Der Deutsche Presserat hat bekannt gegeben, dass er nach vielen aktuellen Beschwerden ein Verfahren gegen „Bild“ eingeleitet hat – und das klingt so langwierig und bürokratisch, wie es nun auch sein wird.
Konkret geht es um einen Artikel, für den „Bild“ öffentlich bereits heftig kritisiert worden ist. Nachdem die Politik Anfang Dezember härtere Maßnahmen im Kampf gegen Corona beschlossen hatte, stellte „Bild“ drei Wissenschaftler:innen unter der Überschrift „Die Lockdown-Macher“ an den medialen Pranger. Das „Experten-Trio“, hieß es, schenke „uns Frust zum Fest“.
Der Artikel erschien online und in der gedruckten Ausgabe, in der ihn „Bild“ mit zynisch betexteten Weihnachtsgeschenk-Päckchen dekorierte, zum Beispiel mit der Aufschrift „Kino-Verbot für Ungeimpfte“ – und das ausgerechnet in einem ohnehin angespannten gesellschaftlichen Klima, an einem Tag, an dem „Bild“ auch darüber berichtete, dass ein „Fackel-Mob“ vor das Haus der sächsischen Sozialministerin gezogen war.
Unter anderem der neue Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kritisierte diese Form der „Bild“-Stimmungsmache:
„Alle Entscheidungen zum Beispiel gegen Ungeimpfte wurden ausschließlich von der Politik getroffen. Es genügt, dass wir 24/7 mit Personenschutz unterwegs sind. Die WissenschaftlerInnen dürfen nicht den gewaltbereiten Querdenkern als Zielscheiben angeboten werden.“
Auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen kritisierte „Bild“ für die Schlagzeile, nannte sie „diffamierend“ und schrieb, so etwas könne leicht zu einem Meinungsklima beitragen, „das an anderer Stelle bereits dazu geführt hat, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich physischer oder psychischer Gewalt ausgesetzt sahen oder mit ihr bedroht wurden“.
Selbst „Bild“-Mitarbeiterinnen scheinen das so zu sehen. Die Schlagzeile mitsamt ihrer ganzen personalisierten Aufmachung sorgte auch im eigenen Haus für Empörung. Laut „Medieninsider“ schrieb ein Redaktionsmitglied im internen Slack-Kanal:
„Vielleicht noch ein Fadenkreuz auf den Teaser?!?“
Ein anderer Mitarbeiter soll geschrieben haben, „Bild“ liefere mit solchen Artikeln Vorlagen für Telegram-Gruppen, über die ja gerade ebenfalls viel diskutiert wird. Der Mitarbeiter soll auch darauf hingewiesen haben, dass Artikel über „Lockdown-Macher“ zu so etwas führen könnten wie dem „Fackel-Mob“ in Sachsen.
Wissenschaftler:innen beschweren sich
Den Presserat haben seither nach eigenen Angaben „94 Beschwerden von mehreren Wissenschaftlern und der Berliner Humboldt-Universität“ (HU) erreicht. Die HU hatte den Bericht ebenfalls öffentlich kritisiert und diese Art der journalistischen Darstellung in Pandemiezeiten als „gefährlich und verantwortungslos“ bezeichnet.
Im Mittelpunkt des Verfahrens stehe nun „die Frage, ob die Redaktion das Wahrhaftigkeitsgebot nach Ziffer 1 und ihre Sorgfaltspflicht nach Ziffer 2 des Pressekodex verletzt hat“, wird der Sprecher des Presserats zitiert.
Aber wann will der Presserat darüber entscheiden, ob „Bild“ dafür gerügt wird? Noch diesen Monat? Gleich Anfang nächsten Jahres? Nö. In seiner nächsten Sitzung am 24. März 2022, also in einem Vierteljahr.
