Natalia Malischewa

„Im Moment beschleunigt sich die Isolation enorm“

Die Organisation „Roskomsvoboda“ dokumentiert seit 2012 die Aktivitäten russischer Regierungsbehörden in Bezug auf Internet und Kommunikation. „Roskomsvoboda“ ist spendenfinaziert. Das 15-köpfige Team führt unter anderem Listen darüber, welche Internetseiten gesperrt werden, berichtet über Strafverfolgung von Bürgern aufgrund von Äußerungen in Sozialen Netzwerken. Mit Veranstaltungen und Kampagnen klären sie Bürger über ihre digitalen Rechte auf und helfen dabei, geschützte Kommunikation einzurichten. Mit „Roskomsvoboda“ verbundene Anwälte entwickeln außerdem Vorschläge zu Gesetzesänderungen, vertreten die Interessen von Nutzern und Website-Betreibern vor Gericht und verteidigen Menschen, die wegen Äußerungen oder Aktivitäten im Internet angeklagt werden.

Die Arbeit von „Roskomsvoboda“ ist wichtiger denn je: Aufgrund der neuen Zensur-Gesetze, und weil russische Internetnutzer durch die Sanktionen und die Abschaltung vieler Webdienste mit immer neuen Problemen konfrontiert sind.


Natalia Malischewa
„Roskomsvoboda“-Mitbegründerin und -Pressesprecherin Natalia Malischewa. Foto: Roskomsvoboda

Frau Malischewa, die Umwälzungen innerhalb der russischen Politik und Wirtschaft sind in diesen Tagen massiv. Wie gehen Sie damit um?

Natürlich ist es für uns alle eine sehr große Belastung. Unser bisheriges Leben, unsere bisherige Arbeit und unsere Werte – all das scheint sich gerade aufzulösen. Es geschehen so große Veränderungen, die von uns niemand erwartet hat und auf die niemand vorbereitet war.

Aber wir versuchen uns mit der Situation zu arrangieren und aus diesem Stress irgendwie herauszukommen. Wir überlegen jetzt neu, wie wir als Organisation möglichst gut russischen Bürgern helfen können, sich objektiv zu informieren, mit Links, Fakten-Checks, verifizierten Berichten und so weiter. Wir sind erschüttert, versuchen aber auch in dieser Situation unsere Funktion in der Gesellschaft zu erfüllen.

Was sind im Moment die Schwerpunkte Ihrer Arbeit?

Vor dem Hintergrund des Informationskrieges und einer wachsenden sozialen Krise haben wir uns in den vergangenen Tagen darauf konzentriert, Menschen dabei zu helfen, verlässliche Informationen darüber zu erhalten, was im Internet und im IT-Bereich geschieht. Das heißt, wir dokumentieren, welche neuen Zensur-Gesetze eingeführt werden, aber auch welche IT-Unternehmen Russland verlassen und was das für russische Nutzer bedeutet. Besonders wichtig ist uns ein Appell, den wir an internationale Tech-Firmen richten, damit sie nicht einfach wahllos Sanktionen verhängen. Denn damit bestrafen sie die einfachen Bürger in Russland – und die befinden sich auch so schon in einer bedrohlichen Lage. Durch die Schließung führender westlicher Dienste und Informationskanäle droht den Menschen in Russland ein Informationsvakuum, das den Zielen der Friedensstiftung zuwiderläuft und einer digitalen Diskriminierung gleichkommt.

Wir erinnern daran, dass digitale Rechte ein integraler Bestandteil der im Völkerrecht anerkannten grundlegenden Menschenrechte und Freiheiten sind – und dass der Zugang zum Internet und zu elektronischen Kommunikationsmitteln von entscheidender Bedeutung ist, nicht zuletzt damit auch die Kriegsparteien einander hören können. Und natürlich leisten unsere Anwälte im Moment weiterhin Rechtshilfe für diejenigen, die verfolgt werden, weil sie sich online zu Wort gemeldet haben und verteidigen diese vor Gericht.

„Roskomsvoboda“-Website: „Don’t leave us in the dark“ Screenshot: Roskomsvoboda

Erschweren die neuen Gesetze auch Ihre Arbeit?

