Die Podcast-Kritik (51)

„Spiegel Daily“ zeigt, dass guter Audio-Journalismus aus einem Verlagshaus kommen kann

„Der Spiegel“ hat sein ohnehin schon umfangreiches Podcast-Angebot um einen weiteren täglichen Nachrichtenpodcast erweitert: „Spiegel Daily“ ist aber nicht frei zugänglich, sondern exklusiv zu hören hinter der „Spiegel“-Paywall (für 48 Stunden) und bei der Amazon-Tochter Audible (dauerhaft). Lohnt sich das – und wenn ja, für wen?

Der Name ist kein neuer: „Spiegel Daily“ hieß 2017 die Abendzeitung für das Internet, die ein Team um Cordt Schnibben beim „Spiegel“ als digitales Angebot ersonnen hatte. Nach dessen Scheitern wurde der Name recycelt für den abendlichen Daily-Newsletter, der mittlerweile aber „Die Lage am Abend“ heißt. Seit Mitte März ist „Spiegel Daily“ nun der Name für einen morgendlich erscheinenden werktäglichen Podcast.

Auch das Format ist kein neues: Jede Episode ist etwa eine halbe Stunde lang, fokussiert ein Thema und geht einer Leitfrage nach. Das zeigt, wie der Name, wie prägend „The Daily“ von der „New York Times“ für das gesamte Genre bis heute ist.

Wie ernst „Spiegel Daily“ gemeint ist, zeigt sich nicht nur am Podcast selbst – sondern auch daran, worauf dafür anderswo verzichtet wird. Yasemin Yüksel und Juan Moreno, die im wöchentlichen Wechsel moderieren, lassen dafür jeweils einen Podcast ruhen, den sie geprägt haben: Yüksel zieht sich nach vier Jahren aus dem wöchentlichen Politikpodcast „Stimmenfang““ zurück, Moreno nach knapp einem Jahr aus dem wöchentlichen Auslandspodcast „Acht Milliarden“.

Insbesondere bei „Stimmenfang“ überrascht mich das: Es war ein Flaggschiff, ist der älteste und mutmaßlich erfolgreichste Podcast des „Spiegel“-Verlags. Er war im Februar 2017 gestartet, im Vorlauf der damaligen Bundestagswahl – also in der Podcast-Zeitrechnung vor Jahrzehnten. Damals war „Der Spiegel“ als bundesweites Medium sehr früh dran. Das Podcast-Engagement war ein Signal, Monate und teils Jahre, bevor Mitbewerber wie „Zeit“, „Süddeutsche“ und FAZ nachzogen.

Dann pausierte „Stimmenfang“ von Ende November 2020 bis Mitte Februar dieses Jahres komplett. Und erschien danach zum ersten Mal seit Start komplett ohne die beiden ursprünglichen „Spiegel“-Podcasterinnen – übernommen hat das Mikrofon dort Marius Mestermann. Auch beim Auslandspodcast „Acht Milliarden“ wurde nach einer kurzen Winterpause verkündet: Statt Juan Moreno wird künftig Olaf Heuser moderieren.

Riskanter Stimmen-Wechsel

Im Medium Podcast ist es keine Kleinigkeit, wenn die Hosts wechseln. Podcasts leben zu großen Teilen von der asymmetrischen Beziehung, die Hörer*innen zu den Stimmen entwickeln. Angesichts dessen finde ich es erstaunlich, wie schnell und eher klanglos beim „Spiegel“ die Stimmen in den Podcasts und deren Gesichter auf den Logos ausgetauscht wurden.

Es gibt zwei Perspektiven darauf. Die pragmatische Sicht auf Podcasts, aus Sicht der Medienhäuser: Idealerweise etablieren sich Formate so sehr, dass sie nicht mehr an Einzelpersonen hängen und stattdessen von Redaktionen und Prozessen leben. Ein Team kann durch den Podcast rotieren. Das Publikum bleibt für das Format. Aus Sicht eines Medienhauses ist das wünschenswert, weil nachhaltig.

Die emotionale Sicht auf Podcasts, aus Sicht der treuen Hörer*innen: Ich habe eine Beziehung zu einem Format, den Stimmen und den Personen dazu aufgebaut, auf die ich nicht mehr verzichten möchte. Geht meine liebste Podcasterin, gehe ich als Hörer mit. Solche Enttäuschungen sind derzeit in den Podcast-Bewertungen von „Stimmenfang“ und „Acht Milliarden“ auf Apple Podcasts nachzulesen. „Ganz subjektiv […]: Auch ich vermisse Juan Moreno“, „Wo sind Sandra Sperber und Yasemin Yüksel?“

Neuer Podcast, bekannte Gesichter und Stimmen

„Der Spiegel“ hat also gleich zwei prominente, beliebte Hosts aus zwei etablierten, reichweitenstarken Podcast-Formaten abgezogen, um sich den Bezahl-Podcast „Spiegel Daily“ zu gönnen. Yüksel und Moreno sind jetzt die Gesichter des neuen Podcasts. Das ist die Wette auf, die Chance für das Format – und das Risiko für „Stimmenfang“ und „Acht Milliarden“.

