Antisemitismus-Vorwurf

Der Fall Nemi El-Hassan und die blinden Flecke

Donnerstag, der 17. Juli 2014 war ein verstörender Tag in Berlin. Auf dem Höhepunkt des damaligen Gaza-Konflikts zwischen Israel und der radikalislamischen Terrororganisation Hamas brüllte ein wütender pro-palästinensischer Mob auf dem Ku‘damm minutenlang „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein.“ Gemeint waren mutmaßlich Gegendemonstranten, in den Augen der Demoteilnehmer offenbar „Juden“, die sich hinter der Polizei versteckten. Die Demo sorgte für einen Skandal, insbesondere, weil die Berliner Polizei keine Volksverhetzung erkennen konnte und nicht einschritt.

Wenige Tage später fand der so genannte Al-Kuds-Tag in Berlin statt, den das iranische Regime nach dem arabischen Namen für Jerusalem seit 1979 als Propagandashow veranstaltet, bei der weltweit für die Befreiung Jerusalems (und Palästinas) aus der Hand der „Zionisten“ getrommelt wird. Seit 1988 beteiligen sich, einem Beschluss der Organisation für Islamische Zusammenarbeit folgend, auch andere islamischen Länder.

Kritiker weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass die zum Teil hasserfüllte und mit dem Verbrennen von Flaggen und Symbolen einhergehende Gegnerschaft zu Israel und den USA Antisemitismus einschließe und fördere. Und so kam es auch 2014 in Berlin zu „Israel-vergasen“- und sogar „Sieg-Heil“-Rufen, wie unter anderem die Nachrichtenagentur dpa berichtete.

WDR setzt Moderationsstart vorerst aus

Nemi El Hassan
Nemi El Hassan Foto: WDR/Tilman Schenk

Die Teilnahme von Nemi El-Hassan an jenem Al-Kuds-Tag vor sieben Jahren ist nun Gegenstand einer heftigen Debatte geworden. Eigentlich hätte die 28-jährige studierte Medizinerin und Journalistin vom November an das Wissenschaftsmagazins „Quarks“ im WDR präsentieren sollen. Nach den Vorwürfen, über die zunächst „Bild“ berichtet hatte, setzte der WDR den geplanten Start vorerst aus. „Die Vorwürfe gegen sie wiegen schwer“, so der Sender in einem Statement. „Es wiegt aber auch schwer, einer jungen Journalistin eine berufliche Entwicklung zu verwehren. Deshalb ist eine sorgfältige Prüfung geboten.“

El-Hassan distanzierte sich am Dienstag zunächst auf Instagram und später auch gegenüber einigen Medien von der Demo. Der Nachrichtenagentur dpa teilte sie mit: „An den Al-Kuds-Demos vor sieben Jahren in Berlin teilzunehmen, war ein Fehler. Keinesfalls habe ich während der Demo antisemitische Parolen von mir gegeben, noch Menschen jüdischen Glaubens körperlich angegriffen.“ Sie sei 20 Jahre alt gewesen und habe sich erst später mit den Hintergründen befasst. Der „Süddeutschen Zeitung“ sagte sie, als Journalistin setze sie sich für eine Gesellschaft ein, „die wehrhaft gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit ist. Es ist daher sehr schwierig dabei zuzusehen, wenn man mich bewertet, ohne meine Arbeit der letzten Jahre zu berücksichtigen.” Für Übermedien war El-Hassan aus terminlichen Gründen kurzfristig nicht zu erreichen.

Wie glaubwürdig ist die Distanzierung?

Doch wir erinnern uns: Ein späterer Außenminister der Bundesrepublik Deutschland verprügelte auf einer Demo einst einen Polizisten – und zwar mit 25 und nicht mit 20. Das soll nicht heißen, Antisemitismus sei eine Jugendsünde – aber natürlich kann in einer Demokratie die berufliche Eignung von Menschen nicht dauerhaft an deren 20-jähriges Ich gekoppelt werden.

Andererseits lassen El-Hassans bisherige Statements und ihr Verhalten durchaus zu wünschen übrig. Es fällt zum Beispiel schwer zu glauben, angesichts der Heftigkeit der Aggressionen und der damaligen Debatte als Teilnehmerin dieser Demo nichts davon mitbekommen zu haben. Nicht besonders glaubwürdig (oder wenigstens sehr ungeschickt) ist, dass seit Montag massive Lösch-Aktionen auf diversen Social-Media-Accounts laufen. So stellte El-Hassan ihren Twitter-Account auf privat, möglicherweise auch, um kompromittierende Likes zu löschen. Ein YouTube-Video von Slam-Poetry-Auftritten, in denen sie gegen Israel polemisierte, wurde ebenfalls gelöscht.

