Wochenschau (98)

Diese Wut tut gut: Rezo macht die stille Mehrheit hörbar

Fünf Gründe, warum man einen Zusammenschnitt aus einem Twitch-Livestream nicht wie einen Video-Essay bewerten sollte:

    1. Es ist ein Zusammenschnitt aus einem Twitch-Livestream.

Ende der Aufzählung. Danke fürs Lesen.

Haha, ok, Verzeihung – aber über die enorme Kritik an Rezos neuem Video „REZO zerstört Pandemie-Politik“ hat ich mich tatsächlich gewundert, da in ihr Maßstäbe an das Video anzulegen versucht werden, die das Video gar nicht erfüllen wollte.

In dem Ausschnitt aus seinem Twitch-Stream echauffiert sich Rezo 13 Minuten lang über die Versäumnisse der Pandemie-Politik im vergangenen Jahr, die Korruptionsskandale, die Masken, die Trägheit, im Grunde alles, worüber wir uns alle seit einem Jahr wundern und aufregen. Es ist ein klassischer Rant.

Früher war Rezo …

Manche bemängelten, dass es nicht so gut recherchiert sei wie sein Video über die CDU. Nochmal: Das ist ein Zusammenschnitt aus einem Livestream.

Andere kritisierten, dass es nicht mehr so originell sei wie das berühmte CDU-Zerstörungsvideo. Nochmal: Das ist ein Zusammenschnitt aus einem Livestream. Es ist kein Videoessay, wurde auch explizit auf dem Youtube-Kanal „Renzo“ hochgeladen und nicht auf seinem Hauptkanal, es will gar nicht originell sein müssen. Am ehesten ist es ein bissiger Meinungsbeitrag, aufgezeichnet in einer Livesituation.

Ich finde, Rezos Rant ist der von Sascha Lobo als Instagram-Video mit dem Namen „Pandemisches Staatsversagen“ vorgelesenen fantastischen Kolumne „Sätze zum Ausflippen“ über die Grollbürger ähnlich. Beide erlauben eine Frustabfuhr, bieten sich als Katalysator eines pandemischen Zorns über das politische Mehr-Ebenen-Versagen an, beide sind ein sich offensichtlich gut gelaunt schlecht gelaunt in Polemik wälzendes Meinungsstück.

Nicht wütend genug

Kritik am harschen Ton gab es natürlich auch. Dabei habe ich schon etliche Kolumnen gelesen, die weitaus unsachlicher waren. Und diese Kritik kennen wir auch schon vom CDU-Video. Zu vulgär, zu jugendsprachlich und – das wunderte mich am meisten – zu wütend.

Ich würde aber sagen: nicht wütend genug.

Denn eines der Probleme, die wir auf kommunikativer Ebene seit Beginn der Pandemie haben, ist der Umstand, dass Meinungsminderheiten, wie zum Beispiel die Querdenker, sich durch ihre aufgeblähte Wut und permanente Lautstärke erfolgreich größer machen als sie sind.

Das ist sowohl in den sozialen Medien wie auch in der nachrichtlichen Abbildung tatsächlich ein Problem. Wenn auf der einen Seite Menschen immer wieder in wilden Majuskeln ins Internet tönen, wie sehr sie gegen die Maßnahmen sind, und auf der anderen Seite die konstant ermittelte Zweidrittelmehrheit, die mit den Maßnahmen einverstanden ist oder härtere Maßnahmen fordert, nicht mindestens ebenso laut und oft und mit Großbuchstaben ins Internet blökt, dann bekommt man beim stumpfen Scrollen früher oder später wirklich den Eindruck, dass „die Leute“ unbedingt Lockerungen wollten. Die Mehrheit geht unter.

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat das sogar selbst eingestanden: Er hatte sich von den Facebook-Nachrichten in eine Wahrnehmungsverzerrung der aktuellen Stimmung hineingaslighten lassen. Im Gespräch mit der Chemnitzer „Freien Presse“ erklärte er:

„Auf meiner Facebookseite ist das Verhältnis 50:50. Die einen sagen: Ja, macht das, Gott sei Dank! Die anderen meinen: Ihr seid verrückt, es gibt Corona gar nicht.“

Und weil er deshalb von einer Fifty-fifty-Aufteilung ausging, er also offenbar dachte, die Hälfte der Bevölkerung glaube nicht mal an die Existenz des Virus, war sein Krisenmanagement so falsch moderierend, wie es war. Ihm selbst sei die ganze Dramatik der Lage erst durch den Besuch mehrerer Krankenhäuser bewusst geworden. Im Dezember. Und Kretschmer ist nicht allein mit dieser Wahrnehmung, das ist ja das Perfide.

