„Die Wurzeln des Geschmacks“

Kartoffel-Propaganda

Ein verheißungsvoller Blick unter die Schale Screenshot: Netflix

Sich einer Sache so unvoreingenommen, aufmerksam und respektvoll zuzuwenden, als ob man sie zum ersten Mal wahrnimmt, ist eine mühsame Aufgabe. Vor allem, wenn es um etwas Allgegenwärtiges geht – sagen wir, eine Kartoffel. Mit der Phänomenologie gibt es eine ganze philosophische Schule, die sich damit befasst, was wir den banalsten Dingen an Erkenntnissen abringen könnten, wenn wir sie nur genau in Augenschein nähmen und all unser Wissen, unsere Vorurteile, sogar unsere Sprache außen vor ließen. Es ist mühsam.

Umso erstaunlicher ist es, wenn man auf unterhaltsame Weise und dann noch da, wo man es am wenigsten erwartet, phänomenologische Einsichten serviert bekommt: auf der globalen Plattform zur ästhetischen Normierung Netflix. In einer Kochsendung. Aus China.

Zähe Nudeln

In Kochsendungen geht es normalerweise um alles, aber kaum um das Produkt, also das Lebensmittel selbst. Im „Kochduell“ geht es darum, wer besser kocht, in „Chef’s Table“ um die schwierige Biografie des Koches oder der Köchin. Gegenstand des „Great British Bake Off“ ist die herzerwärmende Beziehung der Kandidat:innen mit den Moderatorinnen. Bei der Ex-„New York Times“-Starköchin Alison Roman geht es um ihren Social-Media-Hype, bei Johann Lafer geht es um seine Produktpalette und bei Gordon Ramsay geht es um Gordon Ramsay.

In diesem Rauschen aus Show und Schabernack ist der Kern irgendwie abhanden gekommen: das Naturprodukt und die über die Jahrhunderte entstandenen Kulturtechniken, es anzubauen und zuzubereiten. Aber es gibt eine Fernsehreihe, die das Produkt ernst nimmt, in der nicht gelabert wird, nicht gestritten, nicht sinnlos konkurriert. Sie heißt „Die Wurzeln des Geschmacks“ und besteht aus rund vierzig Folgen, jede nicht länger als zwölf Minuten.

Die Produktion des chinesischen Digitalkonzerns Tencent läuft auf Netflix in Originalsprache mit derart schrulligen (offenbar übers Englische ins Deutsche übersetzten) Untertiteln, dass sie durch keine seriöse Schlussredaktion gegangen sein können, was zu aparten Formulierungen führt wie „Die Nudeln sind gut zäh“, wobei eine Sorte „am 3D-mäßigsten” aussieht. Schon an diesen, wenn auch etwas hilflosen Formulierungen kann man ablesen, worum es geht: die Sache selbst, das Phänomen Nudel schlechthin.

Gärendes Kraut

Der Dokumentarfilmer Chen Xiaoqing, der selbst nie zu sehen ist, stellt in jeder Folge eine regionaltypische Zutat oder Zubereitungsart vor. Es gibt keine Interviews oder biografischen Ausschweifungen, aber es mangelt nicht an Drama, nur kommt es hier aus den Dingen selbst. Ultra-High-Speed-Kameras erfassen, wie Nudelteig durch eine gelochte Holzkelle geseiht wird; die Kamera gurkt in das gärende Kraut hinein („ein großzügiges und direktes Geschmackserlebnis“); in extremen Nahaufnahmen geliert der Buchweizen, dass es eine Freude ist.

Begleitet wird diese visuelle Tour de Force von einem Sounddesign, das nicht nur Grützen glibbern und Steinöfen fauchen, sondern sogar trocknende Kräuter ominös knacken lässt. Selbst nahezu geräuschlose Vorgänge wie das Aufklappen einer Ofenkartoffel werden in der Postproduktion zu dampfenden Epiphanien hochmoduliert. Die Frage, wie Stärke klingt, beantwortet die Serie gleich mehrmals (Anspieltipp: die Gluten-Episode).