Auf Twitter behauptete der funk-Redakteur Jan-Henrik Wiebe, der mit ihr zusammenarbeitet, ihr Twitter-Account sei „gehackt worden“, Belege dafür konnte er auf Nachfrage nicht nennen. (Nachtrag: Er hat den Tweet inzwischen gelöscht.)

Auch fragt man sich natürlich, warum El-Hassan sieben Jahre brauchte, um sich von ihren damaligen Ansichten zu distanzieren – und warum sie dem WDR erst davon berichtet, als sie im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik steht. Hätte sie nicht gerade jugendliche Radikalisierung auch in ihrer bisherigen journalistischen Arbeit thematisieren können? Zumal, wenn diese in ihren eigenen Worten für eine Gesellschaft steht, „die wehrhaft gegen Rassismus, Antisemitismus und andere Formen der Menschenfeindlichkeit ist“?

Antisemitismus – egal von wem

Es ist in diesem Kontext leider ein bisschen zu einfach, darauf zu verweisen, man habe sich journalistisch schließlich intensiv mit Rassismus und Antisemitismus von Neonazis beschäftigt. Diesen Versuch unternimmt unter anderem das ZDF in Gestalt der „Frontal“-Redaktion, für die El-Hassan ebenfalls tätig war. Unter der hilf- und sprachlosen Überschrift „Nemi El Hassan journalistisch zu Antisemitismus“ heißt es dort auf einer eilig collagierten Seite: „Frontal kennt Nemi El-Hassan als kritische Journalistin, die sich in ihrer Arbeit immer wieder mit Extremismus, Rassismus und Antisemitismus auseinandergesetzt hat.“ Und dann folgt eine Auflistung ihrer Beiträge.

Doch darum geht es nicht. Es gibt einen Antisemitismus jenseits der Radikalen Rechten, und zwar sowohl in linken Kreisen als auch bei muslimischen Jugendlichen und militanten Islamisten. Immer wieder kommt es aus diesen Milieus heraus zu verbalen und zum Teil auch schweren körperlichen Angriffen auf als Juden erkennbare Menschen in Deutschland und Europa. Laut der EU-Grundrechts-Agentur, die regelmäßig Studien zum Antisemitismus in Europa durchführt, beklagten vor drei Jahren 89 Prozent der jüdischen Befragten eine Zunahme des Antisemitismus. In Frankreich führten Morde, Terroranschläge und Alltags-Antisemitismus nach unterschiedlichen Schätzungen seit dem Jahr 2000 zur Auswanderung von 50.000 bis 150.000 Juden nach Israel und in die USA.

Eine Frage ist also, ob sich junge und diverse Formate des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, zum Beispiel bei funk, ausreichend mit Antisemitismus beschäftigen – oder zumindest gleichwertig mit anderen Formen von Diskriminierung. Eine Google-Suche über die gesamte Domain von funk.net, die natürlich keine empirische oder qualitative Analyse ersetzt, ergibt ca. 2.440 Ergebnisse für Rassismus, 1.560 für Sexismus und 232 für Antisemitismus. Ein Ergebnis, über das man zumindest mal nachdenken könnte.

Wer hinterfragt palästinensische Legenden?

Es existiert nämlich tatsächlich ein immenser blinder Fleck einiger pro-palästinensischer Stimmen, die in den vergangenen Jahren ihren Weg in mediale Kanäle (zumeist öffentlich-rechtliche) gefunden haben: Während diese von ihrem (bio-)deutschen Publikum zu Recht einen Perspektivwechsel einfordern, um sich auf migrantische, schwarze oder palästinensische Erfahrungen einzulassen, bleiben sie exakt dieses Hinterfragen im Hinblick auf die Tradierung palästinensischer Mythen schuldig.