Ja, alle befinden sich unter Beschuss: Medien, gesellschaftliche Organisationen, die sich um Bürgerrechte kümmern … Wir müssen die ganze Zeit balancieren: Einerseits versuchen wir objektiv zu informieren, auf der anderen Seite müssen wir sehr darauf achten, nichts zu veröffentlichen, was zur Blockade unserer Website führen könnte, oder zur Verfolgung unserer Mitarbeiter. Sprich, wir müssen Formulierungen jetzt immer wieder daraufhin überprüfen, dass sie nach den aktuellen Gesetzen nicht als „extremistisch“ eingestuft werden können – in Russland ist so etwas unter dem Begriff „Äsopische Sprache“ bekannt. Man muss eine Sprache sprechen, die jeder versteht, aber ohne dass man die Dinge beim Namen nennt. Das ist nicht einfach und auch eine psychische Belastung.

Wie arbeiten Sie konkret, gibt es noch ein Büro, in dem Sie alle zusammenkommen?

Nein, wir haben kein Büro, sondern arbeiten schon seit vielen Jahren dezentral aus verschiedenen Städten. Das ist der jetzigen Situation auch ungefährlicher, wenn man in Betracht zieht, dass Hausdurchsuchungen stattfinden könnten.

Gibt es Repression auch gegen Ihre Organisation?

Nein, bisher nicht, wir rechnen damit aber jederzeit. Denn viele unserer Kollegen aus anderen Bürgerrechts-Organisationen sind bereits Opfer der Repression geworden – denken Sie etwa an die Organisation „Memorial“. Es kann jetzt im Prinzip jede NGO treffen.

Wir unterhalten uns via „Telegram“. Haben Sie dabei noch ein Gefühl der Sicherheit, nicht abgehört zu werden?

Wir raten bereits dazu, „Telegram“ nicht für vertrauliche Gespräche zu nutzen, sondern dafür andere, besser geschützte Messenger zu verwenden, wie beispielsweise Signal. Wir sind nicht hundertprozentig davon überzeugt, dass „Telegram“ ausreichend geschützt ist und mit keinen russischen Behörden zusammenarbeitet.

Aber „Telegram“ -Gründer Pavel Durov hat sich doch erst kürzlich eindeutig geäußert, dass er heute mehr denn je die Privatsphäre der Nutzer schützen will.

Darüber gibt es im Moment viel Diskussion, ob „Telegram“ seine Nutzer tatsächlich so schützt, wie Durov sagt. Wir behaupten nicht, dass „Telegram“ mit den russischen Behörden kooperiert, aber es gibt aktuell Aspekte, die zumindest Fragen aufwerfen: Zum einen wird „Telegram“, im Gegensatz zu „Facebook“ oder „Twitter“, in Russland nicht blockiert, zum anderen empfehlen die russischen Behörden sogar die Nutzung von „Telegram“, neben russischen sozialen Netzwerken wie „Vkontakte“ und „Odnoklassniki“. Zudem nutzen auch russische Behörden „Telegram“, um ihre Informationen zu streuen.

Wir haben außerdem bereits einen Hilferuf erhalten, von einer Person, die man wegen eines Postings auf „Telegram“ verhaftet hat. Bislang kannten wir das nur aufgrund von Beiträgen in sozialen Netzwerken wie „VKontakte“, jetzt könnte dies auch auf die Nutzer von „Telegram“ zukommen. Wobei wir in dem erwähnten Fall noch nicht genau wissen, wie die Behörden an die persönlichen Daten der Person gelangt sind, ob dies über „Telegram“ selbst oder auf anderem Weg geschah.

In den vergangenen Wochen wurden Radiosender, Nachrichten-Websites und -Kanäle geschlossen, weshalb viele Journalisten dazu übergegangen sind, auf „Telegram“ zu publizieren. Kann „Telegram“ diesen Verlust an unabhängiger Berichterstattung auffangen, kompensieren?

Wie wir in der Praxis sehen, passiert genau das. „Telegram“ ist – trotz der zuvor erwähnten offenen Fragen – zur im Moment unabhängigsten Informationsplattform geworden, auf der Kanäle und Gruppen mit allen möglichen Ansichten existieren. Und eine Blockade einzelner Gruppen oder bestimmter politischer Richtungen auf „Telegram“ ist uns bislang nicht bekannt.

