Hasswort (31)

Social Distancing

Genauso rasant wie das Corona-Virus in Europa verbreitet sich der Begriff „social distancing“ in den Medien. Gemeint ist damit, dass man zwei Meter Abstand von anderen Menschen halten sowie Versammlungen und Veranstaltungen meiden soll, um sich nicht mit dem Virus anzustecken. Trotz seines anscheinend wissenschaftlichen Ursprungs führt der Begriff jedoch in die Irre. Im Deutschen wie im Englischen.

Treffender hieße es „spacial/physical/bodily oder public distancing“. Denn um Ansteckungen zu verhindern, empfiehlt sich räumliche, physische oder körperliche Distanz. Es geht um Kontakt-Reduktion, um Körper-Abstände, physische Kontakte, das Meiden von Versammlungen. Es geht nicht um eine Reduktion von Beziehungen oder sozialen Interaktionen. Das ist in einer digitalen Welt nicht mehr nötig.

Griff ins Klo

Sozial ist, was menschliche Beziehungen betrifft. Und Beziehungen sind gerade sehr wichtig, auch wenn man körperlich auf Abstand geht. Einige behaupten nun, der Begriff sei doch längst etabliert. Das ändert jedoch nichts an der Kritik. Auch bei der Wortfindung können Virologen mal ins Klo greifen. Einige besonders Wohlmeinende lesen aus „social distancing“ Folgendes heraus: Weil man andere schützen wolle – also aus sozialer Sorge –, baue man körperliche Distanz auf. Dies scheint mir ziemlich weit hergeholt und klingt eher wie eine nachträgliche Begründung eines misslungenen Begriffs.

Viel wahrscheinlicher ist eine sprachgeschichtliche Erklärung. Das unglückliche Framing basiert auf einem häufigen sprachlichen Fehlschluss. Wo Nähe herrscht, gibt es in der Tat oft gleichzeitig Beziehungen, herrscht Miteinander und Gemeinschaft. Aber die Koexistenz von Nähe und Sozialem bedeutet nicht zwingend Kongruenz. Das ist wie bei zeitgleichen Dingen, denen fälschlicherweise Kausalität unterstellt wird.

Altes Konzept von Nähe und Beziehung

Nähe und Beziehungen treffen zwar oft zusammen, aber eben nicht immer und in unserer digitalen Welt immer weniger. Das Konzept von Nähe und Beziehung wurde spätestens durch das häusliche Telefon neu geschrieben. Aber das ist in unserer Sprache noch nicht vollends angekommen. Die Digitalisierung ermöglicht es uns seit Jahren, sozial zu sein, private und geschäftliche Beziehungen im Guten wie im Schlechten zu pflegen, ohne einander physisch nahe zu sein. Eine unglaubliche Chance, auch in Krisenzeiten, wie das Coronavirus gerade zeigt.

Darum ist es an der Zeit, die Konzepte von Nähe und Sozialem sprachlich besser zu trennen. Daran ändert sich nichts, wenn einige meinen, dass Wort werde ja nicht zwingend falsch verstanden. Das stimmt, denn Sprache ist ja nicht trennscharf. Man versteht schon das Nötige, aber – und das ist die Kritik – man versteht mitunter auch mehr, als eigentlich gemeint ist.

Aus „Halten Sie Abstand zu anderen Menschen und Versammlungen“ wird in diesem Framing schnell „meiden Sie Sozialkontakte“. Angela Merkel rät in ihrer Pressekonferenz „auf Sozialkontakte zu verzichten“. Sofort wird das Framing in nahezu allen Medien wiederholt und liefert die Begründung für echte Handlungen von echten Menschen.

Google-Suchergebnisse zu Angela Merkel

Die Gleichsetzung von Nähe und Sozialem führt bei einer Reduktion des einen zu einer Reduktion des anderen. Eben weil sich Menschen an Wörtern orientieren. Das betrifft nicht alle Menschen. Einige Zeitgenossen jedoch versehen ihr Streben nach räumlicher Distanz gegenüber Hüstelnden bereits mit wüsten Beschimpfungen, Naserümpfen und dergleichen mehr.

Der Begriff „social distancing“ verstellt den Blick darauf, dass wir auch freundlich bleiben sollten, wenn wir abrücken.

Armin Laschet sagte in seiner drängenden Ansprache an die Bevölkerung am Freitag:

„Alle sozialen Kontakte werden in der nächsten Zeit ruhen müssen.“

Ich möchte antworten: Nein, müssen sie nicht. Telefoniert, schreibt Euch Mails und Nachrichten, macht Videoanrufe. Bleibt zusammen. Und bleibt freundlich, wenn ihr auf Abstand geht. Oder wie die dänische Ministerpräsidentin am selben Tag sagte:

„Jetzt müssen wir zusammenstehen, indem wir Abstand halten.“

Das ist in der digitalen Welt leichter als je zuvor.