Diesen Punkt macht unter anderem „Welt am Sonntag“-Chefredakteur Johannes Boie in einem Twitter-Thread, der darauf verweist, wie stereotyp die Israel-vs-Palästina-Erzählung in einem alten Video von Nemi El-Hassan ist:

Diese Kritik wird nicht zum ersten Mal artikuliert, nicht nur, aber insbesondere von Springer-Redakteuren:

Freund-Feind-Schema statt ernsthafter Debatte

Doch eben weil die Kritik hauptsächlich von Springer kommt, kann man statt einer ernsthaften Diskussion auf bekannte Reflexe setzen: So verweist der Journalist Martin Eimermacher exemplarisch darauf, dass zeitgleich zur Kritik an El-Hassan der Schweizer Rechtspopulist, Verleger und SVP-Nationalrat Roger Köppel zu Gast bei „Bild“-TV auftrete. Eimermacher sieht in der Kritik an El-Hassan daher nichts weiter als ein weiteres Beispiel einer Kampagne des Hauses Springer gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Dabei wäre es an all den passionierten Springer-Kritikern, notwendige Debatten eben selbst zu führen, statt darauf zu verweisen, dass man sie sich nicht von „Bild“ aufzwingen lasse. In einem mehrteiligen Thread macht die Twitter-Nutzerin Polly Girl eloquent auf dieses Problem aufmerksam:

Wir müssen uns streiten

Denn der Fall El-Hassan verweist auf einen grundlegenden Konflikt einer sich verändernden (Medien)-Gesellschaft: „Diversity“ fordern und fördern heute viele, aber nur langsam dämmert, dass diese Diversität auch damit einhergehen könnte, dass nicht alle Menschen mit denselben politischen Grundkoordinaten aufwachsen wie die sich selbst gerne als „Mitte“ sehende, bürgerlich-weiße Mehrheitsgesellschaft. Zwar ist auch diese Mitte eine Chimäre, wie zahlreiche Studien zum „Extremismus der Mitte“ zeigen.

Aber gehen wir einmal davon aus, dass die Solidarität mit Israel mit Angela Merkel gesprochen tatsächlich Teil „deutscher Staatsräson“ nach 1945 ist. Wie und warum sollte diese auch Teil des Wertekanons in palästinensischen Familien sein, die eine Flucht- und Leidensgeschichte mit dem israelischen Staat verbindet? Man muss nicht paternalistisch-rassistisch werden („so sind die halt, die können nichts dafür“), um anzuerkennen, dass hier tatsächlich Erfahrungshorizonte auseinander klaffen. Was wiederum nicht bedeutet, dass man anti-israelische und auch antisemitische Tradierungen in diesen Milieus nicht kritisieren kann und muss.

Gleichzeitig pflegen Teile der medialen Mehrheitsgesellschaft geflissentlich ihre eigenen blinden Flecke, nicht nur was die immer noch mangelhafte Repräsentation von Muslimen und People of Color angeht. Umso kritischer werden diejenigen beäugt, die es geschafft haben. Die muslimische Journalistin Kübra Gümüşay, der einige Kritiker ebenfalls eine problematische Nähe zu türkischen und fundamentalistischen Institutionen anlasten, brachte diesen Druck auf die Formel: „Wenn ich bei Rot über die Ampel gehe, breche nicht nur ich die Verkehrsregeln, sondern alle Musliminnen in Deutschland.“

Permanent lauert der Vorwurf, ein islamistisches U-Boot zu sein, permanent wird der eigene Erfolg und die eigene Leistung infrage gestellt („Quotenmigrantin“), permanent wird die Debatte von rechts mit Islamophobie und Rassismus aufgeladen.

Und hier hat Nemi El-Hassen einen sehr wichtigen Punkt: Ihre Teilnahme ist sieben Jahre her. Sie hat seitdem kein einziges journalistisches Produkt abgeliefert, das den Vorwurf untermauern würde. Sicher, ihre wohlwollende Interpretation von „Dschihad“ als inneren Kampf um eine gottgefällige Lebensführung mag man problematisch finden, wenn dabei ausgeblendet wird, dass es durchaus andere Interpretationen gibt. Aber darüber kann man doch genauso offen und ehrlich diskutieren wie über einseitige Perspektiven auf den Nahost-Konflikt. Doch am Anfang der Debatte stehen stattdessen Forderungen nach einer Art Berufsverbot und ein Social-Media-Shitstorm.

Es wäre dagegen überaus interessant, sich mit Nemi El-Hassans Position zu beschäftigen, zu fragen, warum sie heute offenbar kein Hijab mehr trägt, wie sich ihre Position verändert hat, wie sie das Spannungsfeld eigener Palästina-Solidarität im Verhältnis zu Juden sieht, die einen völlig anderen Erfahrungshorizont haben und so weiter. Letzteres ist in einer Gesellschaft, die nun einmal so divers bleiben wird, auch der einzige Weg: Wir werden uns über das deutsche Verhältnis zu Israel streiten müssen, politisch wie medial – und gleichzeitig eine klare Abgrenzung zum modernen europäischen Antisemitismus finden müssen, zu dem eben leider auch ein pro-palästinensisch geprägter gehört.