Einzelne Journalisten, auch ganze Redaktionen betreiben auf „Telegram“ ihre Kanäle und entwickeln sie dort als eigene Medien weiter. Vor dem 25. Februar haben bestimmte Kanäle auch finanzielle Einnahmen gehabt, durch Werbeplatzierungen – und wirtschaftliche Unabhängigkeit ist nun mal die Grundlage für politische Unabhängigkeit. Da jetzt aber bei sehr vielen Firmen die Werbe-Budgets wegbrechen, fehlen den Journalisten diese Einnahmen.

Pavel Durov hat Betreibern von „Telegram“-Kanälen zwar eine Monetarisierung ähnlich wie der auf „YouTube“ versprochen, abhängig von der Zahl der Abonnenten. Bisher haben wir aber keine Hinweise darauf, dass so eine Monetarisierung tatsächlich schon erfolgt.

Rein technisch gesehen: Könnte die russische Regierung „Telegram“ abschalten?

Technisch wäre es wohl möglich, allerdings hat es in der Praxis schon einmal nicht funktioniert. Es gab Blockade-Versuche im Jahr 2017, weil „Telegram“ den russischen Behörden keine Möglichkeit zur Entschlüsselung zur Verfügung stellen wollte. Doch diese Blockade ist nicht gelungen, auch weil „Telegram“ permanent IP-Adressen geändert hat. Zudem wurde deutlich, dass diese Blockade-Versuche auch die Funktion mehrerer anderer Web-Dienste behinderte. Seitdem sind aber fünf Jahre vergangen und die Regierung wird nun über bessere technische Möglichkeiten verfügen. Daher denke ich, dass neue Blockade-Versuche mehr Erfolg haben würden.

Es gab in den vergangen Jahren viele Anzeichen, dass die russische Regierung nach einem eigenen russischen Internet, einem „Runet“ strebt. Haben Sie diese Entwicklung der Isolation kommen sehen?

Angenommen, die Regierung hätte tatsächlich solche Pläne gehabt, das russische vom globalen Internet abzutrennen, dann waren diese Pläne bei weitem nicht so extrem wie das, was wir jetzt beobachten. Im Moment beschleunigt sich diese Isolation enorm – was aber auch daran liegt, dass westliche Firmen alle möglichen Dienste für russische Bürger abschalten. Es geschieht also nicht nur durch unsere, sondern auch durch die Regierungen westlicher Länder, die Russland isolieren wollen.

Ja, es gibt innerhalb der Regierung Gruppierungen, die ein „Runet“ entwickeln wollten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Interessengruppen aus dem IT-Bereich: In Russland arbeiten viele ausländische Firmen, genauso sind russische IT-Firmen auf dem globalen Markt aktiv. Diese Gruppen sehen den Weg hin zu einem „Runet“ kritisch und sie hätten sicher versucht, Einfluss zu nehmen auf den politischen Kurs.

Die Etablierung eines „Runet“ findet sich auch in ideologischen Schriften, wie zum Beispiel „Das Dritte Imperium“ von Michail Jurjew. Warum sind manche russischen Politiker offenbar davon überzeugt, dass ein abgetrenntes Internet Russland nicht schaden sondern nutzen würde?

Mir scheint, dass diese politischen Denker in einem Paralleluniversum leben. Sie hätten gerne so eine Welt und würden am liebsten auch alle 140 Millionen Einwohner Russlands dorthin mitnehmen. Aber es ist unwahrscheinlich, dass solche Fantasien ein gutes Ende nehmen. Die aktuellen Ereignisse zeigen ja, wie eng Russland mit dem Rest der Welt verbunden ist. Der Schaden, der dadurch entsteht, dass führende ausländische Unternehmen jetzt zeitweise oder für immer unser Land verlassen, ist riesig.

Menschen können plötzlich bestimmte Software nicht mehr nutzen, es gibt keinen technischen Support mehr, der Zugang zu Informationsquellen wird eingeschränkt, Unternehmen verlieren ihre Einnahmen, ihre Partner im Ausland, wissenschaftliche Austauschprogramme kommen zum Erliegen und so weiter. Die Unterbrechung der Internetverbindung zu Russland kann im Übrigen auch zu Problemen außerhalb Russlands führen, mit wirtschaftlichen Folgen für andere Länder.

Es fällt mir schwer, mich in solche Politiker hineinzuversetzen und zu verstehen, warum sie so eine Meinung vertreten und so ein anderes Weltbild haben. Um diese Gräben zu überwinden, benötigen wir als gemeinsame Basis Werte wie Wahrheit und Moral, menschliche Werte. Doch leider erleben wir im Moment, wie genau diese Werte zunehmend erodieren.

