiert. Historische Beispiele dafür gibt es zuhauf, von Karikaturen europäischer Kolonialherren über indigene „Wilde“ bis hin zu Nazi-Darstellungen von Juden als Ratten. Die russische Regierung verwendet die dehumanisierende und antagonisierende Sprache, um ihre Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen. Sie wiederholt immer wieder die Idee, dass die Ukraine nazifiziert sei und von der russischen Armee befreit werden müsse, und spricht gleichzeitig der Ukraine jede Existenz und Staatssouveränität ab. Hört man der russischen Propaganda genau zu, so meint eine „Entnazifizierung der Ukraine“ in Konsequenz eine „Zerstörung der Ukraine“.

In einem verstörenden Propagandastück mit dem Titel „Was soll Russland mit der Ukraine tun?“, das von der russischen, staatlich kontrollierten Nachrichtenagentur RIA Novosti veröffentlicht wurde, heißt es, dass die russischen Streitkräfte keine scharfen Unterschiede zwischen dem ukrainischen Militär und der Zivilbevölkerung machen sollten:

„Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – wahrscheinlich die Mehrheit – vom Naziregime absorbiert und in die Politik hineingezogen wurde. Der Text behandelt die Notwendigkeit einer Ent-Ukrainisierung, nur so sei eine Entnazifizierung möglich und behauptet, dass „ein bedeutender Teil der Volksmassen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, ebenfalls schuldig ist. (…) Kriegsverbrecher und aktive Nazis müssen hart und demonstrativ bestraft werden. Es sollte eine totale Säuberung durchgeführt werden.“

Timothy Snyder bezeichnete diesen Text als „Völkermordhandbuch Russlands“.

Die Frage ist auch, wie sich Kriegsteilnehmer bei Kenntnis über Kriegsverbrechen verhalten, die in ihrem Namen begangen werden. Während sich Berichte über Vergewaltigungen und Deportation häufen, erzählt die Sprecherin des russichen Außenministeriums betrunken etwas über Borscht-Rezepte. Auch das trägt zur Dehumanisierung des politischen Feindes bei.

Der Historiker Eugene Finkel gibt zu bedenken, dass eine Völkermordsintention nicht zu Beginn eines Krieges stehen muss, sondern sich dahin entwickeln kann, wenn sich die Bedingungen ändern. Und es gibt eine entsetzliche Wahrheit, die nur in einer Militärlogik Sinn ergibt: Die Abwesenheit einer Ausstiegsstrategie Putins erhöht das Risiko genozidaler Gräueltaten. Eine Invasion, die aus russischem Expansionismus begann, entwickelt sich offenbar aufgrund der Rückschläge in einen Vernichtungskrieg weiter – aus vereinnahmen wird vernichten.

Gräueltaten mit Vorgeschichte

Ein Prädiktor für Völkermord ist eine Geschichte von massiven Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten, einschließlich Völkermord. Russland hat eine Geschichte von Massengewalt gegen Ukrainer. Am berüchtigtsten ist vielleicht die von der Sowjetunion verfolgte Landpolitik, die zu einer Lebensmittelknappheit und einer Hungersnot führte, der von 1932 bis 1933 Millionen von Ukrainern zum Opfer fielen: bekannt als „Holodomor“, „Tod durch Hunger“. Zwangsdeportation ethnischer Gruppen und politische Säuberungen waren Teil sowjetischer Politik, massenhafte Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Tschetschenien, Georgien und Syrien Teil russischer Politik.

Die semantische Vorsicht in Berichterstattung über Kriegsverbrechen ist journalistisch notwendig, wie es auch Andrej Reisin in Bezug auf die Nutzung des Wortes „mutmaßlich“ beschrieb. Es sind Gräueltaten, keine mutmaßlichen Gräueltaten, präzisiert er am Ende seiner Analyse, „mutmaßlich von russischer Seite verübten Gräueltaten bzw. Kriegsverbrechen“.

Es ist anerkennenswert, insbesondere in einer Kriegssituation bedächtig mit Begriffen umzugehen. Aber nach all den genannten Aspekten, welche jeweils einen Teil der Genozid-Defintion erfüllen, sollte man den Begriff nicht allein aus Angst vor dem Wort zu weit raus aus dem Bewusstsein und zu weit weg vom journalistischen Schreibtisch schieben. Ich kann nicht sagen, ob die Bezeichnung „Völkermord“ in Bezug auf Massaker wie in Butscha angewandt werden sollte, um das Grauen journalistisch korrekt zu beschreiben. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns diese Frage nun immer häufiger stellen werden müssen.

1 Kommentare

  1. Ist es zum heutigen Zeitpunkt nicht angemessen, die Ereignisse z.B. in Butscha, begrifflich an der aktuellen Realität einzuordnen? Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, Kriegsverbrechen? Was weiß man schon über die Opfer, die mit Sicherheit alle dort gelebt haben – aber gleichwohl auch russische Wurzeln gehabt haben können und sich selbst als Russen ausgegeben hätten, hätte man sie gefragt?
    Sind Begriffe wie Genozid und Völkermord nicht Einordnungen, die für eine juristische oder geschichtliche Bewertung erst im Nachhinein getroffen werden können oder sollten? Führen sie zu irgendeinem Erkenntnisgewinn? Hat ein ziviler Toter einer militärischen Auseinandersetzung eine andere Wertigkeit, wenn er im Genozid getötet wurde?

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