Nachtrag/Korrektur, 12:30 Uhr. Wir hatten zunächst das Alter von Nemi El-Hassan falsch angegeben.

Nachtrag/Korrektor, 17. September. Wir haben die Altersangaben leider nochmal korrigieren müssen: El-Hassan war nach eigenen Angaben 20, als sie an der Al-Kuds-Demonstration teilnahm. Jetzt ist sie 28 Jahre alt.

28 Kommentare

  1. Das hamse sehr gut gemacht beim Springerverlag. Schließlich wollen wir linksgrünen Gutmenschen uns ja nicht vorwerfen lassen müssen, dass wir muslimischen Judenhass ignorieren würden.

    Nicht vergessen: Das ist sehr wichtig, weil Julian Reichelt es sagt. Bitte noch 6 Artikel dazu veröffentlichen, damit jeder, aber auch wirklich jeder mitkriegt, was für ein unglaublich relevantes Thema muslimischer Judenhass ist.
    Nicht dass jemand mal den Juden- (und Moslem-)Hass in Springermedien beleuchtet oder so. Muslimischer Judenhass, das ist wichtig.

    Kommt irgendwann noch mal eine Zeit, in der sich nicht das ganze Mediengeschäft vom Organ der Niedertracht durch die -ismen der Nation treiben lässt?
    Dass man bei Springer durchweg unmoralisch handelt, weiß man ja. Ist man dran gewöhnt. Die sind halt so. Muss man akzeptieren. Kannerjanixfürdasserbeißtisthalteinkampfhund. Ja nu, ist halt die die Bild, die wollen ja nur Kunden am rechten Rand abfischen, da müssen wir nen Auge zudrücken wenn die Verschwörungsgelaber mit Weltjudentum und Islamisierung verbreiten.
    Aber wehe eine Moderatorin im ÖRR hat mit 12 Jahren mal was vom älteren Bruder nachgeplappert! Dann kommt Julian Reichelt höchstpersönlich und schwingt die Moralkeule. Und alle, alle, wirklich alle so: Ja stimmt, die Moralkeule ist voll angebracht, egal ob Julian sie höchstpersönlich schwingt. Einer muss sie doch schwingen! Judenhass von Moslems, das ist wirklich wichtig. Bald kommt ein Interview von Reinhold Beckmann zum Thema. Mit Julian Reichelt, der Tränen in den Augen hat, weil er sich um die Zukunft unseren schönen Vaterlandes sorgt. Muss man ja auch mal beleuchten wegen balance und so.

    Sorry, aber was sinnvolleres, als Zynismus kann ich hier nicht aufbringen.
    Muslimischer Judenhass, Top Problem der Deutschen mitten im Wahlkampf. und alle machen mit.

  2. hat jemand eine idee, wie eine abkehr von islamismus und antisemitismus im konkreten falle glaubhaft gemacht werden kann? ich hab keine.
    jede/r lernt und entwickelt sich. da sollte eine chance drin sein.

  3. Mit 19 bei Al-Kuds mitzulaufen ist natürlich ungeschickt, wenn man mit 28 ÖRR-Moderatorin werden möchte und als generalverdächtige Muslima konstant unter Springerbeobachtung steht.

    Andererseits ist es – auch ohne Al-Kuds – seit jeher ein Ritt auf der Rasierklinge gewesen, sich in Deutschland öffentlich für das palästinensische Volk einzusetzen. Das schafft hier kaum jemand, ohne Schaden zu nehmen. Was ich schade finde.

  4. @Anderer Max (#1)

    „Muslimischer Judenhass, Top Problem der Deutschen mitten im Wahlkampf.“

    Tipp für einen Feldversuch: Einen Tag lang mit einer Kippa auf dem Kopf z.B. durch Neukölln laufen. Dann würden Sie die Sache vermutlich anders betrachten.

  5. Gedankenspiel: Was wäre wohl, wenn sie 2014 an einer Pegida-Demo teilgenommen hätte?
    Für mich ist, wie auch im Artikel geschrieben, die halbherzige Distanzierung der entscheidende Punkt. Es wirkt wie eine notwendige Formalie, um an einen gut bezahlten Job zu kommen. Es ist richtig, dass der WDR auf ihre Moderation bei „Quarks“ verzichtet.

