Fußnoten (25)

Die Sehnsucht des Blattmachers nach Erste-Welt-Problemen

Foto: Unsplash / Charisse Kenion

Ich habe eine kleine Obsession entwickelt, seitdem mir ein Moderedakteur, mit dem ich vor einer Weile über das Konzept für eine neue Kolumne gesprochen habe, gesagt hat, er möchte auf keinen Fall, dass sie wirkt wie „First World Problems eines hysterischen schwulen Moderedakteurs“. Jetzt wünsche ich mir nichts mehr als regelmäßig eine Kolumne mit dem Titel „First World Problems eines hysterischen schwulen Moderedakteurs“ zu lesen, weil ich First World Problems mag. Ich finde, jeder sollte welche haben, und niemand auf der Welt andere. Das ist schließlich, wofür wir kämpfen.

Es gehört zu den Paradoxien der Medienwelt, dass schlechte Nachrichten gut für die Nachrichten sind. Insofern ist dieses Annus horribilis zumindest theoretisch ein gutes Jahr für Nachrichtenmedien.1)In der Praxis stammen die Erlöse vieler Nachrichtenmedien zu unterschiedlichen Teilen aus Werbung, und im Jahr der Lockdowns ist der Werbemarkt einigermaßen zusammengebrochen, so dass es unter dem Strich finanziell für die meisten kein erfolgreiches Jahr war, aber als Beispiel: Die „New York Times“ hat in 2020 zum ersten Mal mit Digital-Abonnements mehr Umsatz gemacht als mit dem Vertrieb der gedruckten Ausgabe. Das ist eine Zeitenwende, es widerlegt die Behauptung, Menschen würden im Netz nicht für Nachrichten bezahlen, und man kann halbwegs optimistisch davon ausgehen, dass auch nach Ende der Pandemie und des Irrsinns der Trump-Ära viele der Leser bleiben. Für solche, die sich mit First World Problems auseinandersetzen – die so genannten Lifestyle-Medien – war und bleibt es auf vielen Ebenen ein Ritt auf einer Rasierklinge auf Sicht in einem Schneesturm. Das sind lustigerweise First World Problems, aber hysterisch werden kann man deshalb trotzdem. Warum also nicht ich hier.

Der Einfachheit halber biete ich eine kurze Unterscheidung an, die nicht ganz trennscharf ist, aber für mich die sinnvollste: Nachrichtenmedien betrachten die Welt als eine Sammlung von Gesellschaften, sie beschäftigen sich mit Ländern und Gemeinden, Staaten- und anderen Bünden und den Regeln und Gesetzen, die die sich geben, um kollektiv handeln zu können. Anspruch ihrer Berichterstattung ist größtmögliche Objektivität.

Lifestyle-Medien betrachten die Welt als eine Ansammlung von Individuen und den Identitäten, die sie sich geben. Das höchste Ziel wäre hier, dass ein Leser das Medium hochgradig subjektiv als „seins“ versteht.

Erstere berichten darüber, was gerade passiert ist und was deshalb wahrscheinlich morgen droht. Letztere versuchen mehr oder weniger erfolgreich zu antizipieren, nach welcher Identität ein Leser morgen strebt. Und „morgen“ bedeutet im Fall von gedruckten Monatsmagazinen und ihren Produktionszeiten durchaus mal Fragen wie: Was ist wohl das Lebensgefühl im nächsten März? Und welche Sehnsüchte folgen daraus? Können die Menschen dann das Wort Corona noch hören, oder wollen sie gerade irgendetwas lesen, in dem die Pandemie gar keine Rolle mehr spielt? Und wer repräsentiert dieses Gefühl am besten auf einem Zeitschriftencover?

Das wären so schon alles Fragen, die in 2020 schwieriger zu beantworten sind als sonst. Aber das ist nur die Meta-Ebene. In der Realität könnte man die Fragen perfekt beantworten und wäre trotzdem kaum einen Schritt näher am Ziel. Denn, um mal mit dem Höhepunkt anzufangen, wie fotografiert man ein Zeitschriftencover in einer Pandemie?

