Was die ARD unter „sehr, sehr viel Klima-Berichterstattung“ versteht
Die Initiative „Klima vor acht“ kämpft dafür, dass Fernsehsender täglich zur besten Sendezeit über die Klimakrise berichten – zum Beispiel in Form einer eigenen kurzen Sendung im Ersten vor der „Tagesschau“. Dort laufen derzeit die Programme „Wissen vor acht“, „Börse vor acht“ und „Wetter vor acht“. Bei der ARD ist die Gruppe damit auf wenig Verständnis gestoßen. Der für den Vorabend zuständige Koordinator Christoph Schmidt sagte im vergangenen Jahr, dass „wir schon sehr, sehr viel Klimaberichterstattung in unserer Viertelstunde vor acht haben“. Klimaschutz sei elementarer Bestandteil der drei „vor acht“-Sendungen.
„Klima vor acht“ nahm das zum Anlass, sich den Programmausstoß anzusehen. Sie hat eine – teils etwas rudimentäre – Datenanalyse gemacht, die zeigt, dass die Zahl der Sendungen im Ersten und Zweiten, in denen es ums Klima ging, relativ überschaubar ist. Und auch am Vorabend spielt Klimaberichterstattung nur eine untergeordnete Rolle.
Das betrifft sogar die zweieinhalbminütige Sendung „Wissen vor acht“, die dafür eigentlich prädestiniert sein sollte und montags bis donnerstags um 19:45 Uhr läuft. Es gibt sie in den Varianten „Natur“, „Werkstatt“, „Zukunft“ und „Mensch“. Es geht um so unterschiedliche Themen wie „Die rätselhafte Pechlibelle“, „Strom aus Gravitation“, „Warum gelingen Zimtsterne auch ohne Mehl?“ und „Warum haben Männer Brustwarzen?“
Die Aktivisten von „Klima vor acht“ haben die Themenangaben aller 227 Sendungen des Jahres 2020 ausgewertet. Nach ihrer Zählung hatten zehn davon mit dem Thema Klima zu tun: vier bei „Wissen vor acht – Zukunft“, sechs bei „Wissen vor acht – Natur“.
Die Gruppe hat auch gezählt, wie oft sich die Sendung „Börse vor acht“, die werktags den prominenten Platz unmittelbar vor der „Tagesschau“ einnimmt, mit dem Klimawandel beschäftigte. Die Analyse ist aus mehrfachen Gründen ungenau und fehleranfällig. Sie beruht auf 142 Folgen, die seit dem 10. August 2020 liefen und sich auf Youtube finden. Die Moderationen wurden mit Spracherkennungssoftware transkribiert und nach dem Wortbestandteil „klima“ durchsucht. Auf diese Weise wurden aber auch Wörter wie „Geschäftsklima“ erfasst; im Zweifel schätzt die Auswertung also den Anteil an Klimaberichterstattung zu groß ein. Außerdem wird das Thema hier natürlich in aller Regel vor allem aus der Sicht der Wirtschaft oder, noch enger, des Finanzhandels betrachtet.
In 105 der Sendungen „Börse vor acht“ fand „Klima vor acht“ keinen Bezug zu „Klima“ irgendeiner Art; in 37 Sendungen kam das Wort vor:
Die Initiative hat außerdem auf der Basis der Programmseiten programm.ard.de und zdf.de/live-tv für die vergangenen fünf Jahre ausgewertet, wie viele Sendungen es überhaupt in den öffentlich-rechtlichen Programmen gibt, die einen Bezug zum Thema Klima haben. Mit großem Abstand liefen demnach Sendungen, die etwas mit Klima zu tun haben, in den Spartensendern 3sat, phoenix, arte und ARD-alpha. Im Ersten und Zweiten spielten sie keine große Rolle.
