Bahnhofskiosk

Lesezirkeltraining

Seit 20 Jahren erscheint in Deutschland jeden Monat in etwa die gleiche Ausgabe der „Men’s Health“, was eine derartige Geduldsleistung ist, dass man sie auch ohne ihren echt großen Erfolg dafür feiern müsste. Denn tatsächlich ist das kein Ausweis für mangelnde Kreativität, jedenfalls meiner Meinung nach nicht. Ich finde die Kreativleistung anstrengender, jeden Monat zu erklären, warum Kniebeugen die beste Übung überhaupt sind und warum das aktuelle Six-Pack-in-sechs-Wochen-Programm noch geiler ist als das übergeile Last-Minute-Six-Pack-für-den-Strand-Programm von eben, und das war ja auch schon geiler als sensationelle Six-Pack-quasi-sofort-Programm von vor zehn Minuten. Das sind Steigerungen, wie sie sonst nur Apple hinkriegt.

Kreativität wächst an Grenzen, und „Men’s Health“ ist begrenzt. Böse Zungen behaupten vielleicht, „Men’s Health“ wäre eine Art gedrucktes Modern Talking, das mit der Printversion eines Hitkonzeptes und einem komischen englischen Namen immer und immer wieder die gleiche Melodei zu leicht veränderten Texten verwurstet, aber ich bin gar nicht immer eine böse Zunge und was schert mich mein Geschwätz von gestern?

Nein, die Sache ist ganz anders, und ich habe Gelegenheit, das für mich wichtigste Prinzip von Zeitschriftenformaten einmal für die zwei Menschen auszuwalzen, die ich noch nicht damit genervt habe. Punkt eins ist: Zeitschriften sind emotionale Produkte, und sie funktionieren nur, wenn sie zuverlässig immer das gleiche begehrenswerte Gefühl herstellen.

Beispiel: Das aus meiner Sicht erfolgreichste Zeitschriftenformat unseres Landes ist der „Spiegel“. Der „Spiegel“ stellt zuverlässig mit jeder Ausgabe beim Leser das Gefühl her, die Welt wäre korrupt und böse, aber er selbst, der Leser, würde das nun durchschauen und wäre dem Rest der Welt damit überlegen. Das ist das Befriedigende am Spiegellesen. Der alte Claim „Spiegelleser wissen mehr“ war deshalb so gut, weil er genau das benannt hat: Das gute Gefühl des Besserwissens (was nebenbei den unangenehmen Typus des Besserwissers produziert, aber man selbst findet sich als Besserwisser ja nicht unangenehm, kann ich aus Erfahrung sagen; man findet sich voll schlau).

Zuverlässig ein Gefühl herstellen, hat extrem wenig damit zu tun, welche Geschichte man erzählt, solange man sie auf die richtige Art erzählt und – das ist Punkt zwei: mit dem richtigen Personal. Gutes Personal hat einen klar erkennbaren Charakter, innerhalb dessen Grenzen es Abenteuer erleben darf. Beim „Spiegel“ ist das zum Beispiel der überforderte politische Provinzfunktionär mit Hang zur Mauschelei. Dem darf nichts Gutes widerfahren. Man muss das verstehen wie eine Fernsehserie: Es kommt ja bei Dr. House nicht darauf an, welche Geschichte erzählt wird, man sagt ja nicht „heute kommt endlich wieder Krebs“ oder „ah, ein Kind im Koma, interessant“, sondern dass er garstig und brillant ist. Das kann man hunderte Male gucken, weil das Gefühl so schön heimelig ist. So funktionieren Formate. Und bei „Men’s Health“ versteht man das.

Das Personal von „Men’s Health“ sind Männer, die sich quälen, aber dafür gut aussehen. Gefühlte 98 Prozent von dem, was da jeden Monat drinsteht, wissen wir vorher (mach mehr Sport und iss Gemüse). Aber auch das ist letzten Endes eine Stärke; weil es es völlig unmöglich wäre, jeden Monat ein Heft mit völlig neuen Erkenntnissen über Bauchmuskeln, Gemüse-Smoothies und Sextricks zu machen, reichen so die winzigsten Variationen. Auch das zahlt natürlich auf meine Theorie ein: Wir wollen ja nichts wirklich Neues, wir wollen unsere Serie mit ihrem Gefühl.

