Die australische Radiojournalistin Sophie Townsend beschreibt in zwölf Episoden von „Goodbye to All This“, wie ihr Mann Russell an Lungenkrebs erkrankt. Wie die Krankheit ihn erst unbemerkt verändert, bis sich die Ereignisse plötzlich überschlagen: Tests. Untersuchungen. Diagnose. Chemo. Bestrahlung. Ein Sturz. Tod. Ein BBC-Podcast über Liebe, Trauer und den Verlust eines geliebten Menschen.
Die Frage liegt nahe: Wer hört sich bitte freiwillig einen dermaßen traurigen Podcast über das Sterben eines fremden Menschen an – und warum? Es ist ironisch, wie maßlos beliebt True-Crime-Formate über Mord und Totschlag sind. Und wie unbeliebt gleichzeitig die Themen Tod und vor allem Trauer sind, medial wie gesellschaftlich.
In einer Zeit, in der in Deutschland in den letzten 12 Monaten über 70.000 Menschen mit Covid-19 gestorben sind und weiterhin jeden Tag 300 Menschen daran sterben, reden wir erstaunlich viel über individuelle Freiheiten, kollektive Einschränkungen, hören wir weiter blutige Podcasts. Wir reden aber jenseits von Spannung und Unterhaltung erstaunlich wenig über Tod und Trauer. Deswegen ist „Goodbye to All This“ ein hörenswerter und wichtiger Podcast.
Die Kolumne
Podcasts haben es verdient, so ernsthaft wie andere Medien besprochen, gelobt und kritisiert zu werden. Alle zwei Wochen machen das Marcus Engert und Sandro Schroeder hier abwechselnd: in der Podcast-Kritik.
Sandro Schroeder ist durch Podcasts überhaupt erst schleichend zum Fan des Mediums Audio geworden. Er berichtet seit 2016 regelmäßig über Podcasts und schreibt den Podcast-Newsletter Hören/Sagen. Nach seinem Journalistik-Studium arbeitete er als freier Journalist in Leipzig, unter anderem für das Onlineradio detektor.fm. Seit 2018 ist er bei Deutschlandradio in der Abteilung Multimedia insbesondere für Podcasts und Audio-Drittplattformen zuständig.
„Goodbye to All This“ ist schwer auszuhalten. Der Podcast ist großartig gemacht. Er ist traurig schön und schön traurig. Es ist schwer, sich beim Hören nicht davon anstecken zu lassen. Es ist schwer, ohne Tränen durch den Podcast zu kommen. Das klingt aber sentimentaler, als der Podcast tatsächlich ist und wird ihm nicht gerecht.
Im Gegenteil: „Goodbye to All This“ suhlt sich nicht in Traurigkeit und Selbstmitleid. Die Serie hat zwar eine Sogwirkung, weil und obwohl alles so traurig ist. Aber es ist kein Melodrama. Es mag Zufall sein, dass der Podcast eine BBC-Produktion ist. Dieses Klischee der „stiff upper lip“, dieser Unerschütterlichkeit der Briten entgegen aller Widrigkeiten, sie passt hier.
Traurig, aber gnadenlos ehrlich
Die erste Folge beginnt als Beschreibung einer Ehe und einer Familie, Ehefrau und Ehemann, zwei Töchter. Familienleben zwischen Alltag und Beruf. Stress auf der Arbeit, Fernsehen auf der Couch, Erledigungen am Wochenende. Ein gewöhnliches Leben mit gewöhnlichen Routinen. Russell ist müde, erschöpft. Seine Frau Sophie Townsend nimmt das nicht ernst: „Wer ist denn bitte nicht erschöpft und müde?!“, fragt sie sich und ihre Freundinnen. Sie hält einfach fest: Keine Erschöpfung ist so interessant wie die eigene, mehr noch: Die Erschöpfung anderer ist sogar ärgerlich. Auch die des geliebten Ehemannes. Aber sie ist die Vorankündigung für die Odyssee, die danach beginnt.
Schon diese erste Folge prägt den Tonfall von „Goodbye to All This“: Intim, aber gnadenlos ehrlich zu sich und anderen, selbstironisch, manchmal lustig. Sophie Townsend erzählt allein, der Podcast besteht größtenteils aus Monologen – gespickt mit wenigen Zitaten von Bekannten, Freunden und Familie.
