Wochenschau (111)

Dieser herrlich vorhersagbare, redundante, ritualisierte Orakelmodus politischer Publizistik

Spüren Sie das? Diesen alles unscharf machenden Nebel, der sich langsam über unsere Gespräche legt? Dieses herbstliche Flüstern, in dem Gerüchte über unheilvolle Kräfte weitergetragen werden, ein unklares Geheimnis immer länger werdender Nächte?

Genau, es ist Oktober, bald ist Halloween und wieder einmal befinden wir uns in der raunigen Jahreszeit eines Weißer-Rauch-Journalismus: die Sondierungsanalysen. Ähnlich wie im Falle der Papstwahl, bei der sehr lange, sehr intensiv und sehr aufgeregt darüber berichtet wird, dass es noch nichts zu berichten gibt, funktioniert Sondierungsjournalismus wie die stochernden Prophezeiungen der Harry-Potter-Professorin Sybill Trelawney: Es wird viel geahnt, aber wenig gewusst. Dieser immer wieder herrlich vorhersagbare, redundante, ritualisierte, Pseudoereignisse schaffende, gossip-getriebene Orakelmodus politischer Publizistik bildet überzeugend ab, was vielleicht, wahrscheinlich, eventuell sein könnte – allerdings nicht, was ist.

Daher wiederholen sich Formulierungen, bis sie in ihrem Sinn implodieren müssen: Sowohl die journalistische Einordnung als auch die politischen Statements können die Meldung „Es gibt bisher noch nichts Genaues zu vermelden“ nicht jedes Mal neu erfinden.

Die Generalsekretäre Lars Klingbeil (SPD) und Volker Wissing (FDP) geben vor der Presse ein Statement zu ihren Sondierungsgesprächen ab.
Die Generalsekretäre Lars Klingbeil (SPD) und Volker Wissing (FDP) geben vor der Presse ein Statement zu ihren Sondierungsgesprächen ab. Foto: Imago / Jens Schicke

Markus Söder fand die Treffen „ehrlich und konstruktiv“, ebenso Baerbock, die erklärte, die Gespräche seien „konstruktiv“ und „durch Ehrlichkeit geprägt gewesen“. Robert Habeck sprach vom Ausloten möglicher Schnittmengen, aber es habe auch Trennendes gegeben. Armin Laschet erklärte, man habe viele Gemeinsamkeiten gefunden, aber es gebe Differenzen – jedoch auch ebenso gute Chancen, solch ein Gespräch fortzusetzen.

Albernes unterstelltes Wähnen

Medial bleibt als Quintessenz allein das beliebte „Akteur A sieht Näherung zu Akteur B“. Mit der diplomatischen Umständlichkeit eines romantisch Interessierten im viktorianischen England nähert man sich jetzt in allen Formen der Formulierbarkeit zaghaft an. Der Presse bleibt nicht viel mehr übrig, als entweder diese zeitlupenhaften Nicht-Ereignisse als solche zu beschreiben, oder aber jede noch so kleine Regung politpsychologisch auseinanderzunehmen.

Wie albern dieses permanent unterstellende Wähnen manchmal wird, kann man derzeit in der sehr sehenswerten sechsteiligen NDR-Dokuserie „Kevin Kühnert und die SPD“ der Filmemacher Katharina Schiele und Lucas Stratmann nachvollziehen, die den Politiker über drei Jahre begleitet haben. Als einmal öffentlich der Gedanke aufkommt, Gesine Schwan wolle mit Kühnert gemeinsam als Doppelspitze antreten, wird die schier zufällige Anwesenheit der beiden am selben Ort zur Nachricht.

