Blinde Flecken

Das eigensinnige Wissenschaftsverständnis von „Quarks“

Unter der Marke „Quarks“ betreibt der WDR sowohl wöchentliche Fernseh- und Radiosendungen als auch diverse reichweitenstarke Social-Media-Accounts. Leider bleibt die Wissenschaftlichkeit insbesondere bei Letzteren zum Teil auf der Strecke.


Kurz vor Weihnachten veröffentlichte „Quarks“ auf Instagram, Facebook und Twitter ein Sharepic zum weiteren Verlauf der Corona-Inzidenz, basierend auf einer Modellierung des Mathematik-Professors Kristan Schneider von der Hochschule Mittweida:

Diesem Modell folgend könnten ohne Lockdown bis Mitte Februar ca. 750.000 Neuansteckungen pro Tag erreicht werden. Auch ausgerechnet wurden zwei Szenarien mit Lockdown, einmal vor und einmal nach Weihnachten. Damit reduzierten sich im Modell die neuen Fälle auf ca. 700.000 bzw. 650.000 pro Tag im Sieben-Tages-Durchschnitt.

„Quarks“ überschrieb die Grafik mit: „Darum brauchen wir schnell einen Lockdown“.

Zahlreiche kritische Kommentare unter den Posts bemängelten, dass die Grafik das reale Infektionsgeschehen zum Zeitpunkt der Publikation gar nicht richtig abbilde. So ging die Modellierung an Weihnachten von ca. 86.000 Neuinfektionen pro Tag im Sieben-Tages-Durcbhschnitt aus. Laut Robert-Koch-Institut (RKI) waren es allerdings in der Woche vor dem 21.12., dem Tag Veröffentlichung, nur knapp 39.000 neue Fälle pro Tag.

Begründet wurde dies mit einer ins Modell eingerechneten Dunkelziffer von 40 Prozent. Das wurde allerdings nicht im Sharepic selbst erläutert, sondern lediglich in den Begleittexten dazu.

Doch selbst mit einer 40-prozentigen Dunkelziffer wird zunächst nicht klar, wie man von 39.000 auf 86.000 kommt. Mit der Kritik auf Twitter und anderswo konfrontiert, reagierte der WDR erst nach fünf Tagen am 2. Weihnachtsfeiertag und erläuterte das Modell folgendermaßen:

Schneider gehe von 45.000 gemeldeten Neuinfektionen pro Tag aus (real zum Zeitpunkt der Publikation wie gesagt: 39.000). Zudem käme es aufgrund der Umstellung von 3G zu 2G+ zu einer vermehrten Testung Geimpfter, was die Zahlen verzerre. Daher müssten zur realen Inzidenz noch einmal 5.000-7.000 Fälle hinzugerechnet werden. So kommt man dann auf 52.000 Neuinfektionen, zu denen man eine Dunkelziffer von 40 Prozent addiert und auf 86.000 Infektionen kommt, die das Modell ausweist. Der WDR räumte immerhin ein, es sei „ungünstig“ gewesen, dass die Dunkelziffer nicht auf der Grafik ausgewiesen worden sei.

Doch damit riss die Kritik nicht ab: So kritisierte der Datenwissenschaftler Daniel Haake, trotz der Dunkelziffer sei die Grafik falsch, weil die Zahlen erst im Dezember fielen, während dies real bereits seit dem 24. November der Fall gewesen sei. Der Rückgang sei zudem größer ausgefallen als in der Quarks-Grafik.

Modellierungen zuletzt immer zu hoch

Problematisch erscheint zudem, dass Schneiders Modellierungen in der Vergangenheit deutlich zu hoch ausfielen: So hatte er am 25. November im ZDF die Delta-Welle (noch ohne Omikron) modelliert – und für Ende Dezember 200.000 Fälle pro Tag vorhergesagt, wenn es nicht zu Impfpflicht, Schulschließungen und Lockdown komme.

Die real gemeldete RKI-Inzidenz in der letzten aussagekräftigen Woche vor Weihnachten (weil die Meldungen über die Feiertage verspätet erfolgen) betrug demgegenüber gemittelt 36.000 Neuinfektionen pro Tag. Selbst wenn man von Schneiders 86.000 Fällen ausgeht, die er nun im neuen Quarks-Modell annimmt, fällt seine eigene, nur vier Wochen alte Modellierung mehr als doppelt so hoch aus.

Im Juli war Schneider sogar von bis zu 1,2 Millionen täglichen Neuinfektionen im Dezember ausgegangen, selbst mit einem „Lockdown Light“ ab Oktober (den es bekanntlich nicht gab) berechnete Schneider für den Jahreswechsel um die 400.000 neue Fälle pro Tag – allein mit Delta. Weder Schneider selbst, noch diverse Medien hindert dies allerdings daran, immer wieder neue Berechnungen zu publizieren – ohne die Abweichungen der Vergangenheit intensiv zu diskutieren.