  6. Weil Joschka Fischer sich mit Polizisten geprügelt hat, ist die Teilnahme an ein Al-Quds-Demo gerechtfertigt?
    Wenn schon „die aber auch!“, dann doch bitte mit einem Äquivalent. Das wäre, dass Fischer in jungen Jahren mal Skinhead gewesen wäre und auch bei entsprechenden Aufmärschen mitgemacht hätte.

    Dass sich El-Hassan oder sonst ein Mensch politisch ändern kann, ist davon auch unabhängig. Fischer z.B. war früher für Gewalt gegen Personen und später hat er einer Beteilung Deutschlands an kriegsähnlichen Umständen zugestimmt. Sie sehen, Fischer ist eigentlich kein gutes Beispiel.

  7. „Eine Google-Suche über die gesamte Domain von funk.net, die natürlich keine empirische oder qualitative Analyse ersetzt, ergibt ca. 2.440 Ergebnisse für Rassismus, 1.560 für Sexismus und 232 für Antisemitismus. Ein Ergebnis, über das man zumindest mal nachdenken könnte.“

    Mit Verlaub, das ist doch albern.
    Als Autor, vor allem in einem reflektierten Artikel über eine sensible Thematik sollte man sich es wirklich zweimal überlegen ob man sich mit so etwas für Kritiker angreifbar machen will, zumal der Abschnitt wirklich nicht den Gotcha-Effekt mit sich bringt der sich wohl vorgestellt wurde.

  8. @ #5: Möglich. Würde ich Berliner Integrationsprobleme auf ganz Deutschland projizieren, wie es mittlerweile üblich ist für Hauptstadtjournalismus, egal aus welcher Richtung?
    Sorry für die Bitterkeit, aber muss man immer die Extrembeispiele nehmen und so tun, als sei das überall Realität? Das ist doch gerade Bildzeitungsniveau. Meine Heimatstadt kennt man aus der Bild nur von einem „Verkehrskollaps“ der hier mal vor 10 Jahren stattgefunden hat und es im Sommerloch auf die Titelseite schaffte! Yay! Der Verkehrskollaps existierte aber gar nicht. In Wirklichkeit war eine von 3 Autobahnabfahrten kurzzeitig gesperrt und der Verkehr auf dem Ring hat sich ein bisschen mehr gestaut, als sonst. Ich glaube denen gar nichts mehr, egal bei welchem Thema.

    Was ich eigentlich sagen wollte (und ja, mein gestriger Beitrag ist mir selbst etwas peinlich):
    Judenhass / Moslemhass / Fremdenhass ist keine „Religion A vs. Religion B“ Sache sondern eine „Menschen sind scheiße“ Sache. Religion / jeder weltanschauliche Überbau nimmt einem nur die Notwendig ab, Verantwortung für sich selbst und sein scheiß verhalten übernehmen zu müssen. Wir alle müssen uns mal wieder als Menschen betrachten, nicht als Juden, Querdenker, Polizisten, Partei-X Wähler.
    Und wenn eine 19-jährige bei Extremisten mitgelaufen ist, kann sie durchaus mit 28 qualifiziert sein, einen Moderationsjob im ÖRR anzunehmen. Die einzigen die das skandalisieren, sind die, die sich auch Verkehrskollapse ausdenken, weil sie nichts besseres zu tun haben.
    Wer A sagt, muss nicht B sagen.

  9. Hallo,

    Ich begebe im Rahmen von Frau Nemi El-Hassan aufs Glatteis, da es sich durchaus um gefährliches Halbwissen handelt. Jedoch möchte ich meine Sicht der Dinge teilen.

    Ich bin sehe die Teilname einer Demonstration mit 19, auf welcher ganz klar antisemitische Parolen skandiert wurden, ebenfalls problematisch.

    Jedoch ist es auch so, dass ich auf noch keiner Demonstration war, auf welcher nicht (irgendwelche) mir gegen den Strich gehende Parolen gebrüllt werden/wurden.

    Es ist leider meist ein Charakter von Demonstrationen, dass dort viele Interessengruppen zusammen kommen. Diese haben häufig ein ähnliches Ziel, was sie erreichen wollen. Die Wege, die sie bereit sind zu beschreiten unterscheiden sich jedoch meist. Teilweise gehen „diese Wege“ doch sehr weit auseinander. Dennoch ist dies für mich meist kein Grund eine Demonstration zu verlassen, weil ich in diesem Moment auf Grund des Ziels und nicht im Hinblick auf den zu beschreitenden Weg dabei bin. Und nein: der Zweck heiligt nie alle Mittel. Aber würde man diesem moralischen Credo stets dogmatisch folgen, wären die meisten Demonstrationen eher mit ausgedünnten Trauermärschen vergleichbar.