In seinem Spekulativsein widerspricht der Sondierungsjournalismus seinem journalistischen Auftrag, denn Reporter sind keine Orakel und die Bundespressekonferenz ist keine Scéance, in der Geister der Vergangenheit heraufbeschworen werden, um etwas über die Zukunft zu erfahren. (Jetzt wo ich darüber nachdenke, sind sie vielleicht doch so etwas wie Scéancen.) Dennoch kommen keine Koalitionsverhandlungen und keine informellen Hinterzimmergespräche ohne den absolut berechtigten Versuch von Berichtenden aus, durch das Schlüsselloch zu blicken, um einem Publikum Auskunft darüber zu geben, was aktuell über die Zukunft des Landes beschlossen wird.

Dementsprechend ist Sondierungsjournalismus das, was aus der Unvereinbarkeit einer politischen Logik und einer Medienlogik entstehen muss. Es ist ein Interessenkonflikt, der darin begründet liegt, wie unser Parteiensystem aufgestellt ist. Bei Vorsondierungen, Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen geht es erstmal um das Austarieren, Abwägen und Ausloten. Während Demokratie an und für sich schon immer die utilitaristische Verwaltung divergierender Interessen ist, sind Sondierungen der Versuch aller Beteiligten, aus einer Kompromissfindung, mit der im besten Fall keiner so richtig zufrieden sein kann, zumindest ein bisschen weniger unzufrieden rausgehen zu können.

Notwendige Privatheit

Um dieses Ringen kommunikativ überhaupt möglich zu machen, braucht es aber einen ganz entscheidenden Modus: den der Privatheit. Ohne den kommentierenden Blick einer Öffentlichkeit ist es für die politische Akteure einfacher, Zugeständnisse zu machen, ohne der Wankelmütigkeit bezichtigt oder eines performativen Widerspruchs überführt zu werden.

Das widerspricht allerdings dem Anspruch des politischen Journalismus, dessen Aufgabe es natürlich ist, kontrollierend auf die demokratischen Prozesse zu blicken, um Missstände abzubilden und eben auf Widersprüche und Abweichungen hinzuweisen. Die Berichterstattung will Transparenz in diese Blackbox einer möglichen Regierung bringen.

Das führt zur kuriosen Situation, dass Reporter, deren Pflicht es ist, die Demokratie durch ihre Arbeit zu stärken, diese unwillentlich auch ein wenig sabotieren müssen. Solch eine Sabotage konnte man beispielsweise bei den Jamaika-Sondierungen 2017 beobachten, bei denen die Mischung aus permanenten Wasserstandsmeldungen, durchgesickerten Interna und Öffentlichkeitsreaktionen Einfluss hatte auf das letztendliche Scheitern der Gespräche.

Vertrauen und Verschwiegenheit

Gerade vor dem Hintergrund dieser sehr spezifischen Parteien-Konstellationen – im Grunde lernt man sich für die gemeinsame Ehe ja jetzt erst richtig kennen -, ist Vertrauen Bedingung dafür, eine Lösung zu finden. Alle scheinen verstanden zu haben, wie wichtig ihre Verschwiegenheit ist – bis auf, so heißt es zumindest, die Union. FDP und Grüne werfen ihr vor, Informationen an die „Bild“-Zeitung weitergegeben zu haben.

Michael Kellner, der politische Bundesgeschäftsführer der Grünen, erklärte in der Sendung „Frühstart“ von RTL und ntv: „Dass man dann die Kommunikation über die ‚Bild‘-Zeitung betreibt, wirft kein gutes Licht auf die Zustände in der Union.“

In der Soziologie nennt man das den Hawthorne-Effekt. Der „bezieht sich auf die Tendenz einiger Personen, ihr Verhalten zu ändern, wenn sie sich bewusst sind, dass sie beobachtet werden“. Etwas ähnliches erleben wir beim journalistischen Beobachten dessen, was selbst noch nicht weiß, was es wird.

Vielleicht sollte man es auch mal in Ruhe werden lassen können.

Wäre es also am besten, gar nicht erst zu versuchen, über das Sondieren zu berichten? Nein, es ist wie bei der Papstwahl: Wir werden vermutlich weiterhin über das Warten schreiben und die Abwesenheit einer Entscheidung als Meldung vertickern. Wir sollten nur ehrlicherweise bemerken, dass es unter den journalistischen Gattungen nicht gerade die Konzertkritik ist – sondern eher die sehr detaillierte und hingebungsvolle Beschreibung von Wartezimmermusik.

