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Mein Leben mit der Ablehnung
Isabell Beer beschreibt in diesem Text, wie sie ihren persönlichen Umgang mit Hasskommentaren entwickelt hat. Der Text handelt auch von Trans- und Queer-Feindlichkeit, Mobbing, Hassnachrichten mit Gewalt- und Mordphantasien und Suizidgedanken.
Eine der häufigsten Fragen an mich ist, wie ich in meinem Job mit Hasskommentaren umgehe – als wären Kommentare zu meinem Aussehen erst durch meine Präsenz vor der Kamera Teil meines Lebens. Dabei ist es so: Seit ich denken kann, wurde mein Aussehen kommentiert. Als ich ein Kind war, sagten Menschen meinen Eltern und mir, was für ein hübsches Mädchen ich sei. Sie wollten mir ein Kompliment machen und ahnten gar nicht, wie sehr sie mich damit verletzten.
Als ich im Grundschulalter war, wollten einige, dass ich, mit meinen langen blonden Haaren, beim Krippenspiel der Weihnachtsengel bin. Ich hatte es meiner Mama versprochen, doch als es um die Rolle ging, meldete ich mich nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich wollte kein Weihnachtsengel sein und erst recht kein hübsches Mädchen. Ich wollte ein Junge sein – und so wurde ich ein Hirte. Meine blonde Mähne verschwand unter einem Hut und ich war überglücklich mit dieser Entscheidung, auch wenn mich andere lieber als Engel gesehen hätten.
„Ich wollte ein Junge sein“
Die Komplimente von außen, die mich jedes Mal schmerzhaft daran erinnerten, was ich nicht war, hörten damit aber nicht auf. Genauso wenig wie die Tatsache, dass ich mich als Junge fühlte. Mit neun bekam ich meine ersten Jungsklamotten und es fühlte sich an wie Geburtstag und Weihnachten gleichzeitig. Ich trug sie so oft es ging. An meinem zehnten Geburtstag hatte ich nur einen Wunsch, den ich nicht aussprach: Ich wollte ein Junge sein. Dieser Wunsch ging nicht in Erfüllung.
Mit elf bestand mein Schrank nur noch aus Kleidung aus der sogenannten Jungs-Abteilung. Wenn ich mit meiner Mutter dort einkaufte, musste sie sich gegenüber dem Personal rechtfertigen. Sie sagte nur: „Nein, wir sind hier schon richtig.“ Auch andere Eltern sprachen sie darauf an und es tat mir leid. Ich fühlte mich aufgrund der Kommentare schuldig, weil ich nicht so war wie andere Kinder.
Die Autorin
Isabell Beer arbeitet als Investigativ-Journalistin in der Recherche-Unit von „funk“. Ihr Spezialgebiet sind Online-Recherchen, auch undercover. 2021 erschien ihr Buch „Bis einer stirbt“ über die Drogenszene im Internet.
Mit Beginn der Pubertät hörten die Komplimente von außen endgültig auf. Ich bekam schlimme Akne und war einfach nur froh, dass ich von da an nicht mehr als hübsches Mädchen bezeichnet wurde. Jetzt fragten mich aber Fremde, ob ich denn ein Junge oder ein Mädchen sei. Dann kamen die Beleidigungen. „Mannweib“, „Isbert“, Mitschüler äfften meine Körperhaltung nach, mit der ich versuchte, meine Brüste zu kaschieren. Menschen bezeichneten mich als hässlich. Unter ein Profilfoto schrieb ein Klassenkamerad: „Wenn ich dich sehe, fällt mir ein, dass ich noch den Müll rausbringen muss“. Da war ich 15, aber ich weiß es bis heute. Zu dieser Zeit ging es mir enorm schlecht und ich dachte über Suizid nach. Dann sagte ein Junge aus meiner Klasse: „Ich bin gespannt, wann du dich aufhängst“ – und ich merkte, dass es ihn nicht einmal interessieren würde, wenn ich es täte.