„Die Menschen wollen Lockerungen!“ Wirklich?

Laut WDR-Sendung „Quarks“ hat eine noch unveröffentlichte Studie der LMU München herausgefunden, dass im Februar befragte Personen schätzten, dass mehr als 50 Prozent der Menschen in Deutschland die Maßnahmen für zu streng halten würden.

Zeitgleich zur Befragung empfand sie aber in Wirklichkeit nur ein Drittel der Deutschen als zu streng.

Es gab also nicht nur in der politischen Sphäre, sondern auch in der Bevölkerung eine Fehlwahrnehmung darüber, wie die Stimmung ist. Je mehr die Befragten Informationen aus klassischen Medien bezogen, desto weniger groß war diese Fehlwahrnehmung. Andersherum war die Verzerrung umso größer, je mehr sich die Menschen in sozialen Netzwerken informieren.

Der Satz „Die Menschen wollen Lockerungen“ wurde zudem einfach wahnsinnig oft unwidersprochen wiederholt – in Talkshows, Reden, Pressekonferenzen, Interviews. Und natürlich klingt er auch erstmal nicht falsch: Natürlich wollen „die Leute“ wieder (eine wie auch immer geartete) Normalität, natürlich sind alle müde. Rein theoretisch wünschen sich „die Leute“ also Lockerungen, oder anders gesagt: Sie wünschen sich ein pandemiefreies Leben. Wenn man den Satz also hört, hält man ihn nicht für abwegig. Praktisch aber fordern zwei Drittel diesen Wunsch nicht ein. Zumindest nicht als ersten Schritt.

Die Kultivierungsthese

Dies ist ein sehr anschauliches Beispiel für die sogenannte Kultivierungsthese. Das kommunikationswissenschaftliche Modell geht davon aus, dass Nachrichtenbilder zu Verzerrungseffekten in der Einschätzung realer Mengen führen.

In den 1980er-Jahren hat der Kommunikationswissenschaftler George Gerbner Fernsehnutzern Schätzfragen zu Kriminalstatistiken vorgelegt und festgestellt, dass es eine Korrelation gab zwischen der Anzahl an Minuten Nachrichten, die die Befragten anschauten, und der Fehleinschätzung darüber, wie viele Kriminelle und Polizisten es in der Bevölkerung gibt. Sehr vereinfacht gesagt: Je mehr Nachrichten Rezipienten sahen, desto falscher schätzen sie die Menge an Kriminellen in ihrem Umfeld ein.

Es ist also unabdingbar und sinnvoll, wenn Vertreter der ruhigen Zweidrittelmehrheit sich ebenso laut artikulieren: Sie existieren nicht nur, sie sind die Mehrheit.

Deswegen finde ich auch den Vorwurf zu kurz gedacht, dass es unproduktiv und zu destruktiv sei, verbal einfach draufzuhauen. Erstens ist es weder Rezos Aufgabe noch die eines Kommentators im Allgemeinen, mit der Kritik auch gleichzeitig eine Lösung anzubieten. Zweitens hat diese Provokation auch etwas Mobilisierendes: Sie motiviert auch andere, Kritik zu üben und den Druck auf die Politik zu erhöhen.

Manche mögen die Form des Rants insgesamt nicht: zu manipulativ, zu verbissen im Vorhaben, unbedingt viral gehen zu wollen. Und ja, wenn nicht aufgrund der Durchsichtigkeit dieses Manövers, findet man exaltierte Wut spätestens seit Gernot Hassknecht als One-Note-Show des wütenden Brüllrentners peinlich-berührend und abgedroschen. Die Abneigung gegen künstlich pathetisierte Wut voll gespielter Rechtschaffenheit teile ich sogar – aber ich habe bei Rezos Rant seine Wut zu sehr nachempfunden, als dass ich sie hätte peinlich finden können.


Transparenzhinweis: Samira El Ouassil hat gemeinsam mit Friedemann Karig eine Petition für „einen strikten Lockdown gegen die dritte Welle“ gestartet (u.a. der BR berichtete).