7 Kommentare

  1. Sehr schöner Vergleich am Ende!

    Und dass die CXU mit ihrer Wahlkampfpostille ins Bett geht, geschenkt. War wahrscheinlich Bedingung: Wir schreiben die Baerbock 10% runter, dafür kriegen wir nachher Exklusivinfos aus den Sondierungsgesprächen. Nur hatte man sich da andere Minderheitsverhältnisse erhofft.
    (Unbelegte Quatsch-Verschwörungsschwurbelei)

  2. Als nicht-Politiker und als nicht-Journalist bin ich 100%ig für das Schweigegelübde. Kann meinetwegen gerne auch für die Koalitionsverhandlungen beibehalten werden. Erscheint mir als beste Lösung für eine sachorientierte Kompromissfindung. Und als Bürger interessieren mich etwaige „Zwischenstände“ überhaupt nicht. Hauptstadtjournalisten arbeitslos und bedeutungslos am Beschweren wie Frau Amann im Spiegel? Eure Zeit kommt wieder, macht Urlaub.

  3. Schnapszahl-Beitrag!

    Ansonsten frage ich mich, ob man die nicht einfach wie bei der Papstwahl alle solange einsperren kann, bis die sich geeinigt haben…

  4. „Filmemacher Katharina Schiele und Lucas Stratmann“,
    „Reporter sind keine Orakel“

    Einen herzlichen Dank für diese gelassene Nutzung des generischen Maskulinums sendet Ihnen, Frau El Ouassil, der Freundeskreis desselben (der in diesem Falle nur aus mir selbst besteht).

    Sprache kann so knapp und prägnant sein – und niemand, der nicht vorher darauf angespitzt wurde, käme auf die Idee, dass mit „Filmemacher“ eigentlich nur Herr Stratmann gemeint sei, Frau Schiele dagegen höchstens „mit-„.

    Zum Gegenstand: Ich bin da ganz bei Peter Sievert. Das Schweigen nötigt die Medien, allerlei Nicht-Nachrichten zu verbreiten und haltloser Interpretations-Akrobatik zu unterziehen. Ist aber allemal besser, als das Balkon-Gefasel von 2017. Transparenz ist nicht alles. Manchmal braucht es nach außen hin Stille, um zu einem Ergebnis zu kommen. Zerreißen kann man es ja immer noch, sobald es vorliegt.

  5. „Ha! Generisches Maskulinum verwendet! Na sehter! Tut gar nicht weh! Hahaha!“

    (Fragt man sich bei solchen Selbstvergewisserungspostings eigentlich, wer hier „angespitzt“ wurde? Sprich: Fällt die Ironie auf?)

  6. „Wir sollten nur ehrlicherweise bemerken, dass es unter den journalistischen Gattungen nicht gerade die Konzertkritik ist – sondern eher die sehr detaillierte und hingebungsvolle Beschreibung von Wartezimmermusik.“

    Bzw. inzwischen von Fahrstuhlmusik in einem Lift, der steckengeblieben ist. Nach den Sondierungen und den Vor-Sondierungen wurden nun – für kommende Woche – „Tiefen-Sondierungen“ angekündigt. Gefolgt vielleicht von Kern-Sondierungen und Abschluss-Sondierungen?

    Die FDP kann halt mehr Druck machen, solange sie sich Jamaika als Option offenhält. Das ist vorbei, sobald die formellen Koalitionsverhandlungen begonnen haben (die dürfen nicht scheitern). Also zieht sich die Sache, und die Journalisten werden sich noch eine Zeit lang mit Erklärungen zu „vertrauensvollen Gesprächen“, „ernsthaften Gesprächen“, „konstruktiven Gesprächen“ und „ergebnisorientierten Gesprächen“ zufrieden geben müssen.

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