Offenbar ist es dem Organ der freiwilligen Selbstkontrolle nicht möglich, einen fragwürdigen Artikel wie diesen, der öffentlich bereits breit diskutiert wurde und eine aktuelle gesellschaftliche Debatte betrifft, zum Anlass eines beschleunigten Verfahrens zu nehmen, um schnell zu einer Entscheidung zu kommen. Klar, jedes Medium bekommt vom Presserat die Möglichkeit, zur Sache Stellung zu nehmen. Aber das könnte ja schnell eingefordert werden. Bei jedem Unterlassungsbegehren, das Anwälte an Medien stellen, geht es schneller. Aber der Presserat lässt sich Zeit, erst mal ist jetzt Weihnachten.
Demonstrative Missachtung des Gremiums
Andererseits ist es ja auch naiv, anzunehmen, dass ein schnelles Verfahren etwas brächte. Oder dass ein Presserats-Verfahren überhaupt viel bringt, gerade wenn es um „Bild“ geht. Der Presserat ist ein zahnloser Tiger, dem sich „Bild“ zwar unterworfen hat, aber offenbar mit schallendem Gelächter.
Spricht der Presserat eine Rüge aus, sind Medien, die den Pressekodex anerkannt haben, verpflichtet, diese Rüge zu veröffentlichen. „Bild“ aber zögert das nach Belieben hinaus. Dieses Jahr im Oktober etwa druckte das Blatt, gut versteckt, gleich fünf Rügen ab, die der Presserat im Vorjahr (!) ausgesprochen hatte. Zuvor waren mehr als zwei Jahre lang gar keine Rügen in „Bild“ erschienen – eine demonstrative Missachtung des Gremiums.
Sollte es eine Rüge geben im aktuellen Fall um die vermeintlichen „Lockdown-Macher“, ist mit einem Abdruck also wahrscheinlich so Mitte 2023 zu rechnen. Wenn es gut läuft. Und selbst so eine Rüge ist ja immer noch ein zahmes Instrument, auch angesichts der Sanktionsmöglichkeiten, die neuerdings Landesmedienanstalten haben, etwa gegenüber Bloggern.
Auch wann die sechs Rügen im Blatt erscheinen, die der Presserat am vergangenen Freitag gegenüber „Bild“ ausgesprochen hat, ist demnach ungewiss. Sie belegen abermals eindrucksvoll, wie „Bild“ arbeitet. Deshalb dokumentieren wir sie hier:
… „Bild“ Eltern eines vermissten Mädchens abbildete, die im Verdacht stünden, dieses zu misshandeln.
… „Bild“ Schleichwerbung für eine Firma des früheren Fußballers Andreas Brehme gemacht habe.
… die Redaktion einem Kindermörder in einem Interview eine öffentliche Bühne gab und auch ein Foto veröffentlichte, das den Täter und eines seiner Opfer kurz nach der Tat zeigt.
… die Redaktion dem Rapper Sido ein Schimpfwort zugeschrieben hatte, die Äußerung aber auf Nachfrage nicht belegen konnte, „wie die Redaktion einräumte“. Außerdem hatte „Bild“ die Tonspur eines Videos nachträglich manipuliert.
… die Redaktion einen einzelnen Richter des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) für eine Entscheidung verantwortlich machte, nachdem sich ein Senat des BVerfG mit der Erhöhung des Rundfunkbeitrags befasst hatte. Ein Senat besteht aus mehreren Richter:innen. Die Überschrift, die – ähnlich wie bei den Wissenschaftler:innen – in Kombination mit einem Foto des Richters erschien, lautete damals: „Von diesem Richter werden wir zur Kasse GEZwungen“.
… die Redaktion, ohne Einwilligung der Familien, Fotos von Jugendlichen veröffentlichte, die bei einem Autounfall verstorben waren. Online erschienen die Fotos zunächst unverpixelt; in der gedruckten Zeitung waren sie zwar verfremdet, die Personen laut Presserat aber trotzdem identifizierbar.
Nachtrag, 25.3.2022.Der Deutsche Presserat hat festgestellt, dass der Artikel „Die Lockdown-Macher“ nicht gegen den Pressekodex verstößt. Der Einfluss der Wissenschaftler auf politische Entscheidungen über Corona-Maßnahmen lasse sich belegen. Außerdem sei die Bezeichnung „Die Lockdown-Macher“ „eine zulässige Zuspitzung, die pointiert und streitbar sein mag, jedoch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist“.
