Die Podcast-Kritik (59)

„Blind Guy Travels“ zeigt Sehenden, wofür sie blind sind

Logo "Blind Guy Travels" mit lachendem Podcasthörer

Podcasts sind ein visuelles Medium, weil sie Bilder im Kopf entstehen lassen. Ich fand diesen Satz eigentlich immer ziemlich klug. Bis ich den Podcast „Blind Guy Travels“ gehört habe, der mir den Spruch ordentlich versaut hat.

Schuld ist Matthew Shifrin, der seit Geburt blind ist und mich mit seinem Podcast zum Perspektivwechsel zwingt: Die berühmten Bilder im Kopf entstehen so schnell und selbstverständlich nur bei Sehenden. Und auch sonst machen wir Sehenden uns die Welt ziemlich bequem und einfach, ohne es überhaupt zu merken.

„Blind Guy Travels“ ist eine leichtfüßige englischsprachige Miniserie, die von den Hörer*innen nicht viel erwartet außer ein ein bisschen Neugier, und trotzdem zum Nachdenken anregt. Der Podcast kommt ohne erhobenen Zeigefinger und Schwere daher, dafür mit viel Humor. Eine spielerische Annäherung an gesellschaftliche Fragen rund um Inklusion, Teilhabe und Normen.

Überzeugt hat mich „Blind Guy Travels“ schon damit, dass die erste Episode gerade einmal zwei Minuten lang ist. Und nein, sie ist kein Trailer mit einem Best-of-Zusammenschnitt. Matthew Shifrin lenkt darin unsere Aufmerksamkeit auf ein kleines Klicken, das kaum zu hören ist.

Es ist das Klicken des Braille-Computers, von dem er seinen Text mit den Fingern abliest und dessen haptisches Braille-Display nur 34 Zeichen anzeigen kann. Klick, bevor er zu den nächsten 34 Zeichen kommt. Hätte er dieses Klicken nicht so bewusst erwähnt, hätte ich es nicht einmal bemerkt. Und ehrlich gesagt hätte ich dann nicht eine Sekunde darüber nachgedacht, wie es ist, wenn selbst die Zeichenlänge eines Tweets quasi über siebeneinhalb Seiten gescrollt werden muss.

Dieses Mini-Intro setzt nicht nur den Ton für die folgenden Episoden, sondern zeigt auch gut, dass der Podcast jede Sekunde nutzt und füllt. Zwei Minuten für die erste Anekdote samt Aha-Effekt. Gegen so viel Effizienz wirkt das Intro vor dem Intro bei den Episoden von „Cui Bono“ wie ein langgezogener Kaugummi.

Faltenlos dank fehlender Mimik

Ab der ersten Sekunde ist der Host Matthew Shifrin ein sympathischer Erzähler, neugierig und positiv. Er nimmt sich selbst als Blinder auf die Schippe – und hinterfragt dann mit spitzen Formulierungen die sehende Mehrheit, ohne anzuklagen. Das Skript ist fast schon literarisch, mit Metaphern und Vergleichen, wird aber aufgelockert von Stand-up-reifen Anekdoten.

So beginnt er die erste reguläre Episode damit, dass er in seinem Leben nie Mimik gesehen hat und deswegen die wahrscheinlich faltenfreieste Stirn überhaupt habe. Denn wer Mimik nicht sieht, benutzt sie abgesehen von Reflexen kaum – weshalb er physisch gar nicht in der Lage sei, eine Sorgenfalte mit den Augenbrauen zu bilden oder einen ganz Tag lang freundlich zu lächeln. Die gesellschaftliche Erwartung sei aber eben, dass er mit aktiver Mimik zuhört, wenn mit ihm gesprochen wird. Menschen sagen ihm, sein „resting bitch face“ sei manchmal auch gruselig.

Den meisten Spaß hatte ich mit dieser zweiten Folge. Matthew Shifrin soll einen TED-Talk halten, weil er mit einer Freundin die optischen Lego-Bauanleitungen in Worte fasste und verschriftlichte, sodass auch blinde Menschen die richtigen Legosteine in der richtigen Reihenfolge zusammensetzen konnten.

Das Problem an diesem Vortrag: Shifrin fehlt nicht nur die Mimik, er hat in seinem Alltag auch nie eine bühnentaugliche Gestik entwickelt. Das geht vielen Menschen so; für ihn ist der Weg dorthin nur ein bisschen länger. Es ist ein großes Vergnügen, dem aufwendigen Lernprozess zuzuhören, wie er die passenden Gesten für seinen Vortrag mit einer Trainerin übt, choreografiert und dann auswendig lernt: Ellenbogen im rechten Winkel, Hand zur Faust, schlagende – nein – eher weich pumpenden Auf- und Ab-Bewegungen. Dabei erst Daumen, dann Zeigefinger, dann Mittelfinger strecken. Fertig ist die Geste, um drei Dinge aufzuzählen.