Die Erzählung wird getragen und begleitet von atmosphärischen Aufnahmen, Klangkulissen aus dem Alltag und der Musik. Die ist eines der Highlights des Podcasts. Das Tempo ist eher langsam und ausgeruht (britische Produktionen haben ohnehin einen anderen Rhythmus als US-Produktionen).
Schnörkellos und ohne Hollywood-Drama
Sehr früh in der ersten Episode wird klar: Es kann und soll kein Happy End bei dieser Geschichte geben. Mit seiner ganz anderen Art hat mich der Podcast erinnert, wie formelhaft das Storytelling nach US-amerikanischem Vorbild sein kann.
Hier gibt es keine Interviewer*innen und Erzähler*innen, die für den maximalen Effekt die Dramaturgie eines Moments strecken und auswalzen wollen. Es gibt auch kein ernstzunehmendes retardierendes Moment. Nichts, was die Spannung künstlich hochhält und falsche Hoffnungen sät. Das liegt auch daran, dass „Goodbye to All This“ keine Echtzeit-Begleitung des Sterbeprozess ist, sondern ein Rückblick. Wie Memoiren, mit literarischer Qualität und Kapiteln – „S-Town“ lässt grüßen.
Sophie Townsend beschreibt ihr Leben, ihre Gefühle und das Sterben ihres Mannes mit einer fast schon dokumentarischen Genauigkeit. Obwohl alles subjektiv gefärbt ist. Sie beobachtet sich, ihre Kinder und ihr Umfeld. Verzichtet aber auf schmückendes Beiwerk, auf detailverliebte Beschreibungen von Äußerlichkeiten und Orten. Townsend hält sich nicht groß damit auf, Dialoge und Situationen zu reproduzieren. Reduziert die Geschichte auf das Notwendige.
Diese Nüchternheit wirkt besonders, als es um die Tests im Krankenhaus, die Ärzte und schließlich die Krebsbehandlung geht, die in der Realität eher wenig mit der Darstellung aus Krankenhaus-Serien zu tun hat. (An dieser Stelle möchte ich noch den angenehm unaufgeregten Podcast „Anfängerkrebs“ empfehlen.)
So kann sich „Goodbye to All This“ auf die übergreifenden Fragen und Motive konzentrieren: Wann ist die Zeit, um von so einer Diagnose zu sprechen? Mit wem? Wie? Wie sollen Kinder erfahren, dass ihre Eltern sterben? Wie umgehen mit dem Schock, der Wut, den Schuldgefühlen, dem individuellen und widersprüchlichen Umgang von Menschen damit?
Trauerarbeit als Podcast
Der letzte Atemzug und die Beerdigung des Ehemannes dienen als Wende- und Ankerpunkt nach sechs bewegenden Folgen. In dieser ersten Hälfte nimmt der Podcast kontinuierlich Fahrt auf. Die Uhr tickt buchstäblich im Hintergrund, die Zeit rennt, immer schneller und immer lauter. Die letzten Wochen, Tage, Stunden zusammen werden ein Rausch, in dem alles verschwimmt. Mit einigen klaren, scharf begrenzten Momenten, die als Erinnerungen bleiben. Nach Russells Beerdigung ist in der zweiten Hälfte plötzlich viel Zeit. Viel Zeit, um zu merken, wie groß die Lücke ist, die plötzlich im eigenen Leben klafft. Und die Frage, wie es weitergeht.
Der Podcast zeigt, wie Sophie Townsend und ihre Familie durch die überraschende Diagnose aus Routinen geworfen werden, von da an ständig auf neue Umstände reagieren müssen. „Goodbye to All This“ porträtiert diese Gleichzeitigkeit von Alltag, Banalitäten und dem ständigen Ausnahmezustand, wenn jemand langsam stirbt. Die Hilflosigkeit, der aus der Not geborene Pragmatismus. Die Orientierungslosigkeit, die folgt, wenn das akute Krisenmanagement und die Beerdigung vorbei sind.
Townsends Schilderungen sind zugleich konkret und skizzenhaft genug, um Raum zu lassen. „Goodbye to All This“ kann so die stellvertretende Erzählung vom Verlust eines Menschen sein, in der sich Hörer*innen wiederfinden können. Dem Podcast gelingt das seltene Kunststück, Emotionalität hörbar zu machen, ohne selber in Voyeurismus abzurutschen – oder beim Hören ein voyeuristisches Gefühl zu hinterlassen. „Goodbye to All This“ kann ein Stück Trauerarbeit sein.
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