Der Autor
Boris Rosenkranz ist Gründer von Übermedien. Er hat an der Ruhr-Universität Bochum studiert, war „taz“-Redakteur und Volontär beim Norddeutschen Rundfunk. Anschließend arbeitete er dort für verschiedene Redaktionen, insbesondere für das Medienmagazin „Zapp“. Seit einigen Jahren ist er freier Autor des NDR-Satiremagazins „Extra 3“.
3 Kommentare
Die Kritik an BILD ist völlig berechtigt – aber dem Presserat sozusagen Schlafmützigkeit zu unterstellen, finde ich unfair. Die Beschwerdeausschüsse des Presserats tagen grundsätzlich nur viermal pro Jahr und können nicht wegen jeder gesellschaftlich relevanten Beschwerde eine Sondersitzung einberufen.
Als ehemaliges Presseratsmitglied weiß ich, wie groß der Aufwand ist, der für jede Sitzung betrieben werden muss: Die hauptamtliche Geschäftsstelle muss der kritisierten Zeitungsredaktion Gelegenheit zur Stellungnahme geben und den Schriftwechsel anschließend den Beschwerdeausschuss-Mitgliedern zur Kenntnis geben. Hotelbetten und Fahrkarten für den Besuch der Sitzungen in Berlin müssen gebucht und das Catering für die Sitzungstage organisiert werden. Und bei alledem ist zu bedenken, dass die Beschwerdeausschuss-Mitglieder ehrenamtlich tätig sind. Sie müssen neben ihrer eigentlichen Arbeit vor jeder Sitzung viele hundert Seiten Beschwerdeakten studieren und extra nach Berlin anreisen, um dort stundenlang wie am Fließband über Dutzende von Beschwerden zu entscheiden.
Natürlich könnte der Presserat darüber nachdenken, in eiligen, gesellschaftlich relevanten Fällen Sondersitzungen nur online abzuhalten. Aber wo ist die Grenze zwischen Routine- und Sonderfällen? Und wie oft kann man den Ehrenamtlichen die Teilnahme an Sondersitzungen zumuten? Alles nicht so einfach – und auf jeden Fall kein Grund für undifferenziertes Presserat-Bashing!
Eckhard Stengel, Presseratsmitglied von 2004 bis 2015
Mehr Prognose wagen: Die Beschwerden führen zu nichts, denn der Artikel ist von der Pressefreiheit gedeckt.
1. Die behandelten Protagonisten suchen selbst die Öffentlichkeit, geben Interviews, treten im Fernsehen auf und kritisieren die Politik. Auf dieser Grundlage müssen sie sich in höheren Maße Kritik -ob sachlich gerechtfertigt oder nicht – gefallen lassen, als dies bei beliebigen Bürgern der Fall ist.
2. Die Wissenschafler*innen erheben auch politische Forderungen, die sie als sachverständig unterfüttert und geboten deklarieren. Zugleich weisen diejenigen, die die Bild-Schlagzeile reflexartig beanstanden, offenbar eine Schnittmenge zu denjenigen auf, die fordern, dass die Politik die von Wissenschaftler*innen empfohlenen Maßnahmen (nur noch) umzusetzen hat. Bei der Schlagzeile handelt es sich daher um eine Zuspitzung, die aber einen Realitätsbezug aufweist.
3. Auch Wissenschaft, aus der politische Forderungen abgeleitet werden, ist „frei“ (Art. 5 Abs. 3 GG). Auch hier gilt aber: Forschungswie auch Meinungsfreiheit gewährleistet keine Kritikfreiheit.
Da der Presserat keine wirksamen Instrumente zur Verfügung hat, ist die Kritik an ihm doch eigentlich eine Nebelkerze. Das ist so, als würde man auf dem Datenschutzbeauftragten rumhacken, weil Facebook die User-Daten missbraucht. Der angemessene Adressat von Kritik sollte – neben der Bild – die politische Instanz sein, die tatsächlich wirksam etwas unternehmen könnte.