    Und nun zurück zum hier vorliegenden Fall. Ich unterstelle einer 19 Jährigen einfach mal, dass es durchaus möglich ist – in diesem Alter – weit weniger reflektiert zu sein als man es etliche Jahre später ist. Des Weiteren bin ich bereit zu akzeptieren, dass mit hinzugewonnenen Erfahrungen auch ein mentaler Reifeprozess einsetzen kann.

    Auch bin ich nicht der Meinung, dass ich meinem Arbeitgeber nicht darüber informieren muss, wann im Leben ich an welcher Demonstration teilgenommen habe.
    Wenn die Aussage stimmen sollte, dass ihr der zur Schau gestellte Antisemitismus in diesem Alter aus welchen Gründen auch immer nicht bewusst war (oder einfach nicht im Vordergrund der sich bei Ihr eingebrannten Erfahrungen der Geschehnisse stand), aus welchem Grund sollte sie sich dann viele Jahre später – aus eigener Initiative – für eine Demonstrationsteilname rechtfertigen (bzw. es ihrem Arbeitgeber mitteilen)?

    Gräbt man nur tief genug, wird man wohl bei jedem erwachsenen Menschen Verfehlungen irgendwelcher Art in dessen Vergangenheit finden. Wir leben und lernen (hoffentlich).

    Aber all diese Gedankenstriche kommen ohne konkretes Faktenwissen, aus dem Bauch heraus. Sollte ein Mensch eine wie auch immer geartete antisemitische/rassistische/etc. Gegenwart haben, hat er selbstredent nichts bei den öffentlich-rechtlichen verloren.

  10. @Kreymeier: Echt jetzt? Wenn ich mir überlege, was ich mit 20 alles gemacht habe… Auf linken Demos „Schlagt die B*llen platt wie St*llen!“ Und jetzt sitze ich hier, als Accounter im mittleren Management eines M-DAX Unternehmens, verheiratet, zwei Kinder, solide Altersvorsorge. Und meine Teilnahme an den Demos Anfang der 90er bereue ich trotzdem nicht. Das war halt ich mit 20. Heute kenne ich persönlich Polizisten und habe Respekt vor ihnen und ihrer Arbeit.

    Aber Hauptsache schön rumtröten: „Aber Pegida, Pegida!“ Lächerlich. Kennen Sie jemanden, der 2014 dort mitgelaufen ist und sich heute glaubhaft davon distanziert?

  11. @ #11: Die gibt es sicherlich und auch die haben eine Chance verdient, dass ihre Jugendsünden nicht ihr ganzes Leben überschatten. Eben darum braucht es ja auch Programme wie EXIT.

  12. Das ist leicht. da muss ich nicht raten: Terroralarm in Hagen! Wollte er eine Synagoge in die Luft sprengen?

  13. Scheint zumindest so.
    Vor der Synagoge hatte sich die Polizei schon so ein Zeltdach aufgestellt, weil die da seit Monaten rund um die Uhr Wache schieben – wenn nicht gerade alles überflutet ist – und jetzt hatte man wohl Hinweise bekommen. Zu Jom Kippur natürlich. Hauptverdächtiger ist 16.

    Ungeachtet der Personalie El Hassan: Möglicherweise wird Antisemitismus (mit oder ohne einschränkenden Adjektiv) bei Funk vllt. wirklich zu wenig behandelt.

  14. Tatsächlich habe ich auch erst von den verschiedenen Interpretationen des Dschihads vor einigen Jahren erfahren, ich meine von einer Sendung auf Arte oder 3sat. In der verkürzten Darstellung der meisten Medien kamen die anderen nichtmilitärischen Interpretationen (https://de.wikipedia.org/wiki/Dschihad#Nichtmilit%C3%A4rische_Auslegungen_des_Dschihadbegriffs) überhaupt nicht vor. Mir ist nicht bekannt, wie verbreitet, welche Auslegung in den verschiedenen Glaubensgemeinschaften ist. Die Erkenntnis machte ich jedoch vorsichtiger und spricht für die Aufforderung des obigen Artikels lieber etwas differenzierter über die Themen und Personen zu sprechen und zu berichten.