Im Vergleich über die Jahre zählten die Aktivisten eine Zunahme von Sendungen zum Thema Klima, vor allem ab dem Jahr 2018 mit dem sehr heißen Sommer. 2019 habe sich der Trend verstärkt. Das könnte beeinflusst sein durch das Aufkommen globaler Klimabewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion, vermutet die Gruppe. Der globale Klimastreik im September 2019 sorgte für einen Höhepunkt in der Zahl der erfassten Sendungen. Im Laufe des Jahres 2020 lasse sich hingegen bei keinem Sender eine signifikante Zunahme der Klima-Berichterstattung erkennen.
Konstruktiver Journalismus
„Wir sind immer davon ausgegangen, dass die Klimaberichterstattung bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht ausreichend ist – und angesichts der Auswirkungen der Klimakrise nicht angemessen“, sagt Norman Schumann von „Klima vor acht“, der die Auswertung gemacht hat. „Dass die Zahlen aber so deutlich ausfallen, hat sogar uns überrascht.“
„Klima vor acht“ hat sich im August 2020 gegründet und ist mittlerweile ein gemeinnütziger Verein. Er fordert regelmäßige und umfangreiche Klimaberichterstattung – vor allem von den Öffentlich-Rechtlichen, aber auch von den deutschen Medien insgesamt. Im April will „Klima vor acht“ einige Beispielfolgen eines möglichen Kurzformats produzieren und veröffentlichen. Finanziert wurde das durch ein Crowdfunding im vergangenen Jahr.
„Wir betrachten die Beispielfolgen des Formats ‚Klima vor acht‘ als eine Art konstruktive Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk“, heißt es von der Initiative. „Wir wollen damit zeigen, wie man so ein Format aufbauen und gestalten könnte. Unser Ziel ist es, die Öffentlich-Rechtlichen dazu zu motivieren, selbst ein ähnliches Format zu entwickeln und umzusetzen. Wir sind davon überzeugt, dass der konstruktive Journalismus ein guter Weg ist, um über Klimathemen zu berichten, und gestalten unsere Beispielfolgen auch dementsprechend.“
Heute will die Gruppe in Köln einen Offenen Brief an den ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow überreichen.
Die Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber und Stefan Rahmstorf, die Klimaforscherin Insa Thiele-Eich, der Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker und der ARD-Meteorologe Karsten Schwanke gehören zu den Erstunterzeichnern des Offenen Briefes. Sie unterstützen gemeinsam mit rund 180 anderen Prominenten das Anliegen von „Klima vor acht“ und fordern die ARD auf, „eine wissenschaftlich fundierte und verständliche Klimaberichterstattung anzubieten, täglich und zur besten Sendezeit“:
„Während wir die Auswirkungen der Erderhitzung immer deutlicher auch in Deutschland spüren, finden Berichterstattung, Einordnung und Aufklärung zu diesem Thema in den Fernsehprogrammen nur unzureichend statt. (…)
Eine Berichterstattung über den Zustand unser aller Lebensgrundlagen ist keinesfalls ein parteiisches Interesse. (…)
Lieber Herr Buhrow, nehmen Sie eine Vorreiterrolle in der deutschen TV-Landschaft ein: Lassen Sie ein Format wie ’Klima vor acht‘ entwickeln und umsetzen, und geben Sie ihm einen guten Sendeplatz — zum Beispiel unmittelbar vor der Tagesschau!“
Wir haben uns beim WDR, der gerade den ARD-Vorsitz innehat, nach einer Reaktion auf den Offenen Brief erkundigt. Die ARD-Pressestelle sieht sich allerdings offenbar für Programm-Themen nicht zuständig und hat unsere Anfrage an die Pressestelle des Ersten Deutschen Fernsehens in München delegiert. Von dort erreichen uns diese Antworten:
Was spricht gegen ein „tägliches Kurzformat“, wie es die Unterzeichner vorschlagen?