Die Angst vor den Kommentaren
Das klingt hart, ist aber nicht ungewöhnlich. Queere Jugendliche haben ein vielfach erhöhtes Suizidrisiko. Was nicht daran liegt, wie sie sind – sondern viel mehr mit der Ablehnung und dem Hass zu tun hat, die ihnen entgegenschlagen.
Mit 15 fragte ich mich dann auch selbst, was ich nun bin. Ich beschloss, mein Leben als Frau zu führen, auch wenn ich mich damals nicht so fühlte. Mit den Jahren hörte mein Leidensdruck auf, heute bin ich gerne eine Frau. Warum? Weiß ich nicht. Es wundert mich, dass sich das verändert hat, dass dieser enorme Leidensdruck verschwunden ist und ich mich jetzt auch wirklich als Frau fühle. Wäre es so geblieben wie damals, würde ich heute als Trans-Mann leben.
Als ich das erste Mal mit offenen Haaren in die Schule kam, wurde auch das kommentiert. Ich weiß bis heute, wie groß meine Angst vor den Kommentaren schon auf dem Weg zur Schule war. Als ich mein erstes Mädchen-Shirt kaufte, kommentierte ein Mitschüler, dass ich ja gar nicht so schlecht darin aussehen würde. Als ich das erste Mal einen weiteren Ausschnitt trug, meinte eine Mitschülerin, nur weil ich jetzt ein Mädchen sei, müsse ich es ja nicht gleich so übertreiben. Ich versuchte daraufhin den ganzen Tag über, mein Dekolleté zu verdecken.
Eine Freundin von mir meinte einmal, dass ich selbst mit viel Makeup nicht gut aussehen könnte. Meine Friseurin, die mir eigentlich nur die Frisur von Avril Lavigne schneiden sollte, meinte: Du hast ja ganz schlimm Akne. Als ob ich das bis dahin noch nicht selbst bemerkt hätte.
Keine dieser Personen habe ich nach ihrer Meinung gefragt. Alle kommentierten einfach, was ihnen zu meinem Aussehen eben gerade so einfiel. Gutes, Schlechtes, Verletzendes – und ließen mich dann mit diesen Worten allein.
Kein Nasenring in der Redaktion
All die Jahre war ich auf der Suche nach mir selbst. Wer ich bin, wer ich sein kann und wer ich sein möchte. Diese Suche war allein meine, aber Menschen meinten, sie hätten dabei etwas mitzureden. Ihr Tag ging weiter, während ihre Worte in mir arbeiteten, mich an mir zweifeln ließen, mir das Gefühl gaben, weniger wert zu sein. Und so fand ich mich mit 15 damit ab, hässlich zu sein.
Auch später, im Job, wurde mein Aussehen kommentiert. In einer Redaktion rief mich ein Chef nach dem Vorstellungsgespräch an und meinte, dass ich meinen Nasenring rausnehmen solle. Weil es unseriös wirken würde und eine Kollegin Angst vor mir gehabt habe. Ich tat es, weil ich unbedingt dort arbeiten wollte.
In meinen ersten Jobs als Journalistin war ich nicht direkt sichtbar, da ich vor allem Texte schrieb. Mein Aussehen war in den Kommentaren zu meinen Artikeln darum kein Thema. Als ich 2019 zu „funk“ wechselte, hatte ich große Lust darauf, vor der Kamera zu arbeiten. Aber gleichzeitig auch Angst, dass Leute mein Äußeres bewerten und mein Aussehen vom Thema, von meiner Arbeit ablenken könnte. Also kaufte ich etliche hochgeschlossene schwarze Shirts, schwarze Hosen und einfarbige Pullover, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Es gab Nächte, in denen mich die Sorge vor Kommentaren wachhielt.
Unter meinem ersten „funk“-Beitrag wurde trotzdem mein Aussehen kommentiert. Nach einem langen Drehtag sahen meine Haare verstrubbelt aus – in einem Kommentar wurden sie als verfilzt bezeichnet. Auch andere Abwertungen fanden sich unter dem Video.