7 Kommentare

  1. Ich will überhaupt nicht einstimmen in den Chor derjenigen, die das Niveau des Streams beklagen, aber bei der obigen Argumentation fällt mir auf: So einfach mitgeschnitten von einer spontanen, ungeplanten Äußerung ist das nicht, oder?
    Er hat ja da Einspieler von Laschet und Co eingespielt, Schlagzeilen und Zitate werden eingeblendet. Also bissl Plan und Vorbereitung war schon dabei.
    Ansonsten: ich fands angemessen. Er kann das gerne auch mit Plan so derbe ausdrücken.

  2. Ich halte es für entweder sehr abwertend oder sehr lobhudelnd – je nachdem, ob es als Tadel oder Lob gemeint ist – wenn man sagt, Rezo „zerstöre“ die Corona-Politik.
    Eine komplette Ruine, und er wirft 1 Scheibe in 1 kaputten Fenster ein – Zerstörung!!!

  3. @Peter (#1) Du findest auf Twitch zwar nicht mehr das Original-Video, aber zumindest ein paar Clips, die während des Live-Streams von den Usern angelegt wurden. Das ist ein Live-Medium und das, was du da siehst, wird er auch live abgeliefert haben. Es wurde nur im Schnitt entsprechend editiert und mit Musik und Einspielern angereichert, damit es auch auf YouTube funkioniert.
    Inwieweit er sich auf diesen Vortrag vorbereitet hat oder die Viralität eingeplant hat, ist natürlich Spekulation. Ich halte es aber nicht für unwahrscheinlich, dass er live einfach abgezogen hat und dann auf Grund der Reaktion im Chat recht schnell einschätzen konnte, auf welches Interesse das Thema so stößt und dass es sich für Zweitverwertung lohnt.

  4. @Thomas Danke für den Hinweis. Dass es auf YT nur der Mitschnitt von Twitch war, war mir schon bewusst, der Umfang der Nachproduktion allerdings nicht. Hatte jetzt vermutet, die Schnipsel hätte er live auf Twitch auch so reinfliegen lassen.

  5. #3
    »Eine komplette Ruine, und er wirft 1 Scheibe in 1 kaputten Fenster ein – Zerstörung!!!«

    Ich mag Rezo sehr. Aber diesen Satz noch mehr.

    Dieses aufgeregte Mediengegacker jedes Mal, nur weil Rezo einmal eine CDU (irgendwie nicht) zerstört hat, ist schon sehr lustig.

  6. „die stille Mehrheit“
    nannte sich selbst einmal „schweigende Mehrheit“ und war ein durch und durch reaktionäres Konstrukt.
    Helmut Kohl liebte es, diese „schweigende Mehrheit“ jugendlichen Linken vorzuhalten, „die alles bestreiten, außer den eigenen Lebensunterhalt“.
    So haben sich die Zeiten geändert.

  7. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat das sogar selbst eingestanden: Er hatte sich von den Facebook-Nachrichten in eine Wahrnehmungsverzerrung der aktuellen Stimmung hineingaslighten lassen. Im Gespräch mit der Chemnitzer „Freien Presse“ erklärte er:

    „Auf meiner Facebookseite ist das Verhältnis 50:50. Die einen sagen: Ja, macht das, Gott sei Dank! Die anderen meinen: Ihr seid verrückt, es gibt Corona gar nicht.“

    Zugegeben, ich habe nicht alle Facebookstränge von MP Kretschmer gelesen. Das ist bestimmt auch nicht nötig. Beim Überfliegen ergibt sich ein Bild, dass gefühlt die Hälfte den MP angiftet, weil er zu viel verbietet und die andere Hälfte, weil er zu wenig verbietet.
    Die Feststellung dass 50% behaupten dass „es gibt Corona nicht“, sagt viel aus – über die Kretschmer Redlichkeit.

    Das gleiche trifft zu wenn er sagt, die ganz Dramatik sei ihm erst durch den Besuch von Krankenhäusern bewusst geworden. Das heißt also, dass der Ministerpräsident sich keine Zahlen zuarbeiten lässt und er selbst nach dem Rechten sehen muss.
    Was für ein Käse!

    Und wenn Kretschmer meint, das Geschnatter auf den sozialen Medien wiederspiegle den repräsentativen Bevölkerungsdurchschnitt, dann weiß man wirklich nicht mehr was man sagen soll zu diesem Unfug.

    Mir erscheint das ganze mehr wie der Versuch, es allen irgendwie recht zu machen. Links blinken, rechts abbiegen und dann noch ein U-Turn. Für jeden ist das dabei.
    Was soll der Quatsch?

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