  15. Ich erinnere mich, einmal Portraits über Glaubensgemeinschaften im Ort gemacht zu haben. Oder besser versucht habe zu mache. Während mich alle Gemeinden mit offenen Armen freudlich empfingen, stand ich bei der jüdischen Gemeinder vor verschlossenen Türen. Zu der Zeit hatte ich mir meine langen Haare abgeschnitten und einen Kurzhaaarschnitt zugelegt. Begründung des Rabbi am Telefon: „Ja, das waren Sie vor unserer Tür (Kamera). Das tut uns leid, da möchten wir keine Interview geben.“ Soviel zu Toleranz und Wahrnehmung innerhalb Deutschlands.
    Aber was mich noch viele mehr interessiert: Wer erklärt mir denn endlich mal, wie ich Kritik an Israel äußern kann, ohne in die Schublade „Antisemit“ zu rutchen.
    M.E. leben wir in einer Zeit, in der uns die Tabuisierungen unserer Väter und Mütter vor die Füße fallen. Statt diese ab- oder aufzulösen, latschen die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft fröhlich weite auf dem Pfad der Tabuisierung.

  16. Ja, wenn ein Rabbi sich von Ihnen nicht interviewen lassen möchte ist die Toleranz wohl am Ende.

    Grundgütiger.

    Wenn ich mir allerdings anschaue, wie Ihr Kommentar dann weitergeht nehme ich mal an, dass der Rabbi wohl alles richtig gemacht hat.

  17. Wer erklärt mir denn endlich mal, wie ich Kritik an Israel äußern kann, ohne in die Schublade „Antisemit“ zu rutchen.

    Ich:
    – definieren Sie, wen oder was genau Sie mit „Israel“ meinen: die aktuelle Regierung, die Rechtsprechung, die Bevölkerung, eine frühere Regierung, eine bestimmte Person oder Personengruppe
    – definieren Sie, was genau der Fehler ist: ein Gesetz, das Essen, die dortige Mehrwertsteuer, die Innenpolitik, die Außenpolitik oder was auch immer
    – definieren Sie, was sie besser fänden

    Dieselben Schritte gelten auch für Kritik an anderen Ländern.

  18. Ich räume ein von der Radikalität der Pro Palästinensischen Demonstrationen in diesem Ausmaß wenig wahrgenommen zu haben „Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein.“ und die anderen zitierten Sprüche sind stärkster antisemitischer Tobak und die Tatenlosigkeit der Ordnungskräfte liegen ganz in der deutschen und auch europäischen Tradition der Verharmlosung des Dauerbrenners „Antisemitismus“ in der EU. Das damit ausgesendete Signal staatlicher Organe hier die Grenze aufzuzeigen lässt diese Demos in der Art einer Fussballfolklore erscheinen.
    Ob man, wenn man in einer Demo mitläuft, über die Dauer der Demo alles mitbekommt und einordnet, was da so von den Gruppen skandiert wird, wage ich zu bezweifeln, wenn es eine grössere Menschenansammlung ist. Und mit „grösser“ meine ich: mehr als ca. 400, ab da wird es unüberschaubar. Aber das wird Teilnehmern dann hinterher gerne unterstellend vorgehalten. Und wenn jemand mit 20 in eine Moschee geht, die aus politischer Perspektive von einem unliebsamen Regime beeinflusst wird, kennt er mit Sicherheit die politischen Hintergründe noch nicht ( der katholisch Gläubige schickt seine Kinder immerhin schon mit 8 Jahren zur Firmung in einen Verein potentieller Kinderschänder).

    Grosser Mist ist es, dass es wieder mal die „Bild“ ist, die sich das als Enthüllungsjournalismus auf die Fahne schreiben kann und den Rest der journalistischen Welt als Schlafmützen, Ignoranten oder Vertuscher hinstellt.

    Und wenn sich einer mit einem Polizisten prügelt, ist das nicht im Sinne des Gesetzgebers, aber nicht mit rassistischen Auswüchsen in einer Demo vergleichbar – die Gewalt geht vom Staate aus, so steht‘s im Grundgesetz und der Polizist ist Repräsentant des Staates und muss dafür die Wut gewalttätiger Demonstranten, die dem Staat im wahrsten Sinne des Wortes die Faust zeigen, herhalten. Auch die Sprüche wie „Haut die Bullen platt wie Stullen“ passen in diesen Kontext.