Koa picture, koa G’schicht

Das Fotoshooting ist das Rückgrat des First-World-Problem-Journalismus, oder wie es der Gründungs-Chefredakteur der deutschen „GQ“ Reinhard Haas einmal legendär bairisch formuliert hat: „Koa picture, koa G’schicht.“ Identität ist vor allem ein Gefühl, und Gefühle werden optisch viel direkter angesprochen als durch geschriebene Texte.2)Äquivalent durch Musik direkter als durch gesprochene Worte.

Im März ist die Kulturtechnik „Fotoshooting“ erst einmal implodiert: Viele Menschen in einem Raum, von denen auch noch einige den anderen im Gesicht herum malen, ihnen an den Haaren zupfen und ständig neue Klamotten anziehen, entspricht nicht den AHA-Regeln. Dazu kamen noch die offiziellen und die firmeninternen neuen Reiserichtlinien. Es dauerte eine ganze Weile, bis überhaupt einmal Regeln aufgestellt werden konnten, und wer sich irgendwann einmal die Zeit nimmt und zum Beispiel die Modemagazine des Sommers 2020 mit denen aus dem Vorjahr vergleicht, wird feststellen, dass schlicht weniger Menschen darin vorkommen, Gruppenaufnahmen praktisch gar nicht.

Wenn heute ein Shooting stattfindet, dann gibt es einen Sicherheitsbeauftragten, der auf Abstände achtet, an Masken erinnert und Wasserflaschen desinfiziert.3)Aus Gründen, die mir nicht ganz klar sind, die ich aber natürlich begrüße, werden Fotoshootings seit Jahren meist überdurchschnittlich umweltbewusst von Caterings ausgestattet mit möglichst wenig Plastik und ähnlichem. Das ist in diesem Jahr weitgehend über den Jordan gegangen; es ist alles wieder in kleinen Einweg-Verpackungen, damit nicht zwei Menschen irgendetwas anfassen müssen.

Make-Up-Artists und Stylistin gehören wahrscheinlich zu den am häufigsten Corona-getesteten Menschen der Welt, weil sie körpernah arbeiten. An Filmsets, wo noch mehr Menschen arbeiten, gibt es Zonen, die man nicht verlassen darf, um Kontakte auf das unbedingt Notwendige zu reduzieren, und „Kontakt“ heißt in der Regel ja trotzdem mindestens 1,5 Meter Abstand. Es ist praktisch nicht mehr vorstellbar, dass noch vor einem Jahr Menschen auf Geburtstagskuchen geblasen und dann die Stücke an alle verteilt haben.

Time to No Time To Die or Not No Time To Die?

Die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen machen Shootings schwieriger, aber um jemanden zu fotografieren, muss man erst einmal jemanden im Studio haben, und das ist im Moment noch einmal schwieriger, denn das offene Geheimnis der Branche ist auch, dass genau die Menschen, die Redaktionen am liebsten fotografieren wollen, in der Regel nur dann die Tortur von Pressearbeit auf sich nehmen, wenn sie gerade etwas zu verkaufen haben. Und damit fällt gerade Hollywood aus.

Nach dem Fehlversuch mit „Tenet“, der im Sommer im Kino nur mäßige Zuschauerzahlen hatte, haben alle großen Studios weltweit – auch die Verleiher deutscher Filme – die Starts neuer Werke bis in zeitliche Regionen verschoben, für die manche Religionen schon den Weltuntergang oder zumindest die Wiederkehr eines Messias prophezeien. Der neue Bond-Film „No Time To Die“ ist noch auf den 31. März 2021 terminiert, aber ich kenne niemanden, der davon ausgeht, dass das Datum zu halten ist.

Die Cover der März-Ausgaben der Monatszeitschriften werden gerade geplant oder schon produziert, und der Grund, dass ich mir die Frage „Time to No Time To Die or Not No Time To Die“ mit einiger Entspannung ansehe, ist, dass die deutsche „GQ“, bei der ich arbeite, ihr Bond-Cover mit Daniel Craig schon im April 2020 auf dem Markt hatte.

Den Fehler habe ich also schon hinter mir.