Unwiderstehlicher Buchweizenglibber Screenshot: Netflix

Den nur scheinbaren Mangel einer herzerweichenden Backstory überkompensiert die Serie mit einer teils schwindelerregenden Dramaturgie, die sich aus den Trocknungs-, Räucher-, Köchel- und Fermentationsprozessen ergibt. Während die Gänsedisteln fünfzehn Tage lang trocknen, wird im Nachbardorf bereits ein etwas schnelleres Gericht serviert.

Zeit ist genug, denn nach der Trocknung müssen die Disteln unter einen fünf Kilogramm schweren Stein zusammengepresst, mehrmals mariniert und gestampft, mit gedämpftem Klebreis eingerieben und dann einen Monat lang vergoren werden, wobei die Reisstärke hydrolysiert wird. Das saure Wasser wird abgeschöpft und wiederum acht Stunden lang gekocht, wobei der Reis zerfällt und sich eine bernsteinfarbene Paste bildet, welche als Würzmittel für die getrockeneten Disteln genutzt wird, aus denen schließlich kleine Kränze geflochten werden, die auf dem Markt verkauft werden (laut den Untertiteln eine „wöchentliche Messe für lokale Snacks“, fraglos der appetitlichere Begriff).

Ach so, der Klebreis wird dann noch destilliert und mit hochalkoholischen Reiswein verestert. Vielleicht war die Reihenfolge auch anders. Am Ende aber schallt es aus der Küche: „Grüner-Drache-kreuzt-den-Fluss-Suppe ist fertig!“

Gnubbelige Stärke

Die kurzen Episoden sind kunstvolle (und manchmal etwas verwirrende) Gewebe aus sich überlagernden Geschichten, aber immer am Produkt und seiner Zubereitung entlang. Sie werden akzentuiert von Drohnenaufnahmen verlässlich beeindruckender Landschaft, untermalt von suggestiver Musik und verziert mit detailverliebten Animationen. Die Serie ist mit so viel Aufwand und cinematografischer Finesse produziert, dass man geneigt ist, sie für Werbung zu halten. Oder wie wir sagen, wenn es um China geht: Propaganda.

Und ganz ausschließen kann man das natürlich nicht. So wird der Einfallsreichtum der Menschen in China in fast allen Episoden gepriesen, und als ein Bauer einen Eimer in seinen Brunnen herablässt, betont der Sprecher, dass es in seinem Dorf durchaus fließend Wasser gibt. Dann folgen Bilder hochmoderner Metropolen, die sich schroff mit dem Leben der ärmlichen Landbevölkerung abwechseln. Ist das Propaganda? Missglückte Propaganda? Sehen die Bäuerinnen nicht doch sehr fröhlich aus? Oder ein bisschen zu fröhlich vielleicht? Sehr, sehr oft in dieser Serie weiß man nicht so recht, was man denken soll. Nur überrascht ist man wieder und wieder. Beides passiert einem auf Netflix eher selten.

In einer Episode bekommt man einen merkwürdigen Stärkegnubbel vorgestellt, dessen Qualität sich angeblich daran bemisst, ob sich in ihm Risse bilden, wenn man ihn nach stundenlangem Erhitzen aus dem Erdofen holt. Der Geschmack soll einfach, aber befriedigend sein. Man kann ihn zu einem Brei, aber auch zu Teig verarbeiten, aus dem man Nudeln macht. Oder man brät ihn in Scheiben. Eine Kartoffel so unvoreingenommen, aufmerksam und respektvoll wahrzunehmen, als ob man sie zum ersten Mal im Leben sieht, ist mühsam, aber wenn Chen Xiaoqing einem diese Arbeit abnimmt, sieht es ganz leicht aus.

5 Kommentare

  1. Und als ich „Kartoffel“ las, dachte ich, es ginge schon wieder um diesen WDR-Rassismus-Talk… ;-)

    Danke für die den Tipp, klingt interessant.

  2. Kleiner Hinweis: Unten im vorletzten Absatz sollte es sicher „weiß man nicht…“ statt „was man nicht…“ heißen.

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