Wut-Journalismus

Die Corona-Radikalisierung von „Bild“ und der Mord von Idar-Oberstein

Es gibt Gewalttaten, aus denen schöpft die „Bild“-Zeitung tagelang Berichterstattung und Aufregung: Aufmacher, Seite-1-Schlagzeilen, anklagende Artikel, Live-Schalten.

Der Mord an einem Tankstellen-Mitarbeiter in Idar-Oberstein gehört nicht dazu.

Am Samstag hat ein Mann einen Studenten erschossen, nachdem der ihn aufgefordert hatte, einen Mund-Nase-Schutz zu tragen. Der Todesschütze Mario N. selbst nannte laut Staatsanwaltschaft als Motiv, dass der Kassierer ihm als verantwortlich für die von ihm abgelehnten Corona-Maßnahmen erschienen sei.

Der Fall hat politische Brisanz, weil es, wie „Zeit Online“ schrieb, der erste sein könnte, „in dem eine Radikalisierung im Umfeld von Corona-Verschwörungsideologen zu einem Mord geführt hat“. Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich zu der Tat geäußert, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, auch eine Sprecherin der Bundesregierung. Das Thema findet sich heute prominent auf den Titelseiten der meisten Tageszeitungen und war gestern Bestandteil der Nachrichtensendungen im Fernsehen.

Kein großes Thema

Für die „Bild“-Zeitung ist der Mord kein großes Thema. In der gedruckten überregionalen Ausgabe stand darüber heute kein Wort. Auch gestern war das schon so.

Nur am Dienstag fand die Gewalttat in der Bundesausgabe statt, angekündigt auf der Seite 1 durch die Formulierung:

Weil er keine Maske tragen wollte. Corona-Kritiker richtet Tankwart hin

„Corona-Kritiker“ ist schon ein erstaunliches Wort; bei der Schlagzeile im Inneren scheint dann die Maskenpflicht Ursache der Gewalt zu sein:

Mordmotiv Maskenpflicht
Ausriss: „Bild“

Seitdem findet die Berichterstattung in der Zeitung nur noch im Regionalteil statt. Heute in „Bild“-Frankfurt klein in einer Ecke:

Polizei prüft Twitter-Profil des Tankstellen-Killers

(…) Dazu offenbart sich immer mehr die dunkle Seite seines Charakters – geprägt von Querdenker-Irrsinn und Rassismus.

So schrieb N. (…): Der Lockdown sei „unsinnig“.

Bei Twitter folgt der Killer u.a. dem vom Verfassungsschutz überwachten Björn Höcke (49).

Ja, „u.a.“. Zu den gerade einmal 25 Accounts, denen er folgt, gehört aber auch „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Warum ist das keine erwähnenswerte Information, aber AfD-Politiker Björn Höcke schon?

Das „Bild“-Schwesterblatt „Welt“ berichtete:

Ein Twitter-Account, den WELT dem Tatverdächtigen zuordnen konnte, gibt Hinweise auf dessen politische Einstellungen. Er folgt lediglich 26 Accounts, die mehrheitlich aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum stammen. Insbesondere Accounts aus dem Umfeld der AfD stechen ins Auge, etwa jener von Björn Höcke, dem Chef des mittlerweile aufgelösten rechtsextremen Flügels der Partei.

Accounts aus dem Umfeld von Axel Springer stachen den Journalisten von Axel Springer offenbar nicht so ins Auge, weder der von Reichelt, noch der des Blogs „Achse des Guten“, das von „Welt“-Starkolumnist Henryk M. Broder mit herausgegeben wird, noch der der „Welt“-Autorin Birgit Kelle. Sie alle finden keine Erwähnung.

Unzulässige Verkürzung

Natürlich sind Menschen nicht verantwortlich für die Taten von anderen, nur weil die ihnen auf Twitter folgen. Die Verkürzung von ZDF-Satiriker Jan Böhmermann ist unzulässig, der die Liste der Accounts, denen N. folgte, auf Twitter am Dienstag mit dem Satz verbreitete: „Wer dem Mörder von Idar-Oberstein den Treibstoff für seinen Hass geliefert hat.“

Trotzdem ist es richtig zu fragen, welches Umfeld möglicherweise zu der Radikalisierung des mutmaßlichen Täters beigetragen hat. Innenpolitiker von FDP und SPD haben der AfD eine Mitverantwortung an der Tat gegeben, bezeichneten die Partei etwa als „obersten Agent der politischen Radikalisierung in Deutschland“. (Die AfD wies die Vorwürfe als „absurd“ zurück.)