Herantasten an die Aha-Momente

Am Ende gelingt der Vortrag dank der Vorbereitung. Shifrin ist einerseits stolz, eine Körpersprache mit vielen Gesten für den gesamten Vortrag entwickelt zu haben. Und andererseits traurig, dass sie am Ende niemand im Publikum bemerkt, weil sie so natürlich wirkte und als selbstverständlich wahrgenommen wird.

Es macht Spaß, mit dem Podcast über solche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, Reflexe und Automatismen zu stolpern. „Blind Guy Travels“ teilt die Welt in genaueste Detailbeobachtungen. Matthew Shifirn malt im Podcast die Welt mit der feinsten Pinselspitze – während wir Sehenden staunend mit unserer fetten, tropfenden Malerbürste danebenstehen.

Ähnlich subtil ist auch die Umsetzung des Podcasts: Kein Wort zu viel, nichts ist übererklärt, eher Mut zur Lücke und Pause, zurückhaltender Musikeinsatz. Ich werde zu den Aha-Momenten geführt. Erleben darf ich sie dann alleine, ohne die pädagogische Begleitung des Hosts, der mich mir nochmal sagen muss, welchen Punkt er damit machen wollte. Ich erlebe mit dem Podcast Alltägliches wie Gestik, Legosteine, Kinofilme und Dating auf eine ganz neue Weise und bemerke Dinge, die mir sonst nie aufgefallen wären.

„Blind Guy Travels“ wurde im Juni auf dem Tribeca Film Festival präsentiert, das zum ersten Mal in seiner Geschichte ein eigenes Programm für Podcasts anbot. Audio gleichberechtigt auf einem renommierten Filmfestival, das ist schon eine bemerkenswerte Randnotiz für sich. Und dieser Podcast lebt fast allein von Multitalent Shifrin, der die Musik des Podcasts selbst komponiert und auf Klavier und Akkordeon eingespielt hat.

Gute Förderer Radiotopia & PRX

Radiotopia, das Podcastlabel für Autor*innen-Produktionen, verschafft „Blind Guy Travels“ und seinem Macher zurecht die große Bühne. Der Schaufenster-Podcast „Radiotopia Presents“, in dem jetzt wieder mehr solcher unabhängigen Serien erscheinen sollen, ist ein scheinbar beliebiges Sammelbecken – auf dessen Qualität ich aber blind vertraue, weil Radiotopia zuverlässig ein gutes Händchen beim Kuratieren von bemerkenswerten Idee hat. Das Podcast-Label unterstützte Shifrin mit dem preisgekrönten Producer Ian Coss, der auch schon am genialen „Ways of Hearing“ mitarbeitete. Nach den viel zu kurzen Episoden hoffe ich sehr darauf, dass „Blind Guy Travels“ jenseits der Miniserie weiterlaufen wird, ob nun mit dauerhafter Unterstützung von Radiotopia oder nicht.

So ein Podcast-Inkubator fehlt hierzulande. Eine Keimzelle für Podcasts und Macher*innen, die weder den gängigen Mustern entsprechen noch die klassischen Audio-Laufbahnen im Lebenslauf mitbringen müssen, die aber trotzdem gefordert und gefördert werden. PRX und Radiotopia sind in den USA langsam gewachsen, bereichern aber seit langem nachhaltig die US-Podcastlandschaft, inhaltlich wie künstlerisch.

Hierzulande sehe ich das als bisher verpasste Chance der Öffentlich-Rechtlichen. Die haben bisher kaum gemeinsame Infrastruktur für Podcasts aufgebaut, weder technisch noch inhaltlich. Es wäre eine Chance und Bereicherung, wenn sich die Sender stärker als Anlaufstelle für Ideen und Inhalte verstehen würden.

Die BBC sucht gerade nach Podcast-Ideen, die begleitet, weiterentwickelt und bei der BBC gesendet werden können. Weniger Sendebewusstsein, mehr Empfangsbereitschaft. So könnten auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland neue Podcasts ermöglichen und populär machen – besonders Themen und Konzepte, die nicht mit Werbung oder den tiefen Taschen der Plattformen finanziert werden können.

Stattdessen leisten sich die Sender momentan das Schlechteste aus zwei Welten: Ein föderales System, das kaum regionale Podcasts schafft – und lauter Landesrundfunkanstalten, die bei Podcasts auf dasselbe bundesweite Publikum schielen. Teilweise sogar in Konkurrenz zueinander, um Reichweiten, Formate und Namen. „Blind Guy Travels“ zeigt, dass es für gute Podcasts manchmal gar nicht mehr braucht als ein offenes Ohr für selten gehörte Perspektiven.


Podcast: „Blind Guy Travels“ von PRX & Radiotopia

Episodenlänge: 6 Folgen, jeweils circa 25 Minuten

Offizieller Claim: Life without sight

Inoffizieller Claim: Was die sehende Norm nicht an der Welt bemerkt

Wer diesen Podcast mag, hört auch: Die 2017er-Radiotopia-Serie „Ways of Hearing“ über das Hören, „Die Neue Norm“ zu Vielfalt, Normen und das Leben von Menschen mit Behinderung, „Radiorebell“ zu Autismus

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