Earlonne Woods wurde in den USA zu 31 Jahren Haft verurteilt. Wegen Mordes? Vergewaltigung? Nein. Seine hohe Haftstrafe kam durch das sogenannte „Three-strikes law“ zustande. Wer dreimal verurteilt wird, bekommt beim dritten Mal eine extrem harte Strafe. So ist das in Kalifornien. Ganz egal, wie schwer die Taten waren.
Woods war Mitte 20 bei seiner Verurteilung. Die Zeit im Gefängnis nutzte der Afroamerikaner, um einen Schulabschluss zu machen und möglichst viel zu lernen. Er belegte verschiedene Kurse, besuchte Workshops. Und dann meldete er sich für einen Fotografie-Kurs an, ehrenamtlich geleitet von der Künstlerin Nigel Poor. Sie merkte schnell: Die Fotos sind zwar schön und gut, aber die Geschichten, die hier erzählt werden, die müsste man eigentlich aufnehmen. Die Idee des Podcasts war geboren. Als Gesprächspartner nahm sie nicht einen selbstbewussten, lauten Typen – sondern den, der immer eher abseits saß und lieber zuhörte, als zu reden: Earlonne Woods.
„Ear Hustle“ nannten sie ihren Podcast, was so viel heißt wie neugierig sein und jemanden belauschen. Alles begann mit einem Wettbewerb, bei dem 1.500 Podcasts ins Rennen gingen. „Ear Hustle“ gewann. 2017 entstanden die Folgen dann im Gefängnis San Quentin, Kalifornien. Mittlerweile läuft die sechste Staffel, und nun geht es auch um ein Leben nach dem Knast.
Umgangssprachlich, mit Dialekt und Slang
Die Episoden drehen sich zum Beispiel darum, wie man es anstellen soll, nach zwei Jahrzehnten in Haft wieder ein normales Leben aufzubauen. Hier haben die Macher des Podcasts einen Bäcker interviewt, der Menschen nach der Zeit im Gefängnis ausbildet und in der Backstube arbeiten lässt. Anders hätten diese Leute keine Chance auf dem Arbeitsmarkt.
Sie alle reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist: umgangssprachlich, mit Dialekt und Slang. Das ist wohltuend in einer sprachlich eher glattgebügelten Medienwelt. Die Folgen sind aufwändig produziert, um nicht zu sagen: kunstvoll komponiert. Kein Wunder, dachte ich, schließlich steckt das Podcast-Netzwerk Radiotopia dahinter, bekannt für hervorragende Produktionen wie „99% Invisible“ oder „The Truth“.
Aber dann las ich, dass Antwan Williams das Sounddesign gemacht hat – ein Gefängnis-Insasse, der sich Audioschnitt und -design selber beigebracht hat. Er akzentuiert die Folgen mit passender Musik und schafft Emotionen durch eine schnell geschnittene Collage aus O-Tönen. Das passt alles genau.
Die Kolumne
Podcasts haben es verdient, wie andere Medien besprochen, gelobt und kritisiert zu werden. Alle zwei Wochen machen das Larissa Vassilian und Sandro Schroeder hier abwechselnd: in der Podcast-Kritik.
Larissa Vassilian war 2005 unter dem Pseudonym Annik Rubens eine der ersten deutschen Podcasterinnen. Zehn Jahre lang war sie „Schlaflos in München“, seit 2007 widmet sie sich zudem mit „Slow German“ deutschlernenden Hörer:innen aus der ganzen Welt. Sie hat zwei Bücher zum Thema Podcasting geschrieben. Ihre Brötchen verdient sie unter anderem beim Bayerischen Rundfunk, wo sie eine der „Podcast-Entdecker“ des gleichnamigen Newsletters ist.
Insgesamt klingen die Folgen wie Reportagen mit spontanen Äußerungen, nicht wie gescriptete O-Töne. Gerade diese Spontaneität lässt Raum für Situationskomik, was mich am meisten überrascht hat. Erwartet hatte ich nämlich eher Wut, Schimpftiraden über Ungerechtigkeiten des Justizsystems und eine insgesamt bedrückende Grundstimmung. Bekommen habe ich genau das Gegenteil: viel Humor, viele sympathische Stimmen, viele Geschichten, die nahe gehen. Die Macher schaffen es, eher schwere Themen mit Leichtigkeit zu vermitteln. Sie nehmen uns mit in eine Welt, die im Sinne des Wortes für die meisten von uns verschlossen ist.
Wenn Gefängnis-Insassen „Big Brother“ schauen
Da sind einerseits die lockeren Themen, etwa was man im Gefängnis an Gegenständen bekommen kann und was nicht, und welche Gegenstände oder Lebensmittel begehrt sind: Kokosnussöl, zum Beispiel, und Sneaker von Nike. Und die Insassen erzählen, dass sie gerne „Big Brother“ gucken und andere Reality-Formate. Um zu sehen, wie Menschen draußen leben – oder eben freiwillig eingesperrt in Containern.
Ernst wird es dann andererseits, als sich der Todestag von George Floyd jährt, der bei einem Polizeieinsatz in Minneapolis getötet wurde. Die Macher des Podcasts (es sind in der Tat außer Nigel Poor ausschließlich Männer) berichten über ihre eigenen Erfahrungen mit der Polizei. Da fallen Sätze eines Afroamerikaners, die noch Tage lang in mir nachhallten: „Sie töten uns ohne Grund. Einfach, weil sie es können“.
Über die Jahre haben Nigel Poor und ihre Podcaster alle möglichen Themen angeschnitten. Sie haben über Rassismus gesprochen und über Gerechtigkeit, über Gewalt, Reue und Moral, über Essen, Isolation und verbotene Haustiere. Selten mit erhobenem Zeigefinger, eher mit Augenzwinkern. Für mich ist das genau das, was ein Podcast schaffen soll: Mich zum Nachdenken anregen, mich zum Schmunzeln bringen – und mir neue Welten eröffnen.
Finanziert wird der Podcast übrigens von den Hörern und Hörerinnen selbst: 13 Dollar pro Monat zahlen sie, und 12.000 Menschen sind derzeit dabei. 2020 wurde „Ear Hustle“ für einen Pulitzer Preis nominiert. Und Earlonne Williams wurde nach 21 Jahren Haft begnadigt – nicht zuletzt wegen der Arbeit an diesem Podcast. Jetzt ist er Audio-Produzent in Vollzeit.
Podcast:„Ear Hustle“ von Nigel Poor und Earlonne Woods
Episodenlänge: ca. 40 Minuten, 14-tägig
Offizieller Claim: „The daily realities of life inside prison shared by those living it, and stories from the outside, post-incarceration.“
Inoffizieller Claim: Vorurteile abbauen durch die wahren Geschichten von Verurteilten im amerikanischen Justizsystem.
Ist die Verlinkung bei Podcast richtig?
Die geht auf eatREADsleep…
Ist geändert, danke!!