Zu meinem Film über Frauenhasser im Netz fürs Y-Kollektiv erhielt ich so viele Hassnachrichten wie nie zuvor. Jemand wünschte mir, vergewaltigt und lebendig verbrannt zu werden. Diesen Kommentar habe ich angezeigt. Das Verfahren wurde eingestellt, weil die Ermittler die Person offenbar nicht ausfindig machen konnten. Mein männlicher Kollege, der mit mir den Film gemacht hatte, bekam keine derartigen Kommentare.
Das Verfahren gegen den #Incel, der mir gewünscht hat, vergewaltigt und lebendig verbrannt zu werden, wurde eingestellt. Die Ermittler:innen haben ihn nicht gefunden.
Seine Worte waren eine Reaktion auf meine Online-Undercover-Recherche in der Incel-Szene fürs @Y_Kollektiv pic.twitter.com/ik5TnIqPdV
— Isabell Beer (@isabell_beer) March 29, 2021
Unter einem Video, in dem ich mit einer Kollegin über psychische Probleme sprach, war eines der ersten Kommentare: „Warum sind in diesem Video keine schönen Frauen?“
Stell dir vor, du machst mit zwei Kolleginnen eine Reportage zu einem Thema, das dir am Herzen liegt – und das ist unter den ersten Kommentaren. Ich bin einfach nur noch müde davon. pic.twitter.com/WNqae6nazO
— Isabell Beer (@isabell_beer) January 14, 2021
Die Kommentare, vor denen ich so Angst gehabt hatte, machten aber komischerweise kaum etwas mit mir. Wahrscheinlich weil mir früher schon viel Schlimmeres an den Kopf geworfen wurde. Auch von Menschen, die ich mochte. Und wahrscheinlich, weil ich als lesbische Frau bis heute Hass ausgesetzt bin, im realen Leben. Dieser tut aber jedes Mal weh, besonders, wenn ich mit meiner Freundin unterwegs bin. Diesen Hass kann ich nicht von mir wegschieben.
„Wir müssen aufhören, Aussehen ungefragt zu bewerten“
Mit den Kommentaren unter den Videos ist das zum Glück anders. Durch sie wird klar: Egal, was ich trage – es wird immer Leute geben, die mein Aussehen kommentieren. Wenn es nicht meine Piercings oder Klamotten sind, dann sind es halt Form oder Größe meiner Nase, meine Haare oder was auch immer. Diese Leute sind wahrscheinlich auch gar nicht auf YouTube, um den Beitrag zu sehen, sondern um Frauen abzuwerten – und sich damit selbst besser zu fühlen. Und offensichtlich bin nicht ich die, die mit ihrer bloßen Existenz vom Thema ablenkt, sondern die Leute, die solche Kommentare schreiben.
Nicht jeder, der beleidigt, ist ein schlechter Mensch. Viele tragen ihre eigenen Kämpfe aus und ich glaube, viele führen ein sehr trauriges Leben. Das rechtfertigt ihre Beleidigungen nicht, hilft mir aber, vieles davon nicht so ernst zu nehmen. Heute weiß ich, dass das, was sie über mein Aussehen sagen und sagten, mehr über sie erzählt als über mich. Den Menschen aus meiner Schulzeit trage ich das nicht nach. Manche haben sich inzwischen bei mir entschuldigt, was ich zu schätzen weiß. Wir waren Teenager und auch ich habe als Teenager Dinge gesagt, an denen ich heute nicht mehr gemessen werden möchte.
Heute frage ich mich, wie oft ich mit Kommentaren Menschen verletzt habe. Wir müssen aufhören, Gewichtsveränderungen, Aussehen, etc. ungefragt zu bewerten.
„Der anonyme Hass prallt jetzt an mir ab“
Erst habe ich online gelesen: „Dein Körper ist dein Zuhause“. Das fühle ich sehr. Mein Körper muss anderen nicht gefallen, nur ich muss mich darin wohlfühlen. Und weil eh seit jeher Menschen – Frauen wie Männer – ihre Müllmeinung zu mir absonderten, begann ich zu tragen, was mir gefällt.
Nach meinem ersten „funk“-Film fragte ich meinen Chef, ob ich mir ein neues Piercing stechen darf. Er reagierte irritiert mit „Warum fragst du mich das?“, was wahrscheinlich die beste Antwort auf diese Frage ist. Inzwischen habe ich sechs Piercings im Gesicht und ich liebe jedes davon. Aktuell trage ich am liebsten Overknee-Strümpfe, Strumpfhose, kurze Hose, Lederjacke, Sidecut, auch vor der Kamera.