Man weiß nicht, warum N. „Bild“-Chef Julian Reichelt auf Twitter folgte, aber er tat es vermutlich eher nicht, um eine vernünftige, argumentative, sachlich ausgewogene Alternative zu der Wut und Hetze zu finden, die ihm die anderen Accounts „aus dem rechten bis rechtsextremen Spektrum“ lieferten.

Bild-Live-Schlagzeilen: "Die Gängelung der Ungeimpften muss endlich aufhören!", "Regierung hat einen Corona-Fetisch!", Unsinnige Maßnahmen befolgt niemand, "Das gleicht einer Jagd auf Ungeimpfte!"
Screenshots: youtube.com/bild

Auf dem Youtube-Kanal von „Bild“, der immerhin 873.000 Abonnenten hat, finden sich zwar keine Beiträge, in dem es um die Gewalttat von Idar-Oberstein geht, aber stattdessen allein in den vergangenen drei Tagen Titel wie:

  • „Regierung hat einen Corona-Fetisch“
  • „Der Staat muss endlich aufhören, Erpresser zu sein!“
  • „Es gibt staatliche Verbote, die anderen das Leben zur Hölle machen“
  • „Das gleicht einer Jagd auf Ungeimpfte!“
  • Unsinnige Maßnahmen befolgt niemand
  • Corona: Unsinnige Regeln müssen nicht befolgt werden
  • „Wir leiden vor allem unter einer Politik-Pandemie“

Unsinniger Lockdown

Es ist schon speziell, wenn „Bild“ bedeutungsschwanger aus einem Tweet des mutmaßlichen Mörders zitiert, der Lockdown sei „unsinnig“, wenn „Bild“ seit Monaten mit einer ungeheuren Penetranz die Behauptung wiederholt, der Lockdown sei unsinnig.

Vom „ganzen Wahnsinn dieser Corona-Politik“, sprach Reichelts Vize Paul Ronzheimer, Reichelt selbst von einem „autoritären Staat“, von der „Freude“ der Politik, Menschen unfrei zu halten, von einer „berauschenden Angst-Politik, die Politikern so viel Zugriff gegeben hat, dass sie davon gar nicht mehr lassen können“.

Aus legitimer und notwendiger Kritik an Maßnahmen im Namen der Corona-Bekämpfung ist bei „Bild“ in den vergangenen Monaten eine rasende Wut auf „die“ Politik und den Staat geworden. Das Blatt hält zwar Abstand zu Querdenkern und der AfD – aber nicht zu vielen ihrer Positionen. Gleichzeitig befeuert sie mit ihrer Radikalität immer neu deren Wut.

Auch das macht sie noch nicht unmittelbar verantwortlich für die Tat eines Mannes, der möglicherweise so radikalisiert wurde, dass er aus Wut über die Corona-Politik einen Menschen erschoss. (Ohnehin sollte man vorsichtig sein, in dem von ihm selbst genannten Tatmotiv schon die ganze Geschichte zu sehen.) Aber zur Diskussion der Frage, welches Umfeld, welche Quellen zu einer solchen Radikalisierung beigetragen haben könnten, gehört dann eben nicht nur das Wirken der AfD, sondern auch das der „Bild“-Zeitung. Nicht so sehr, weil der Täter ihrem Chefredakteur als einem von ganz wenigen Accounts folgte, sondern wegen ihrer Berichterstattung.

Dass die „Bild“-Zeitung sich dieser für sie möglicherweise unbequemen Diskussion nicht stellt, ist nicht verwunderlich. Dass es wirkt, als würde sie sich dieser Diskussion auch dadurch entziehen, dass sie den Fall behandelt, als wäre das keine große Sache und eher nur von regionaler Bedeutung, ist allerdings bemerkenswert.

Stattdessen feiert sie kurz nach dem Mord den stellvertretenden Bundestagspräsidenten Wolfgang Kubicki (FDP) dafür, dass er im Zusammenhang mit den Corona-Regeln sagt, an unsinnige Gesetze müsse man sich nicht halten.

