Es ist ein kleiner, unspektakulärer Videoschnitt, der mir vermittelte, wie gut der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verstanden hat, dass dieser Krieg auch einer der Onlinekommunikation ist. Nicht nur ein Krieg „der Bilder“, das waren Kriege auch schon immer, sondern ein Krieg sozialmedialer Bilder, insbesondere auf einer Plattform wie TikTok, als neues Medium einer Zivilbevölkerung unter Beschuss. Ich möchte anhand von Selenskyjs Inszenierungstalent und seines Geschicks im Umgang mit Social Media deutlich machen, was sich bei der Vermittlung von Kriegsereignissen grundlegend verändert hat und inwiefern insbesondere die ukrainische Jugend einen neue Sprache findet bzw. finden muss, um diesen Krieg zu erzählen. Dafür müssen wir aber zurück zu diesem einen Schnitt.
Dieser Schnitt, den ich meine, ist so gut gesetzt, das man nicht umhin kommt, Selenskyjs Vergangenheit als Entertainer, Schauspielern und Komiker zur Erklärung heranzuziehen. Seiner Ansprache an die ukrainische Bevölkerung am letzten Dienstag, die unter anderem auf Facebook betrachtet werden kann, beginnt mit einem für seine Kommunikation inzwischen typisch gewordenen Selfie-Video in Instagram-Livestream-Ästhetik. Er filmt erst mit der Selfie-Kamera durch ein Fenster aus dem Regierungsgebäude in Kiew auf die Innenstadt, um deutlich zu machen, wo er sich gerade befindet – und noch wichtiger: dass er weiterhin in der Hauptstadt ist.
Dann dreht er sein Handy, um sich selbst zu zeigen, während er die Bevölkerung adressiert. Wir schauen ihm kurz dabei zu, wie er durch den Flur des Gebäudes Richtung Büro läuft, beziehungsweise: Er nimmt uns als Zuschauende in seinem Handy mit. Dieses Segment ist beispielhaft für seine bisherige Kommunikation: Er sitzt so gut wie nie, immer stehend, immer dynamisch, immer mitten im Kriegsgeschehen, in Funktionskleidung, wie ein embedded journalist im Auftrag der ukrainischen Bevölkerung.
Im Video begleiten wir ihn dabei, wie er an seinem Tisch Platz nimmt, seine politische Ansprache hat hier schon längst begonnen: „Wir pflegen zu sagen: Montag ist ein harter Tag. Es findet ein Krieg in diesem Land statt…“ Aus der Perspektive des Telefons sehen wir, wie er dieses auf seinem Tisch abstellt.
Und dann erfolgt eben dieser Umschnitt. Ein Cut auf eine professionelle Kamera, die ihn frontal von vorne filmt, ihn an seinem Tisch zeigt.
Der Übergang ist subtil. Er beendet in der Halbtotalen den Gedanken, den er in der nahen Einstellung, im Selfie-Video begonnen hatte. „… also ist jeder Tag Montag.“ Plötzlich sitzt er an seinem massiven Tisch vor uns, mit Schreibutensilien aus grünem Onyx und Gold, und Fahnen rechts und links hinter ihm. Seine Ansprache wirkt in dieser Ästhetik fast überpräsidial, umringt von Artefakten eines herrschaftlichen Habitus – Kerzenhalter, Fabergé-Eier, Sanduhr, alles smaragdgrün und gold glänzend opulent.
Zelenskiy with another video from his office in the heart of Kyiv.
Not many presidents would still be there and not in a bunker, on the 12th day of an invasion, with multiple intelligence reports of hit squads out to get him.