Bei „Quarks“ steht als Disclaimer lediglich, „leichte Abweichungen“ von der Realität seien möglich. Doch in Wirklichkeit lagen Modell und Realität im Nachhinein selbst unter Einrechnung aller Verzerrungen und Dunkelziffern sehr weit auseinander.

Paternalistischer Sound statt wissenschaftlicher Evidenz

Völlig unklar bleibt insgesamt, warum ein sofortiger Lockdown „schnell“ notwendig sei, wie „Quarks“ titelt, wenn er selbst laut Schneiders Modell gerade einmal gut 15 Prozent weniger Fälle hervorriefe.

Der für ein Wissenschaftsmagazin merkwürdig appellativ-fordernde Tonfall ist in den Social-Media-Auftritten von „Quarks“ beim Thema Corona allerdings üblich: Insbesondere, wenn es um härtere Maßnahmen und Lockdowns geht, entwickelt die Redaktion einen Hang zur Wertung jenseits unmittelbarer wissenschaftlicher Evidenz.

So machte man am 4. März 2021 ein Sharepic, in dem sich ein Emoji aufgrund bevorstehender Lockerungen an die Stirn schlägt:

Am 23. März titelt die Redaktion in paternalistischem Sound „Darum ist es gut, auf die Wissenschaft zu hören“ und illustriert dazu eine Grafik, wann die Politik ihrer Auffassung nach „streng“ mit Lockdowns reagiert habe und wann angeblich „streng durchgegriffen“ hätte werden müssen, dieses aber nicht erfolgte. Suggeriert wurde erneut, dass härtere Maßnahmen statt Lockerungen notwendig seien. Wer „die Wissenschaft“ genau sein soll, wird dagegen gar nicht erst benannt:

Am 7. April war die Redaktion dann der Auffassung, selbst ein vierwöchiger Lockdown würde nur noch „wenig“ bringen, um eine Überlastung der Krankenhäuser zu vermeiden. Die Kapazitäten würden laut RKI-Modellierung im Sommer überlastet:

Am 12. April prognostizierte man erneut „noch vollere Intensivstationen“:

Bekanntlich war dies der Zeitpunkt, an dem die Zahlen (mutmaßlich vor allem saisonal bedingt) stark zu sinken begannen. Dass keines der zuvor wochenlang ausgemalten Sommer-Horrorszenarien eintrat, ignorierte die „Quarks“-Redaktion trotz zahlreicher derartiger Nachfragen in den Kommentaren ihrer Profile geflissentlich. Nach knapp vier Wochen Prognose-Pause wartete die Redaktion stattdessen am 8. Mai mit der nächsten Warnung auf: Unter der Überschrift „Warum wir Lockerungen nicht vom Gefühl abhängig machen sollten“ räumte man ein, dass die Zahlen sänken, aber „Freiheit“ warte erst bei einer Inzidenz unter 50:

Wie oft kann „die Wissenschaft“ Feuer rufen?

Ein gutes halbes Jahr später ist man nun wieder beim Teilen von Modellierungen angekommen, die in Lockdown-Forderungen münden. Dient diese Social-Media-Strategie wirklich der Vermittlung des Forschungsstandes zur Pandemie? Oder spiegelt sie nur die Infektionswellen und die entsprechende Lockdown-Konjunktur eines Teils der politischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit? Vielfach hat man den Eindruck, es handelt sich um die aus einer Vielzahl wissenschaftlicher Stimmen herausgepickte Meinung der Redaktion, die als diejenige „der“ gesamten Wissenschaft präsentiert wird.

Die eigenen blinden Flecke, die in der Folge der Rezeption dann häufig auch „der Wissenschaft“ zugeschrieben werden, werden dabei kaum bis gar nicht adressiert: Weder finden sich Social-Media-Posts, die diskutieren, wie und warum man zum Teil weit daneben lag, noch werden wissenschaftliche Studien und Modelle zur Saisonalität (die es durchaus gibt) ähnlich prominent verbreitet wie Inzidenz- und Lockdown-Modellierungen.

Dass das stetige „Feuer!“-Rufen (ohne zu klären, ob, wann und warum es wirklich gebrannt hat oder nicht) seinerseits Wissenschaftsskepsis hervorrufen könnte, scheint „Quarks“ nicht in den Sinn zu kommen.