8 Kommentare

  1. „Accounts aus dem Umfeld von Axel Springer […] finden keine Erwähnung.“

    Implizit hat die Welt diese mit der Umschreibung „rechten bis rechtsextremen Spektrum“ ja treffend miterwähnt.

    Bitter jedenfalls, wie zynisch die Formulierungen „Corona-Kritiker“ , „weil er keine Maske tragen wollte“ und „Mordmotiv Maskenpflicht“ sind. Die Menschen bei BILD wählten diese ja alle hochbewusst. Bitter.

  2. „Dazu offenbart sich immer mehr die dunkle Seite seines Charakters – geprägt von Querdenker-Irrsinn und Rassismus.“
    Tja, da könnte genauso gut Julian Reichelt gemeint sein.

    Im Übrigen wundere ich mich, dass diese Tat nicht (auch) als Terror bzw. politischer Mord angesprochen wird. Ist mir zumindest noch nicht untergekommen, läge imho aber beim derzeitigen Erkenntnisstand nahe.

  3. Einen positiven Einfluss auf Gesellschaft und Debattenkultur kann man dem Blatt jedenfalls nicht unterstellen.
    Es schafft breite Anschlussfähigkeit an kontrafaktische Erzählungen. Das Schlimme ist das es vielleicht nicht (nur) persönliche Überzeugungen sind (,welche zugegebener Maßen oft nicht auf Tatsachenwahrheiten beruhen), sonder eventuell die opportunistische Aneignungen der Meinungsökinomie in einer hoch vernetzten und verdichteten Gesellschaft.

  4. Ich finde die Verkürzung von Böhmermann durchaus tragbar, muss aber gleichzeitig sagen, dass die Auswahl der Handvoll Accounts, denen er gefolgt ist, stark nach einem Vorschlagsalgorithmus aussieht, den Plattformen wie Twitter, aber auch Pinterest oder Flickr nutzen, um neue User Beim Setup des Profils möglichst schnell zu „involven“ und „engagen“. Klickt man dann bei der Prozessfrage „Wofür interessierst du dich?“ auf die Politik-Kachel, kommt eine wilde Auswahl an sehr aktiven Accounts. Wählt man dann Storch, werden einem sogleich Höcke, Maaßen und Reichelt vorgeschlagen.

    Vielleicht sollte Böhmermanns rhetorische Frage um die Antwort Twitter-KI ergänzt werden.

  5. „Weil er keine Maske tragen wollte – Corona-Kritiker richtet Tankwart hin“ Wer wollte keine Maske tragen? Der Tankwart oder der, der Covid-19 kritisiert?
    Der Rest ist nichts, was mich überrascht.

  6. Danke für den Beitrag, auch wenn mich die Inhalte ebenfalls nicht überraschen. Es macht mich dennoch immer wieder fassungslos wie enthemmt die Springer-Medien inzwischen an rechtsradikale und rechtsextreme Positionen andocken.

    Natürlich es ist die BILD-Zeitung und die hatte noch nie etwas mit seriösem Journalismus zu tun (bis auf Ausnahmen vielleicht), aber auch die Welt haut ja inzwischen Artikel am Fließband raus, die sich nicht einmal Mühe geben, ihre völlig einseitige polemische Hetze zu verbergen, wenigstens zu kaschieren, wenigstens den Eindruck von Seriosität zu erwecken. Man versteckt das nicht mehr , man trägt die „Zuspitzung“ und „Provokation“ vor sich her wie ein Gütesiegel.
    Ich finde das beklemmend und unheimlich.

    Natürlich, das ist Presse- und Meinungsfreiheit, aber trotzdem: wie geht eine Gesellschaft mit Hate Speech um, die jenseits von sozialen Netzwerken stattfindet? Die Logik ist ja die Gleiche: Provokation bringt Aufmerksamkeit, bringt Klicks/Absatz und Geld.
    Wie weit müsste die BILD gehen, um auch gesamtgesellschaftlich Empörung zu verursachen?

  7. #7
    Seine Leser wie komplett unterbelichtete Grundschulabbrecher ansprechen und das dann als Volksnähe zu deklarieren, war das nicht das BILD Geschäftsmodell?

    Na ja, ein Teil davon zumindest.

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