Die Frage ist aber immer die nach der Alternative: Selbst wenn man auf Fotos zurückgreifen wollte, die vor der Pandemie geschossen wurden, erlauben die Agenten großer Stars die Nutzung nicht, wenn sie gerade keine Publicity brauchen. Wenn Sie also am Kiosk auf dem Cover eines Lifestyle-Magazins einen Hollywood-Star entdecken, dürfen Sie im Moment denken: „Ah, neue Netflix-Serie“, denn Streaming-Dienste halten uns gerade inhaltlich über Wasser.4)Eine grandiose Ausnahme ist Matthew McConaughey, der gerade ein Buch promotet hat und (mithilfe eines Fotografen des „New York Times Magazine“) eine Technik entwickelt hat, wie er nach Anleitung über Zoom seine kleinen Kinder Fotos von sich machen lässt. So ist zum Beispiel eine wirklich schöne Cover-Strecke in der ersten deutschen Ausgabe der neuen Generation von „Esquire“ entstanden.

Gesunder Optimismus oder realitätsfremde Zukunftsfreude?

Sie haben natürlich bemerkt, dass ich die schwerste Frage für den Moment aus dem Weg geräumt habe, aber sie steht tatsächlich gerade an: Wie wird das Lebensgefühl im März sein? Oder noch genauer: Wie wird das Lebensgefühl sein, das sich Menschen dann wünschen?

Ich gehöre zu denen, die einen professionellen Tipp dazu abgeben müssen, und ich finde es nicht leicht. Man könnte es sich einfach machen und sagen: Optimismus ist in jedem Fall ein guter Ratgeber, aber die Kehrseite ist, dass es spektakulär schiefgehen kann, wenn man ohne Kontakt zur realen Welt Zukunftsfreude in einer tödlichen Pandemie verbreitet. Ich habe gar nichts gegen totalen Eskapismus, aber er ist keine journalistische Aufgabe, das müssen andere machen. Unser Thema ist Identität: Was sind Menschen und was wollen sie sein? Nächsten März? Im Rahmen der Möglichkeiten?

Ich freue mich drauf, wenn First World Problems endlich wieder die einzigen sind, um die wir uns kümmern müssen.

Fußnoten

Fußnoten
1 In der Praxis stammen die Erlöse vieler Nachrichtenmedien zu unterschiedlichen Teilen aus Werbung, und im Jahr der Lockdowns ist der Werbemarkt einigermaßen zusammengebrochen, so dass es unter dem Strich finanziell für die meisten kein erfolgreiches Jahr war, aber als Beispiel: Die „New York Times“ hat in 2020 zum ersten Mal mit Digital-Abonnements mehr Umsatz gemacht als mit dem Vertrieb der gedruckten Ausgabe. Das ist eine Zeitenwende, es widerlegt die Behauptung, Menschen würden im Netz nicht für Nachrichten bezahlen, und man kann halbwegs optimistisch davon ausgehen, dass auch nach Ende der Pandemie und des Irrsinns der Trump-Ära viele der Leser bleiben.
2 Äquivalent durch Musik direkter als durch gesprochene Worte.
3 Aus Gründen, die mir nicht ganz klar sind, die ich aber natürlich begrüße, werden Fotoshootings seit Jahren meist überdurchschnittlich umweltbewusst von Caterings ausgestattet mit möglichst wenig Plastik und ähnlichem. Das ist in diesem Jahr weitgehend über den Jordan gegangen; es ist alles wieder in kleinen Einweg-Verpackungen, damit nicht zwei Menschen irgendetwas anfassen müssen.
4 Eine grandiose Ausnahme ist Matthew McConaughey, der gerade ein Buch promotet hat und (mithilfe eines Fotografen des „New York Times Magazine“) eine Technik entwickelt hat, wie er nach Anleitung über Zoom seine kleinen Kinder Fotos von sich machen lässt. So ist zum Beispiel eine wirklich schöne Cover-Strecke in der ersten deutschen Ausgabe der neuen Generation von „Esquire“ entstanden.