Es gibt im Ersten bereits in der „Viertelstunde vor acht“ ein Format, das Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit ausführlich und mit der gebotenen Unabhängigkeit behandelt: „Wissen vor acht“. Zur Vorbereitung der nächsten Staffel findet aktuell ein intensiver Austausch der Redaktion mit Expert*innen auf diesem Gebiet statt.
Warum bekommt die Börsenberichterstattung einen solch prominenten Sendeplatz vor der „Tagesschau“, aber nicht die Klimaberichterstattung?
Wie gesagt, auch die Klimaberichterstattung im Ersten findet auf prominenten Sendeplätzen statt – im Übrigen nicht nur in „Wissen vor acht“, sondern in zahlreichen Informationssendungen der ARD.
Der Brief ist von zahlreichen Organisationen und prominenten Personen unterzeichnet, darunter bekannten Wissenschaftlern und Klimaforschern. Nimmt die ARD deren Anliegen ernst?
Ja, selbstverständlich.
Unsere Frage an den ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow, ob er den Befund der Unterzeichner teilt, dass „eine regelmäßige Berichterstattung zur besten Sendezeit“ zum Thema Klimawandel fehlt, blieb unbeantwortet.
Es kommt immer auf die Inhalte an.
Würde diese Sendung ganz sachlich berichten, dass dieses Jahr im Januar in Spanien Allzeittieftemperaturen gemessen wurden und im Februar in Großbritannien die kälteste Nacht seit 1955, dann wäre das interessant, aber problemlos auch beim Wetter unterzubringen.
Niemand würde erwarten, dass eine solche Sendung mutig genug wäre, einem möglichen Zusammenhang nachzugehen zwischen dem kalten europäischen März 2021 (und Mai 2020 sowie Mai 2019) und der seit Jahren auffällig zunehmenden seismischen und vulkanischen Aktivität.
Eine weitere Volkserziehungssendung allerdings, die den fadenscheinigen „Konsens“ noch vertieft berichtet, den Journalisten sowieso schon seit Jahren in allen möglichen und unmöglichen Formaten unterbringen, braucht eigentlich kein Mensch. Was 97% schon zu wissen glauben, muss nämlich nicht mehr unbedingt gelehrt werden 😉
Ich finde das Anliegen der Intiative „Klima vor acht“ ganz gut. Aber irgendwie wirkt die Ini auf mich auch ein wenig schwerfällig und kompliziert. Sie reagiert erst jetzt auf eine Aussage eines ARD-Hierarchen von Anfang September? Sie braucht ernsthaft ein halbes Jahr dafür?
Die 142 Folgen wurden mit Hilfe einer Spracherkennungssoftware ausgewertet, was zu Ungenauigkeiten geführt haben könnte – sorry, aber das ganz normale (und zuverlässige) Sichten dieser zweieinhalb Minuten langen Beiträge hätte (netto) insgesamt gerade einmal sechs Stunden gedauert.
Grundsätzlich sind ja solche Auswertungen auch wichtig. Nur: Um die ARD zu überzeugen, muss man den Hierarchen dort das Gefühl geben, dass die Einschaltquote nicht wegen Klimabeiträgen leiden wird. Denn zu dem Zeitpunkt schaltet die ARD Werbung, da gelten de facto keine hehren Programmgrundsätze.
@fps: Ja, das ist ein wichtiger Punkt, unabhängig von „Klima vor acht“ oder nicht. Das Vorabendprogramm von ARD im Ersten und auch ZDF leidet unter Werbung und der Rücksichtnahme auf Werbung. Würde man auf Werbung verzichten, wäre ich bereit, entsprechend mehr Gebühr zu zahlen. Ich glaube, das wäre nicht einmal ein Euro im Monat. Ein Medienblog wie „Übermedien“ müsste doch den genauen Betrag kennen.
Ich fände eine Sendung wie »Klima vor acht« gut, nützlich und sinnvoll. Aber nur, wenn sie nicht – wie Lieschen Müller – Wetter mit Klima verwechselt.