Wenn ich heute in den Spiegel sehe, liebe ich den Menschen, der mich ansieht. Dahin war es ein langer Weg und ich kann nicht beschreiben, wie gut sich das anfühlt. Weil ich anziehe, was ich will, kann ich mich voll auf meine Arbeit konzentrieren, fühle mich am Set viel wohler. Die Kommentare zu meinem Äußeren haben etwas zugenommen – aber der anonyme Hass prallt jetzt an mir ab.
Rückblickend finde ich es schade, dass ich zeitweise das Kind vergessen hatte, das ich mal war. Das Kind, das einfach nur das trug, was sich richtig anfühlte und sich nicht für andere verbog. Ich bin froh, dass ich es in den letzten zwei Jahren wiedergefunden habe. So wie damals als Hirte beim Krippenspiel fühle ich mich heute mit Piercings und Sidecut vor der Kamera wohl. Und wie damals ist das, was am Ende zählt, nicht, wie andere mich haben wollen, sondern wie ich mich dabei fühle: Nämlich verdammt gut.
Holen Sie sich Hilfe, wenn Sie Depressionen oder suizidale Gedanken haben! Zum Beispiel, ganz unkompliziert, bei der Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 – oder bei anderen Beratungsstellen.
Vielen Dank.
Danke, dass du deine Gedanken und Gefühle teilst. Nur wenn über Dinge gesprochen wird, werden sie so allgegenwärtig, dass niemand mehr, auch unabsichtlich nicht, wegen ihnen verletzt wird. :-)
(Und es freut mich, dass Du zu Dir gefunden hast.)
Auch, wenn das ein trauriges Thema ist, ist das ein schöner Beitrag. Man muss immer wieder daran erinnern, dass Bemerkungen nicht deshalb „nett“ sind, weil sie nett gemeint sind.
Ein wirklich berührender und vor allem sensibilisierender Text. Sehr lesenswert. Danke dafür & viel Kraft (hoffentlich immer seltener vonnöten) sowie Erfolg auf deinen weiteren Wegen!
Vielen Dank für den Artikel! Ich wurde tief berührt und habe dazugelernt, obwohl er ohne großen erklärerischen Anspruch (auf theoretischer Ebene) daherkommt, oder eben gerade weil die Ichperspektive so eindringlich und zum Zurückdenken einladend wirkt.
*erklärenden, ups.
Danke für diesen Artikel!
Als Mutter von zwei kleinen Jungen ist mir in den letzten Jahren erst bewusst geworden wie stark schon bei Kleidung, Spielzeug etc zwischen „für Jungs“ und „für Mädchen“ unterschieden wird – furchtbar! In vielen Onlineshops muss man zuerst eine dieser beiden Kategorien auswählen bevor man anklicken kann ob man nun nach einer Hose oder Pullover sucht… Warum?
Mein Sohn liebt „weiche Hosen“ also Leggins. Die gibt es in seiner Größe aber nur noch in der Mädchenabteilung und dann fast ausschließlich mit Glitzer und Rüschen. Ich nähe viel Kleidung für meine Kinder selbst, letzte Woche trug mein Sohn im Kindergarten einen Pullover mit pinken Ärmeln. Ich habe darauf so viele nett gemeinte Kommentare bekommen, dass das ja ganz toll und so ungewöhnlich sei – aber warum? Den Leuten ist gar nicht bewusst, dass sie allein durch diese Benennung dafür sorgen, dass es etwas besonderes ist und mein kleiner Sohn erst dadurch merkt, dass sein Geschmack „anders“ ist oder zumindest Bemerkungen provoziert die andere für ihre Kleidung nicht bekommen. Auch wenn es nett gemeint war erzeugen wir Erwachsene doch für die Kinder erst durch unser Verhalten diese Kategorien. Ich hoffe er bleibt dabei, selbstbewusst die Kleidung zu tragen die ihm gefällt.