Die Paarung geht auf, weil sich beide angenehm voneinander unterscheiden und ergänzen. Yasemin Yüksel mit ihrer energischen, neugierigen Art des Erzählens und des Fragenstellens. Juan Moreno mit seiner zurückgelehnten, bedächtigen Art.

„In jeder Episode erzählen wir eine Geschichte, die uns dabei hilft, unsere Gegenwart ein bisschen besser zu verstehen“, heißt es in der ersten Episode von „Spiegel Daily“. Die Geschichten sind mit Leitfragen verbunden: „Wissenschaft im Visier: Woher kommt der Hass auf die Fakten?“, „Hat Merkel in der Corona-Politik versagt?“, „Kann man mit einer Künstlichen Intelligenz ein Interview führen? Ja, man kann. Leider“.

Nicht der übliche Smalltalk

„Spiegel Daily“ brilliert für mich vor allem dort, wo der Podcast aus den sehr eingefahrenen Fahrspuren des Nachrichtenpodcast-Geschäfts ausbricht: also tatsächlich eher Themen erzählt als Nachrichten berichtet. Die Highlights bisher: In Folge 3 wird eine Frau interviewt, die nach einer Schweinegrippe-Impfung eine Narkolepsie als lebenslangen Impfschaden davonträgt und trotzdem ihre Familie zur Corona-Impfung ermutigt. Folge 5 enthält ein Gespräch mit einer Mutter, deren Tochter durch einen Raser ums Leben kam und konfrontiert einen Autofahrer aus der Szene mit ihren Aussagen.

„Spiegel Daily“ ist relativ reich an O-Tönen, fast schon musikalisch und hörbar sorgfältig, also audiophil produziert. Das fällt vor allem im Vergleich mit anderen Nachrichtenpodcasts positiv auf. Deren Inflation hat beispielsweise auch eine Flut von sterilen Kolleg*innen-Gesprächen mit sich gebracht, die mittlerweile sehr routiniert nach dem selben Muster von Podcast-Schreibtischen durch Mikrofone bis in die Kopfhörer gehen. (Deren typische Choreografie: Erst die Anekdote aus dem Vorgespräch, gerne mit „Kannst du mich hören?!“-Späßen, Verbindungsschwierigkeiten und sympathischem, aber belanglosen Smalltalk aus der Gesprächsanbahnung, dann eine Hand voll abgesprochener Fragen und Antworten, hinten raus noch eine diskussionswürdige Metathese samt Diskussion. Tschüss, danke; bitte, gerne wieder. Bis zum nächsten Mal, wir sprechen bestimmt nochmal über Thema X.)

Natürlich gibt es bei „Spiegel Daily“ auch diese klassischen Gespräche, aber mitunter in bemerkenswerten Variationen: Folge 7 ist eine hörenswerte, weil langfristige, gut eingeordnete Perspektive auf den Missbrauch in der katholischen Kirche. Und das Interview mit dem Sprachalgorithmus GPT3 in Folge 6 inszeniert Juan Moreno zunächst ohne große Worte und Einleitung – um es erst im Nachgang mit der KI-Expertin Katharina Zweig wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Wenn sich der Podcast solche Verspieltheiten erlaubt, macht das Zuhören Spaß.

Mal leise und zurückhaltend, mal laut und thesenstark

Gestolpert bin ich beim Hören vor allem dann, wenn „Spiegel Daily“ für mich so klang, wie sich manche „Spiegel“-Titelstory für mich liest. Wenn mal wieder alles ein bisschen zu groß, zu laut, zu dramatisch, zu analytisch, zu politisch, zu verwoben, kurzum: zu gewollt wirkt. Selbst dann, wenn alles tatsächlich so groß und dramatisch ist, wie es dargestellt ist, überrollt mich die „Spiegel“-Sprache manchmal.

So hat mich das Gespräch von Yasemin Yüksel mit Hauptstadt-Korrespondent Dirk Kurbjuweit in Inhalt und Inszenierung aus dem Fluss der ersten Episoden geworfen. Kurbjuweits Thesen über Angela Merkel und ihre Corona-Politik werden in der Folge 4 mit Paukenschlägen im Sound-Design untermauert. Kurbjuweit sagt: „Ich hatte wirklich eine coole, rationale, kluge Bundeskanzlerin erwartet, und das war sie so nicht mehr.“ Wie aus dem Nichts folgt ein Paukenschlag. Dachte wirklich jemand bei der Produktion: „Ah, die These knallt, da muss noch so ein Bumms hinter“?