    Das halte ich für eine Schlüsselaussage
    „….aber nur langsam dämmert, dass diese Diversität auch damit einhergehen könnte, dass nicht alle Menschen mit denselben politischen Grundkoordinaten aufwachsen“.
    Dazu muss man sich in Deutschland endlich einmal von seinem selbstverliebten Blick auf „Wirtschaftswunder“, „Friedliche Revolution“ und dem deutschen Einheitsgemeiere verabschieden. Das ist immerhin jetzt 30 Jahre her.
    Mir hat der Beitrag Andrej Raisins viel gebracht.

  19. #17: das ist alles nicht so einfach.
    zur Empfehlung von #19 möchte ich ergänzen:
    folgen Sie Meron Mendel (Bildungsstätte Anne Frank), lesen Sie mal in der „Jüdischen Allgemeinen“.

  20. „Ich räume ein von der Radikalität der Pro Palästinensischen Demonstrationen in diesem Ausmaß wenig wahrgenommen zu haben“ Und?
    „Und wenn jemand mit 20 in eine Moschee geht, die aus politischer Perspektive von einem unliebsamen Regime beeinflusst wird, kennt er mit Sicherheit die politischen Hintergründe noch nicht“ Dann sollte man das Wahlalter auf 21 erhöhen?
    „der katholisch Gläubige schickt seine Kinder immerhin schon mit 8 Jahren zur Firmung in einen Verein potentieller Kinderschänder“ Häh? Kindergarten ist ab 3 (oder noch jünger), Grundschule ab 6.

  21. #22
    mit meinen Empfehlungen möchte ich lediglich zum Ausdruck bringen, dass man im Zweifel gut beraten ist, sich die Wahrnehmungen der Betroffenen zu Gemüte zu führen, um eine Einordnung vorzunehmen.

    #23
    Häää?

  22. „Häää“ – Das war Ironie. Sie reproduzieren das eine Narrativ, ohne es zu hinterfragen, weshalb ich annehme, dass sie auch an anderer Stelle Narrative glauben.

  23. @17: Jaja, Antisemitismus hin oder her, das wahre Problem ist natürlich, dass diese eine Gemeinde keinen Bock hatte, Ihnen die Tür zu öffnen. DAS ist das wahre Problem, über das natürlich niemand spricht, weil Tabuisierungen und so.
    Und zur Frage, wie man Israelkritik äußern könne – vielleicht erstmal überlegen, warum man es unbedingt Israelkritik nennen möchte. Sie sprechen ja auch nicht von Frankreichkritik. Oder verbinden Ihr eines Erlebnis mit einem Franzosen, der Sie nicht in seine Gemeinde lassen wollte, mit Ihrer allgemeinen Kritik an Frankreich, der französischen Bevölkerung, Lebensart usw. und beklagen sich, dass man ja gar nicht wisse, wie man diese Kritik anbringen solle, ohne gleich angefeindet zu werden.

  24. #25 Gut. Und danke für die Erläuterung.
    Was ich zum Ausdruck bringen wollte: ich persönlich habe mehrere Anläufe gebraucht, um Feinheiten im Antisemitismus zu verstehen. Und ich finde es schwer diese Komplexität jungen Menschen gut zu vermitteln – auch vor der Gründungsgeschichte des heutigen Staates Israel.
    Wie #4 schreibt: ein Ritt auf der Rasierklinge.

  25. „ich persönlich habe mehrere Anläufe gebraucht, um Feinheiten im Antisemitismus zu verstehen.“ Antisemitismus ist keine Raketenwissenschaft. „Juden=böse“ ist das ganze Formelwerk, was man für die Antisemitismusprüfung braucht.

    „Wie #4 schreibt: ein Ritt auf der Rasierklinge.“ Ok, man sollte sich von klassischen gut-böse-Schemata fernhalten, und man sollte generell sauber formulieren, was und wen man kritisiert. Aber das halte ich für „Hürden“, die man auch in anderen Situationen nehmen sollte, insofern ist das Problem überschaubar.
    Wenn bei einer Demo gegen Tierversuche plötzlich judenfeindliche Sprüche skandiert werden, weil sie von Judenhassern gekapert wird, ist man als normaler Demonstrant sicher nicht in Sippenhaft zu nehmen. Die Veranstalter evt. schon, aber das kommt auf den Einzelfall an.
    Wenn bei einer Al-Quds-Demo das passiert, konnte man damit rechnen. Vom Thema her, von der Einstellung der Veranstalter her, von dem her, was man über viele der Demonstranten weiß.

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