Was mir aber doppelt und dreifach Respekt abnötigt, ist ein Stunt, bei dem ich nicht ganz genau weiß, warum er funktioniert: Ich weiß, dass Fitness-Irre „Men’s Health“ lesen und tatsächlich aus jedem Heft einen oder mehrere Tipps für sich mitnehmen, das habe ich mehrfach erlebt, wenn ich am Anfang eines Jahres eine Mitgliedschaft in einem Fitnessstudio abgeschlossen habe, die sich dann sechs Wochen später still und leise in eine Fördermitgliedschaft verwandelt hat (die Auflage von „Men’s Health“ sinkt wie bei allen anderen auch insgesamt, steigt in den letzten Jahren aber verhältnismäßig immer im ersten Quartal an. Die guten Vorsätze …). Trotzdem glaube ich, für viele der Leser ist das Lesen der „Men’s Health“ das einzige Training, das sie kriegen. Es ist quasi schon die ganze Qual.

Es muss in dem Konkreten liegen, daran, dass da tatsächlich jedes Mal wieder in Fotos oder Zeichnungen erklärt wird, wie diese Kniebeuge funktioniert. Man hat das dann in Gedanken so gut durchgespielt, und auch so gut gemeistert, dass dieses ganze Körperliche eigentlich nur noch der kleinste Teil ist. So wie ein Architekt ein Haus zeichnet, wenn er den perfekten Plan da liegen hat, dann ist er glücklich. Klar, muss noch gebaut werden, die Hütte, aber das ist ja nur noch Exekution, das machen dann irgendwelche Polen oder so. Wer den Plan für den eigenen Körper beim „Men’s Health“-Lesen entwickelt hat, der sieht ihn so klar vor sich, dass er nicht mehr selbst bauen muss. Er muss nur wieder „Men’s Health“ kaufen, wenn das Gefühl nachlässt.

Aus Krankheitsgründen („this man’s health“) kommt dieser Text eine Woche später als geplant, und das Heft ist quasi Morgen gar nicht mehr am Kiosk, weil das Nächste kommt, aber irgendwie passt das ja zum Thema, weil man meine Theorie so viel besser prüfen kann. Trotzdem wenigstens der Höhe- und Tiefpunkt der bis heute noch aktuellen Ausgabe: Ich halte es für einen Ausrutscher und auch nicht konzepttreu, Männern zu erklären: „So kontern Sie blöde Sprüche“ (das ist tatsächlich ein Titelthema). Die Geschichte sind ein paar im wahren Leben sicher irgendwie lustige Männer, die im Heft unfassbar unlustige Antworten auf vermeintlich blöde Sprüche geben („Haben Sie keine Augen im Kopf?“ „Ich habe sogar welche am Fuß!“). Ich möchte da nichtmal drüber nachdenken.

Andererseits schreibt ein Autor eine lange und gut recherchierte Geschichte darüber, wie Fremdenhass entsteht und warum gerade Männer ihn so oft entwickeln. Überraschend und gut. Und Sami Khedira sagt noch zur EM, dass er natürlich seine Muskeln trainiert, aber die vernünftigen, brauchbaren, nicht die, die nur am Strand gut aussehen.

Mal sehen, was nächsten Monat kommt!

Men’s Health
Rodale-Motor-Presse, Stuttgart
monatlich
4,80 Euro

3 Kommentare

  1. Oh, danke, das war eine Freude zu lesen, und sogar in der Abfolge des eigentlich zuverlässig tollen Bahnhofskiosk-Formats noch überraschend gut.

  2. Diese Zielgruppe stirbt nie aus.

    A) Ich müsste dringend mal wieder Sport machen, damit ich wieder so knackig werde, wie ich noch nie war!
    B) Mach doch!
    A) Äh? Jetzt gleich? Nicht doch. Ich kauf erst mal eine Bedienungsanleitung.
    B) Und? Fertig gelesen? Wann gehts los?
    A) Was? Ach so! Morgen vielleicht. Ich fühl mich jetzt eh schon viel fitter, seit ich das tolle Heft gekauft habe.
    B) Nimm doch das Fitnessgerät, das du bei deinem letzten Motivations-Anfall beim TV-Shopping bestellt hast!
    A) Ach, ich weiß gar nicht, wie man das aufbaut, außerdem das ist doch jetzt schon total out, man nimmt jetzt das ULTIMATE-POWER-XXL-Streckbankset, das ist viel effektiver, schau mal hier auf Seite 27. Habe ich schon bestellt.

    Du hast keinen Bock auf Sport?
    Du müsstest aber Sport machen, damit dein Selbstbild nicht dissonant verbröselt?
    Kauf ein Gerät. Oder doch wenigstens ein Magazin. Das macht dich glücklicher. Und gibt dir das Gefühl, du wärest wirklich aktiv geworden.

  3. Ich bin gerade zu diesem Artikel zurückgekehrt, getrieben von der Frage „wo wurde doch gleich der Spiegel so schön auf den Punkt gebracht?“. Gefiel mir beim ersten Lesen, gefällt mir immer noch. Danke schön.

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