Kurbjuweit mutmaßt dann, dass Merkel möglicherweise irgendwie „zu berührt“ für gutes Krisenmanagement gewesen sei, denn: „Sie kommt ja aus einem Elternhaus, das in der Nähe eines Behindertenheimes gelegen hat und wo ihr Vater dann auch war, und sie mitgenommen hat und so. Ich glaube, dass sie sehr berührt war und nervöser war als sonst.“ Was auch immer das eine mit dem anderen zu tun hat, falls es denn überhaupt etwas miteinander zu tun haben sollte: Mir hat es sich nicht erschlossen.

In diesen Sound fällt auch leider Folge 10, wieder mit Merkel als Protagonistin in einem Drama, dieses Mal Juan Moreno im Gespräch mit Sebastian Fischer, Leiter des „Spiegel“-Hauptstadtbüros. Auch sie schießt in ihren behaupteten Absolutheiten für meine Ohren über das Ziel hinaus: „Also die Bilanz dieser Kanzlerschaft ist verdorben, das wird nicht wieder rückgängig zu machen sein.“

Wer den „Spiegel“ genau dafür mag, bekommt mit „Spiegel Daily“ als Abonnent*in das, was draufsteht – sogar werktäglich, statt wie das Heft wöchentlich.

Als Zuhörer ernst genommen

Trotzdem bin ich bei diesem Podcast immer wieder angenehm überrascht, wie ernst ich als Zuhörer dabei genommen werde – und dass ich beim „Zuhören, bis es Aha macht“ mitunter auch mal kurz allein sein darf. Und nicht alles in mundgerechten Stücken serviert und eingeflößt bekomme. Das ist nämlich noch eine Marotte der Nachrichtenpodcasts, die sich ausgehend von „The Daily“ leider durch die Welt verbreitet hat: gespielt-naive Fragen der Podcast-Hosts, weil ich als armer Hörer sonst nicht in der Lage wäre, die Zusammenhänge zu verstehen.

Die Strategie hinter „Spiegel Daily“ scheint vergleichbar mit der von spiegel.de: Die schnellen Infos gibt es ohne Abo, die exklusiven Inhalte meist hinter der Bezahlschranke. Für die Nachrichtenticker-Meldungen gibt es weiterhin das „Spiegel Update“ als frei zugänglichen Podcast, mit drei kurzen Updates am Tag. „Stimmenfang“ ordnet das Geschehen weiterhin wöchentlich ein. Den Blick auf die Welt durch die Augen und Analysen der „Spiegel“-Redakteur*innen, mit dem Sound und dem ganzen Wumms der Redaktion, gibt es nur für zahlenden Abonntent*innen von „Spiegel“ und Audible.

Das ist logisch – aber nach den ersten zwei Wochen frage ich mich, ob der Podcast nicht ein gutes Kennenlern-Argument gerade für die Nicht-Abonnent*innen wäre. Und mit seiner verspielten, klugen Art, den manchmal leisen Tönen, auch eine gute Bereicherung für die oft eintönige Nachrichtenpodcast-Landschaft.

Dort setzt „Der Spiegel“ wieder ein Signal: Dass guter Audio-Journalismus aus einem Verlagshaus kommen kann. Dass Podcasts etwas kosten dürfen. Und dass Nachrichtenpodasts von großen Nachrichtenmarken auch mindestens so hochwertig wie dieser produziert sein müssen.


Podcast: „Spiegel Daily“ von „Der Spiegel“ und Audible

Episodenlänge: circa 30 Minuten, werktäglich, morgens – 60 Minuten Zusammenfassungen am Wochenende

Offizieller Claim: Weiterfragen, wo die Nachricht aufhört

Inoffizieller Claim: Zuhören, bis es Aha macht

Wer „Spiegel Daily“ mag, hört auch: Für die Verspielten: „Today Explained“ von vox.com (englisch), der Platzhirsch: „The Daily“ von der „New York Times“

3 Kommentare

  1. Klingt spannend, ich würde meinen halb-regelmäßigen NYT The Daily Konsum gerne durch ein deutsches Format in ähnlichem Stil ergänzen.

    Ist es möglich als zahlender Abonnent einen RSS Feed für eine andere Podcast App zu bekommen? Podcasts höre ich seit Jahr und Tag mit Player fm – könnte ich das beibehalten mit dem Spiegel Daily?

  2. Mir ging es wie dir. Ich hatte für mich auch schon nach den ersten 3 Folgen ein äußerst positives Fazit gezogen und aufgeschrieben, und mich besonders über die Abwesenheit einfacher Kollegengespräche gefreut. Und dann kam die Episode mit Dirk Kurbjuweit. Die bot mehr Meinung als Verständnissförderung. Damals hatte ich mir das mit einer notwendigen Aktualität entschuldigt. Nun hoffe ich, dass es nicht zum Format gehört sich Freitags eine Folge mit den Meinungen einer beim Spiegel wichtigen Person zu verbauen.

  3. Das ist wahrscheinlich eine gute Frage für die Spiegel-Leute, ist mir aber dort bisher nicht als Option aufgefallen. Audible lässt es meines Wissens nach nicht zu, Inhalte außerhalb des eigenen, geschlossenen Universums zu hören.

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