Ich weiß ja nicht, ob dem Klima geholfen ist, wenn vor acht in der ARD mehr darüber berichtet wird. Wer jetzt noch nichts vom Klimawandel mitbekommen hat oder diesen nach wie vor anzweifelt, der wird auch durch mehr Klimabeiträge vor acht nicht erreicht. Es wird m.M.n. schon jetzt ausreichend darüber informiert und jeder, der nicht hinterm Mond lebt, kennt die Lage. Handeln wäre notwendig, nicht immer nur reden. Aber da sind wir leider viel zu träge. Der Zug, um das Steuer noch halbwegs rumzureiße, ist zudem wohl längst abgefahren.
@ #4
„Wetter mit Klima verwechselt“
Kann mir nicht passieren, denn die Unterscheidung ist schließlich kinderleicht:
Wetter ist kalt, Klima aber warm, oft sogar heiß.
Der Umstand, dass Klimaänderung mit vermehrten Wetterextremen einhergeht, wozu auch Rekordkälten gehören können, scheint bei einigen noch nicht angekommen zu sein. Würde dank Klimaänderung der Golfstrom seinen Lauf einstellen, könnte es in vielen Regionen Europas sogar deutlich kälter werden. Also regionale Klimaabkühlung trotz globaler Erwärmung. Aber all das ist zu hoch für einige, da hilft ein „Klima vor 8“ vermutlich wenig.
@fps: Die 142 Folgen beziehen sich nur auf die „Börse vor acht“-Sendungen, da war die Auswertung schwieriger, weil sie online nicht zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt hat Klima vor acht über 1,4 Mio. Datensätze der Öffentlich-Rechtlichen ausgewertet (wie im Artikel erwähnt von den Seiten programm.ard.de und zdf.de/live-tv), für den Zeitraum der letzten fünf Jahre. Für das Jahr 2020 wurden zum Beispiel bei Das Erste insgesamt 13.079 Sendungen analysiert –
davon beschäftigten sich nach bisheriger Auswertung nur 186 Sendungen mit dem Thema “Klima” (mit Wiederholungen) bzw. 128 Sendungen (ohne Wiederholungen).
Die Initiative hat es sogar in den „Spiegel“ geschafft:
https://www.spiegel.de/kultur/tv/klima-vor-acht-prominente-fordern-taegliche-klimasendung-am-vorabend-a-b3e2e2ab-608e-4e7b-9acf-d93c4117baae
Gegen die Bezeichnung „Branchendienst“ für Übermedien würde ich mich allerdimgs verwahren!
„Würde dank Klimaänderung der Golfstrom seinen Lauf einstellen“
oder uns der Himmel auf den Kopf fallen…
Der Golfstrom heizt bekanntlich die ganze Nordhalbkugel, so dass es in der Ecke relativ wenig Schnee gab: d.h. bisher, denn dieses Jahr ist es ein wenig anders. Und letztes Jahr war es auch schon so: alle Wetter!
Rekordkälte durch Erwärmung oder Rekordhitze durch Abkühlung: alles ist möglich, aber mit einer Steuererhöhung bekommen wir das wieder in Griff.
@Frank Reichelt: Das ist leider nicht das erste Mal :-(
https://www.spiegel.de/kultur/tv/dsds-ohne-dieter-bohlen-wird-rtl-auf-einmal-serioes-a-e6964ad4-0002-0001-0000-000176418883
Off Topic: Wenn ihr mal wieder ans Layout ran geht: Könnt ihr Updates wie in diesem Artikel vielleicht direkt auf der Startseite markieren? Halt, dass man da sieht, dass sich im Artikel was getan hat. Danke.
@Thomas: Gute Idee!
Alles gut und schön, aber warum haben Männer denn nun Brustwarzen?
Wir brauchen einfach viel mehr Frontalunterricht auf allen Kanälen. Bis der letzte Leugner verstummt.