Im Schnitt vom Selfie zur Ansprache geschieht ein Rollenwechsel, vom Kämpfer zum Präsidenten. Aber durch den Schnitt wird plötzlich auch auffällig, weshalb die Kommunikation von Putin so bieder wirkt: Die Machtsymbole verleihen keine Autorität, sondern sind hässlich pompös, erscheinen ewig gestrig. Das Sitzen am Tisch strahlt nicht zwangsläufig präsidiale Stärke, sondern auch Status quo und Statik aus. Bei Putin, so war in den letzten Wochen zu sehen, werden übergroße Tische zum Schutzschild, das er seinem Volk misstrauisch entgegenstreckt.
Die Kolumne
Samira El Ouassil ist Zeitungswissenschaftlerin, verdient ihr Geld aber mit Schauspielerei und politischem Ghostwriting. Außerdem ist sie Vortragsreisende und macht, zusammen mit Friedemann Karig, den Podcast „Piratensender Powerplay“. Bei Übermedien schreibt sie seit 2018 jede Woche über Medien, Politik und Kommunikation.
Zugleich hat Selenskyj durch die Aneignung dieser Ästhetik, die wir von Putin kennen, ein Signal gesendet. Der Präsident der Ukraine kann die Kommunikationsmodi eines postsowjetischen Herrschers nicht nur adaptieren, ebenso Präsenz und Gravitas demonstrieren und mit ihm im Big-Boy-Club auf Augenhöhe sprechen; er nutzt diese Anordnung zudem besser. Man könnte sagen: Er führt Putin vor. Diese ästhetische Aneignung im gekonnten Übergang von einer Perspektive, der nahbaren, authentischen Handy-Einstellung, zur starr politischen, vom informell wirkenden Kommunikationsmodus zum ernsthaften, ist auf symbolischer Ebene vielleicht eine der bemerkenswertesten Waffen im aktuellen Kommunikationskrieg. Aus der geschickten formalen Flexibilität entsteht eine Widerständigkeit, die sich in eine Widerstandsfähigkeit verlängert.
Die Verzwergung des Gegners
Denn diese Handhabung der Formen beherrscht nicht nur der ehemalige Komiker, sondern offenbar auch die ukrainische Zivilbevölkerung; insbesondere junge ukrainische User:innen der sozialen Medien tun es. Sie nutzen und dekonstruieren Formen der Onlinekommunikation und der gewohnten Krisenkommunikation, was zu einem bemerkenswerten Ton führt: Er stellt die Handlungen Putins nicht nur bloß, sondern bringt im offensichtlichen Ridikülisieren seiner absurden Propaganda auch den Schmerz und Schrecken der Kriegssituation zu Tage. In der Vermengung der Formen wird gleichermaßen die Ernsthaftigkeit und die Absurdität deutlich – und der Gegner dabei verurteilt und verzwergt.
Der Ton vieler Kriegsvideos insbesondere auf TikTok ist – so würde ich das verallgemeinernd zusammenfassen – ein internettypisch existenziell-komischer; es handelt sich um eine milde Selbstironie in Anbetracht des Horror eines Krieges. Man könnte es auch als einen sardonischen Humor bezeichnen.
Zwischen all den Nachrichten und Postings, von den Reden des kampfesmutigen Präsidenten Selenskyj bis hin zur Familie, die im Bunker ausharrt, ist bei all dem Leid eine spezifische Farbe der Botschaften zu erkennen, diese antiautoritäre, tragikomische Aufgeräumtheit, mit welcher die autokratische Ideologie Putins zumindest auf symbolischer Ebene ausgehebelt wird.
Zugleich begreift die digitale Öffentlichkeit den Humor in Zeiten des Angriffs und die ironische Verarbeitung von kriegerischen Situationen beim Zuschauen richtigerweise als Tapferkeit, die nicht nur imponiert, sondern eine solidarisierende Wirkung entfaltet; eine Verbundenheit, die man mit schelmischen Underdogs entwickeln muss.