6 Kommentare

  1. Individualität ist der kern der firstworldprobleme? Dann wäre die einzige lösung der zweit- und drittweltprobleme, die erste welt dazu zu bringen, ihr hartnäckig egoistisches sichklammern an die eigene person endlich zugunsten einer totalen kollektivität aufzugeben. Das hatten wir schon mal. Es hiess kommunismus. Es hat nicht geklappt. Sondern mehr tote erzeugt als hitler. Right idea, wrong species, charakterisierte der ameisenphilosoph edmund wilson knapp das grundproblem der theorieumsetzung. Wer ich morgen bin oder sein will, in welcher welt auch immer ich lebe, ist die grundlage und einzige existenzberechtigung staatlicher gebilde, die mit demokratie und menschenrechte argumentieren. Alle dabei notwendigen einschränkungen dieser freiheit haben temporär und partiell zu sein. Doch die neue medial befeuerte begeisterung für einen per permamentem ausnahmezustand etablierten coronasozialismus möchte dafür blind machen. Carl schmitt 2.0. Was für ein öder linker witz. Gesellschaft ist nicht gemeinschaft, stupid. Hängt euch das endlich mal über eure schreibtische. Vielleicht entsteht dort dann auch wieder mal ein eigener gedanke.

  2. #1
    Vielen Dank für Ihr Mitwirken. Mit 1.143 Zeichen haben Sie Ihr Kommentarvolumen (2 x 500) unter diesem Artikel zu 114,3% ausgeschöpft. #servicekommentar

  3. #1 Sie stellen erst eine These auf, bilden dann auf deren Grundlage eine Hypothese und beginnen dann Ihrer eigenen Hypothese zu widersprechen, als hätte sie irgendjemand anderes, sehr dummes damit konfrontiert.
    Ich muss zugeben, dass das für mich einen gewissen Unterhaltungsfaktor hat, wie die Typen in der Straßenbahn die laut Selbstgespräche führen. Naja und ein bisschen Mitleid hat man ja auch. Aber vielleicht fällt auch Ihnen bei nochmaligem lesen auf, das Ihr Kommentar nichts mit dem Artikel zu tun hat.

  4. #4. Zu jemandem, der im artikel die zuordnung der individualität zu den firstworldproblemen ohne schwierigkeiten überlesen kann, passt die charakterisierung eines anderen, dessen ausführungen er schlicht nicht verstehen will, als halbverrücktem in der strassenbahn wie arsch auf eimer. von individualität ist nämlich für die hausmeister der standardmeinung nur noch soviel übriggeblieben, dass sie sie für billigwitzchen ad personam benutzen, was sie dann zumindestens selber unterhaltend finden. Von dem wirren gerede, da sei eine hypothese( ? ) aus einer these entstanden (?) und die sei dann erschreckenderweise selber auch wieder widerlegt worden, nicht zu sprechen. Wenn sie nicht begreifen können oder wollen, dass das überlange 20. jahrhundert der hyperaggressiven kollektivideologien noch nicht zu ende ist und wenn sie das dialektische denken von these und gegenthese ein irres selbstgespräch finden, dann wohl nur deshalb, weil es auch ihnen nur noch um das eindeutige meinen geht.
    damit sie die aus diesem meinen von ihnen konstruierte person dann dem guten oder bösen lager zuordnen können. Wie soll man mit leuten diskutieren, deren dichotomisches weltbild aus harry potter stammt. Ja, ich habe zugespitzt: Individualität als firstworldproblem. Aber das findet sich dennoch so im artikel, nicht wahr, hermine?
    #3 ich kann sie beruhigen. Ich setze meinen eigenen vorschlag um, und kommentiere in zukunft nur noch zweimal unter jedem artikel. Und möchte die anwesenden blockwarte dazu ebenfalls einladen. Das zählen der zeichen überlasse ich aber erstmal den nerdigen hermines? Haben sie schon was sinnvolles zu tun. Deal?

  5. #5
    »Ich setze meinen eigenen vorschlag um, und kommentiere in zukunft nur noch zweimal unter jedem artikel. «

    Vielen Dank für Ihr Verständnis.

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