Wie lange würde Russland brauchen, um eine tatsächlich eigenständige IT-Landschaft aufzubauen?

Ein wichtiger Baustein für die Entwicklung der IT-Industrie ist natürlich die Ausrüstung, die Hardware. Ein Teil davon wird zwar in Russland hergestellt, aber für die Produktion werden sehr viele importierte Komponenten benötigt. Auch jenseits der aktuellen Krise ist der Mangel an Halbleitern ja schon ein großes Thema, das Herstellern Probleme bereitet.

Wenn Russland jetzt tatsächlich vom Weltmarkt abgeschnitten bleiben sollte, wird es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis alles auf Eigenproduktion umgestellt ist. Außerdem würde der Weggang von qualifiziertem Personal – zum Beispiel Ingenieure, Programmierer … – aufgrund nicht wettbewerbsfähiger Gehälter und sozialer Instabilität in Russland so eine Entwicklung sehr stark bremsen.

Die russische Gesellschaft scheint sich zunehmend zu spalten, in Befürworter von Putins Kurs und Gegner. Wie nehmen Sie diese Spaltung wahr?

Es ist so, dass der Großteil der Menschen, die heute die politischen Entscheidungen in Russland treffen, zu Generationen gehören, welche einen wesentlichen Teil ihres Lebens in der Sowjetunion verbracht haben. Aus dieser Zeit stammen ihre Wertvorstellungen, vermutlich auch bestimmte Ängste. Sie haben ein gewisses Unverständnis demgegenüber, wie sich die Welt in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat.

Auf der anderen Seite stehen unabhängige Medien und Firmen, deren Mitarbeiter um die 30 oder 40 sind. Diese arbeiten auf dem globalen Markt, sie sind international vernetzt. Dass wir in einer globalisierten Welt leben, ist ja offensichtlich, und alles, was in Russland produziert wird, hat auf die ein oder andere Weise mit dem Ausland zu tun, sei es aufgrund von Ersatzteilen, oder eingesetzter Software. Und genauso gibt es auch Firmen im Ausland, die von russischem Know-How profitieren.

Dass jetzt so viele Kooperationen ausgesetzt und Verträge gekündigt werden, ist ein großes Unglück, eine Katastrophe für sehr viele Menschen, die sich über viele Jahre zum Beispiel eine Firma aufgebaut haben.

Menschen in meinem Umfeld wollen natürlich weiterhin die Möglichkeit haben, in europäische Länder zu reisen. Die Generation, die nach der Sowjetunion groß geworden ist, hat eine ganz andere Gedankenwelt, ein Eiserner Vorhang kommt darin nicht vor. Wir sind gewohnt in einer freieren, globalen Welt zu Leben und wir wünschen uns, dass Russen auch weiterhin mit Europäern und Menschen aus der ganzen Welt befreundet und vernetzt sein können.

Zuletzt hat sich Arnold Schwarzenegger an die russische Bevölkerung gewandt und sie ganz bewusst als „Freunde“ angesprochen. Was halten Sie von so einer Ansprache?

Ich denke, dass solche Botschaften viel wichtiger sind und auch viel mehr bewirken, als das Abwandern von westlichen Firmen aus dem russischen Markt, das Abschalten bestimmter IT-Dienstleistungen, oder dass bestimmte Lebensmittel nicht mehr verfügbar sind. Denn Letzteres schwächt die russische Bevölkerung nur.

Den Normalbürgern, die überhaupt keine politischen Entscheidungen gefällt haben, die nicht verantwortlich sind für die aktuelle Situation, denen geht es jetzt ohnehin schon emotional und wirtschaftlich sehr schlecht. Wenn dann europäische Firmen demonstrativ die Tür zuschlagen, kommt das als Belastung noch hinzu.

Also: Ja, wenn Schwarzenegger oder andere in Russland geschätzte Leute so eine Botschaft senden, die die normale russische Bevölkerung moralisch unterstützt, halte ich das für sehr wichtig. Vielleicht kann es auch jene Menschen zum Nachdenken anregen, die den aktuellen Kurs der Regierung unterstützen.

Einen Kommentar schreiben

Mit dem Absenden stimmen Sie zu, dass Ihre Angaben gemäß unseren Datenschutzhinweisen gespeichert werden. Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.