Wer das ist oder ob es dafür einer Gesetzesänderung bedarf, dafür fehlt es mir aber an juristischer Kompetenz.
Die Kritik an BILD ist völlig berechtigt – aber dem Presserat sozusagen Schlafmützigkeit zu unterstellen, finde ich unfair. Die Beschwerdeausschüsse des Presserats tagen grundsätzlich nur viermal pro Jahr und können nicht wegen jeder gesellschaftlich relevanten Beschwerde eine Sondersitzung einberufen.
Als ehemaliges Presseratsmitglied weiß ich, wie groß der Aufwand ist, der für jede Sitzung betrieben werden muss: Die hauptamtliche Geschäftsstelle muss der kritisierten Zeitungsredaktion Gelegenheit zur Stellungnahme geben und den Schriftwechsel anschließend den Beschwerdeausschuss-Mitgliedern zur Kenntnis geben. Hotelbetten und Fahrkarten für den Besuch der Sitzungen in Berlin müssen gebucht und das Catering für die Sitzungstage organisiert werden. Und bei alledem ist zu bedenken, dass die Beschwerdeausschuss-Mitglieder ehrenamtlich tätig sind. Sie müssen neben ihrer eigentlichen Arbeit vor jeder Sitzung viele hundert Seiten Beschwerdeakten studieren und extra nach Berlin anreisen, um dort stundenlang wie am Fließband über Dutzende von Beschwerden zu entscheiden.
Natürlich könnte der Presserat darüber nachdenken, in eiligen, gesellschaftlich relevanten Fällen Sondersitzungen nur online abzuhalten. Aber wo ist die Grenze zwischen Routine- und Sonderfällen? Und wie oft kann man den Ehrenamtlichen die Teilnahme an Sondersitzungen zumuten? Alles nicht so einfach – und auf jeden Fall kein Grund für undifferenziertes Presserat-Bashing!
Eckhard Stengel, Presseratsmitglied von 2004 bis 2015
Mehr Prognose wagen: Die Beschwerden führen zu nichts, denn der Artikel ist von der Pressefreiheit gedeckt.
1. Die behandelten Protagonisten suchen selbst die Öffentlichkeit, geben Interviews, treten im Fernsehen auf und kritisieren die Politik. Auf dieser Grundlage müssen sie sich in höheren Maße Kritik -ob sachlich gerechtfertigt oder nicht – gefallen lassen, als dies bei beliebigen Bürgern der Fall ist.
2. Die Wissenschafler*innen erheben auch politische Forderungen, die sie als sachverständig unterfüttert und geboten deklarieren. Zugleich weisen diejenigen, die die Bild-Schlagzeile reflexartig beanstanden, offenbar eine Schnittmenge zu denjenigen auf, die fordern, dass die Politik die von Wissenschaftler*innen empfohlenen Maßnahmen (nur noch) umzusetzen hat. Bei der Schlagzeile handelt es sich daher um eine Zuspitzung, die aber einen Realitätsbezug aufweist.
3. Auch Wissenschaft, aus der politische Forderungen abgeleitet werden, ist „frei“ (Art. 5 Abs. 3 GG). Auch hier gilt aber: Forschungswie auch Meinungsfreiheit gewährleistet keine Kritikfreiheit.
Da der Presserat keine wirksamen Instrumente zur Verfügung hat, ist die Kritik an ihm doch eigentlich eine Nebelkerze. Das ist so, als würde man auf dem Datenschutzbeauftragten rumhacken, weil Facebook die User-Daten missbraucht. Der angemessene Adressat von Kritik sollte – neben der Bild – die politische Instanz sein, die tatsächlich wirksam etwas unternehmen könnte.
Wer das ist oder ob es dafür einer Gesetzesänderung bedarf, dafür fehlt es mir aber an juristischer Kompetenz.