Ob es der Mann mit einer Zigarette im Mund ist, der mit einer lebensrettenden Lakonie eine Mine davon trägt oder eine jungen TikTokerin, die ironisch dokumentiert, wie sie von Sirenen geweckt wird; ob es ukrainische Kampfkatzenbilder sind oder aber Selenskyj der sich über das flimmernde Mikrophon in Putins Videomaterial lustig macht, indem er sein eigenes Mikro demonstrativ zur Seite drückt – mein Eindruck ist, dass wir hier eine neue Form von Kriegsrhetorik zu sehen bekommen. Oder jedenfalls eine medienspezifische Rhetorik in Zeiten des Krieges zwischen Bildern von Sonnenblumen und Videoanleitung von Molotowcocktails.
Absurdität, Parodie, Übertreibung
Dieser sehr spezifische Humor sozialer Medien, der ganz selbstverständlich postmodern mit formalen wie visuellen Referenzen arbeitet, mit Remixen und Montagen, mit Absurdität, Parodie und Übertreibung, hat in seinem anarchistischen Moment einen antiautoritären Charakter. Seine Wirkung ist umso größer, wenn der übermächtig wirkende Gegner, ein einsamer, von Ideologie zerfressener Tyrann ist, der die Kunst-, Presse- und Meinungsfreiheit verachtet und Zensur als Mittel seiner Herrschaft benutzt.
Humor stellt sich dem Herrschaftsanspruch entgegen und entmachtet ihn durch Auslachen. Autokraten, Despoten und Diktatoren haben sich immer schon die Aufgabe gestellt, beständig die eigene Überlegenheit zu behaupten, und sie haben die Macht, die Wahrheit nach ihren Vorstellungen umzuformen. Die größte Subversion dessen ist es, diese Behauptung durch Komik ins Absurde zu überführen, insbesondere in solch einer Bedrohungslage. Wenn es immer schon die Aufgabe von Monstern ist, Angst und Horror zu verbreiten, dann ist der stärkste Widerstand dagegen solch ein Lächerlichmachen.
Die Wahnhaftigkeit sichtbar machen
Man muss es nochmals festhalten: Der Krieg basiert auf der Lüge, die von einem jüdischen Präsidenten demokratisch regierte Ukraine zu „entnazifizieren“, und wird mit einer weiteren Lüge begründet, die der Ukraine keine staatliche Souveränität und keine eigene, von Russland unabhängige Geschichte zugesteht. Es sind zwei Märchen, die Putin erzählt, denen man schwer mit einer einfachen antipropagandistischen Erzählung entgegengewirken kann – weil sein Kriegsbestreben einfach so gaga ist. Die gegenwärtige ukrainische Kommunikation, des Präsidenten wie vieler Menschen in sozialen Medien, macht die Wahnhaftigkeit des Kreml noch sichtbarer.
Zumindest in der sozialmedialen Sphäre, die wir hier in Deutschland wahrnehmen können, zerbröckeln Putins Märchen. Angelehnt an die Aussagen des CNN-Kommentators Michael Smerconish könnte man sagen, die ukrainische Bevölkerung kommuniziert aus Liebe zu ihrer Bevölkerung und ihrem Land, die russische Regierung aus Angst vor der Niederlage und dem Gesichtsverlust. Die sehr kalkulierte Ästhetik Putins widerspricht allem, was improvisierte Online-Inhalte überzeugend macht: Sie ist eine nach innen gerichtete Ansprache, eine der Statik und des Stillstandes. Putin hat natürlich nicht die Absicht, die internationale Öffentlichkeit zu überzeugen, sondern spricht zu seinem Volk. Seine gesamte Strategie zielt darauf ab, die innere Ordnung seines Landes aufrechtzuerhalten und die öffentliche Meinung zu steuern. Die undynamischen und monomedialen TV-Reden des Staatschefs entsprechen allein dem Vorhaben, die Invasion gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Er muss dabei dem Westen nicht gefallen.