10 Kommentare

  1. Viel schlimmer als das „social distancing“ ist allerdings das „antisocial contacting“ – in der Fachsprache auch als „Fresse polieren“ bezeichnet.

    Im Ernst: Sprachlich sind mir alle diese Denglisch-Wörter auf „-ing“ ein Graus. Es scheint ja teilweise so, als wäre ein Phänomen erst dann real, wenn es einen schicken englischen Trendnamen bekommt. „Mobbing“ zum Beispiel (schon älter), „Mansplaining“ oder „Bodyshaming“ in neuerer Zeit. Insofern: Hasswort, stimmt.

    Aber inhaltlich? Das ist mir ein wenig zu gefühlig. Unter zu vermeidende Sozialkontakte fallen Konzertbesuche und Clubnächte, nach Möglichkeit auch U-Bahn-Fahrten und Aufenthalte im Großraumbüro. Bandarbeiterinnen und Supermarktkassierer sollten auf das Umarmen der Kollegen zu Schichtbeginn verzichten. Dass sie in Telefonaten und per Mail wie gehabt ihre Zuneigung ausdrücken können, dürfte allen klar sein.

    Hier scheint mal wieder das sprachmagische Denken durch, das für den PC-Diskurs prägend ist. Auch ich entwickle derzeit einen Zorn auf hustende Mitmenschen (und bin mir der Irrationalität dieses Gefühls dabei bewusst). Mit dem Begriff „social distancing“ hat das aber nichts zu tun – den habe ich in dieser Kolumne zum ersten Mal gelesen.

  2. Ich glaube, der Autor ist hier der Bezeichnung „Social Media“ auf den Leim gegangen. Wenn man den echten physischen Kontakt zu Mitmenschen meidet und nur noch online unterwegs ist, dann bedeutet das eine soziale Distanzierung, egal ob Corona ist oder nicht.

  3. Davon ist aber nicht die Rede. Man kann sich auch Mails und per Messenger schreiben und sogar telefonieren (!). Man sollte soziale Netzwerke nicht synonym für Kontaktmöglichkeiten übers Netz nutzen. Ich kann mich Menschen durchs Schreiben näher fühlen, als wenn ich sie treffe, weil Dinge leichter zu schreiben sind als ich sie sagen könnte.

  4. Hallo Dr. Sommer,
    ich habe gestern mit einem total süßen boy auf knuddels gechattet und jetzt habe ich Angst, eine Corona zu bekommen weil wir voll intim waren. Geht dass überhaupt?
    Peace!

  5. Lieber Max,
    ja, das geht. Im digitalen Zeitalter übertragen sich Viren auch über das Internet. Du solltest unbedingt darauf achten, dass Ihr Gummihandschuhe tragt, wenn Ihr chattet. Beim Skypen denkt zusätzlich an den Mundschutz.
    Love!
    Dein Dr. Sommer

  6. Wenn ich „Social Distancing“ lese, denke ich sofort an „divide et impera“.
    Tatsache ist, dass dieses Virus dezeit gar kein Grund ist, sich nicht im kleinen Kreis von Bekannten zu treffen und auszutauschen. Händeschütteln und Umarmungen können vorübergehend auch angedeutet werden.
    Massenevents hatten dagegen immer schon wenig mit „sozial“ zu tun, nicht nur Fussball-Großveranstaltungen.
    Es fällt einfach auf, dass inzwischen ausgehend von sinnvollen Maßnahmen von einigen Akteuren wie Kurz und Söder systematisch auf Ausnahmezustand weitergeschaltet wird. Dazu werden plötzlich auch alte neoliberale Ladenhüter wie noch längere Ladenöffnungszeiten wiederbelebt.
    Als Realitätsbeschreibung, überhaupt nicht als positive Vision, gilt eben weiterhin:
    „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“

  7. @6: Schützt das auch gegen geistigen Dünnpfiff, der einem, z. B. in diversen Kommentarspalten ungefragt entgegenspritzt?
    Danki

  8. Lieber Max,
    dagegen hilft am Besten: Regelmäßig Augen waschen.
    Büddeschön
    Dr. S

  9. Der Begriff hat nur deswegen eine so große Verbreitung, weil Werbung und Medien bevorzugt (d)englische Begriffe verwenden, statt vorhandene deutsche Begriffe zu verwenden. Dabei kommt dann sogar, so wie hier, auch noch falsches Englisch heraus.
    Es wäre doch viel einfacher und korrekter von „Abstand halten“ zu sprechen, denn um nichts anderes geht es auch.

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