Nachtrag, 6. Januar. Der WDR hat in einer Stellungnahme eingeräumt, dass der Beitrag mit den Corona-Modellierungen vom 21. Dezember „in der Tat nicht vollständig unseren Qualitätsansprüchen genügte“.

6 Kommentare

  1. > Dass das stetige „Feuer!“-Rufen (ohne zu klären, ob, wann und warum es wirklich gebrannt hat oder nicht) seinerseits Wissenschaftsskepsis hervorrufen könnte, scheint „Quarks“ nicht in den Sinn zu kommen.

    Es geht ja nicht nur um „Wissenschaftsskepsis“; das ist mMn eher ein Kollateralschaden. Es geht für mich in erster Linie um die eigene Glaubwürdigkeit des WDR. Es ist wirklich Besorgnis erregend, dass man in den Redaktionen nicht erkennt, dass man sich heutzutage weder so eine schlampige (oder im schlimmeren Fall vorsätzlich irreführende) Arbeitsweise noch das Ignorieren von sachlicher Kritik erlauben kann. Das Vertrauen in die Medien sinkt und sinkt, aber die Verantwortlichen steuern weiter mit Volldampf auf den Eisberg zu. Wo führt das hin?

  2. Erst einmal vielen Dank für diesen Bericht. Quarks betreibt hier keinen Wissenschaftsjournalismus, sondern wird zum Verlautbarungsorgan einer Politik, die harte Lockdowns fordert. Wissenschaftsjournalismus müsste zum einen auch andere wissenschaftliche Stimmen zur Kenntnis nehmen, die Frage erörtern, warum manche Prognosen nicht eintreffen, und wie diese Simulationen überhaupt methodisch zu Stande kommen. Sich auf der Basis eines Wissenschaftlers bzw. sehr ausgewählter Quellen so einseitig politisch zu äußern, hat mit Journalismus nichts zu tun – das sind ja dann eher Kommentare, die eigentlich als solche zu kennzeichnen wäre. Allerdings ist hier Quarks in einer Reihe weiterer Formate, die ähnlich einseitig und unreflektiert solche Grafiken posten: Monitor (ebenfalls WDR) hatte eine sehr einseitige Grafik zum designierten – nicht genehmen – MdB-Klimaausschussvorsitzenden Klaus Ernst (Die Linke) gepostet. Hier würde ich mir erwarten, dass zunächst einmal berichtet wird, wie Bundestagsausschüsse arbeiten, wie sie sich zusammensetzen und welche Rolle ein Vorsitzender überhaupt spielt… mit solchen stark vereinfachenden Aussagen ist der ÖRR keinen Deut besser als die Medien, von denen er sich immer so gerne abheben will. Vertrauen in die Medien stärkt das kein bisschen.

  3. Vielleicht wäre es angebracht, in so einem Verriss einer Redaktion auch andere Redaktionen als positive Gegenbeispiele einzubringen?

    Insbesondere wenn man feststellt: „Vielfach hat man den Eindruck, es handelt sich um die aus einer Vielzahl wissenschaftlicher Stimmen herausgepickte Meinung der Redaktion, die als diejenige „der“ gesamten Wissenschaft präsentiert wird.“ – dann kommen schnell Querdenker an und nehmen das wortwörtlich als die Meinung der Wissenschaft. Seht her, wie die Wissenschaftler daneben lagen und wie die Medien das befeuert haben! Da wundert mich der Pingback auch nicht.

    Hier wäre eine Einordnung von Quarks in die „Vielzahl wissenschaftlicher Stimmen“ angebracht.

  4. Danke für den Artikel! Ich finde es wichtig, dass gerade wir, die wir für uns in Anspruch nehmen, auf der Seite der Wissenschaft und der Evidenz zu stehen, nicht nur die Schwurbler kritisieren, sondern auch die Doomsday-Rufer.

  5. Stimmt es wirklich, dass Ihr der Redaktion vor der Veröffentlichung dieses Artikels keine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben habt? Guter Stil?

  6. Das Treiben der Quarks-Redaktion hat weder mit Wissenschaft zu tun, noch mit Journalismus. Erst recht handelt es sich nicht um Wissenschaftsjournalismus. Vielmehr ist diese Art des politischen Aktivismus wissenschaftsfeindlich und -schädlich, weil eine politische Agenda als Konsequenz wissenschaftlicher Erkenntnisse oder gar „wissenschaftlich geboten“ propagiert und damit Wissenschaft letztlich desavouiert wird. Das schadet der Akzeptanz von Wissenschaften, weil jedenfalls Teile des Publikums die Unwissenschaftlichkeit des Quarks-Quarks mangels Kenntnis von Funktionsbedingungen und -weisen der Wissenschaft kaum werden erkennen können.

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