Die Verzweiflung in Moskau muss groß sein – so hofft man. Die Weigerung der Ukraine sowohl militärisch also auch kommunikativ zu kapitulieren, führt die russische Regierung einmal am Ring durch die Manege dieses Propagandakrieges. Die Luftangriffe auf den Fernsehturm durch die russische Armee veranschaulichen dies. Putin glaubt, dass er vor Ort davon profitiert, wenn er den Ukrainer:innen Informationen vorenthält. Aber er unterschätzt, wieviel Kraft in der Viralität eines memefizierte Krieges steckt und in der Mobilisierung durch ein digitales Zugehörigkeitsgefühl.
Der „Guardian“ und der „New Yorker” schreiben sogar vom ersten TikTok-Krieg. Damit liegen sie sicherlich nicht falsch, aber ich würde sagen – man verzeihe mir hier bitte meinen tumben Eurozentrismus –, es ist der erste europäische Krieg, bei dem wir via Social Media nicht nur Zeuge sind, sondern digital involvierte Zivilisten, in dem Sinne, dass unser Teil- und Likeverhalten zu diesem Informationskrieg beiträgt und die Algoritmen zu Gunsten einer oder anderen Seite beeinflusst.
Gelegentlich liest man von Gedankenexperimenten, wie wohl einer der Weltkriege ausgegangen wäre, hätte es damals schon soziale Medien gegeben; gelegentlich stößt man auch auf mehr oder weniger gelungene Umsetzungen dieser Idee. Nun müssen wir dies nicht mehr simulieren. Wir sind Zeugen eines europäischen Angriffskriegs, der sich in Fragmenten vor unseren Augen abspielt und medial neu formiert.
2 Kommentare
Bis dato kannte ich das Wort „ridikül“ im Deutschen gar nicht. Wieder etwas gelernt.
Prinzipiell stimme ich der These zu, dass einerseits durch den nicht provozierten Überfall Rußlands und andererseits durch die geschickte ukrainische Darstellung Selenskyj als Präsidenten in gewisser Weise eine „[…]eine solidarisierende Wirkung entfaltet; eine Verbundenheit, die man mit schelmischen Underdogs entwickeln muss.[…]“.
Allerdings sollte eine solche Solidarisierung nach meinem Dafürhalten nicht soweit gehen, dass man in einfache Schwarz-Weiß-Schemata verfällt. Diese Gefahr sehe ich, auch vor dem Hintergrund, dass bspw. Deutsche mit russischen Wurzeln schon jetzt teilweise diskriminiert werden. Wichtig ist, dass immer wieder herausgestellt wird, dass der russische Überfall eine Entscheidung Putins und seiner Clique war und ist und nicht „die Russen“.
Das ist wirklich eine der hellsichtigsten Perspektiven, die ich bisher zum Geschehen gelesen habe, sie kann einiges erklären.
Vielen Dank dafür!
Bis dato kannte ich das Wort „ridikül“ im Deutschen gar nicht. Wieder etwas gelernt.
Prinzipiell stimme ich der These zu, dass einerseits durch den nicht provozierten Überfall Rußlands und andererseits durch die geschickte ukrainische Darstellung Selenskyj als Präsidenten in gewisser Weise eine „[…]eine solidarisierende Wirkung entfaltet; eine Verbundenheit, die man mit schelmischen Underdogs entwickeln muss.[…]“.
Allerdings sollte eine solche Solidarisierung nach meinem Dafürhalten nicht soweit gehen, dass man in einfache Schwarz-Weiß-Schemata verfällt. Diese Gefahr sehe ich, auch vor dem Hintergrund, dass bspw. Deutsche mit russischen Wurzeln schon jetzt teilweise diskriminiert werden. Wichtig ist, dass immer wieder herausgestellt wird, dass der russische Überfall eine Entscheidung Putins und seiner Clique war und ist und nicht „die Russen“.
Das ist wirklich eine der hellsichtigsten Perspektiven, die ich bisher zum Geschehen gelesen habe, sie kann einiges erklären.
Vielen Dank dafür!