Bahnhofskiosk

Immer geht die Welt unter

Da steht es, gelb, schmal, kleiner als DIN A4. Wie ein Fels im Meer aus Bullshit, einsam, nur ein Exemplar, während die Zeitschriften rundherum mindestens im halben Dutzend um Aufmerksamkeit betteln. Das Heft steht so, dass man das gesamte Cover erkennen kann, wie von einem Kioskverkäufer inszeniert, der weiß: Dieses Heft ist etwas Besonderes. „Kursbuch“ 200 ! Und dann auch noch dieses Thema: „Revolte 2020“!

Ich begrüße das Heft lächelnd, wie einen Hund, der weggelaufen war und nun nach Jahren schwanzwedelnd im Garten steht. „Kursbuch“ lesen, das war mal so etwas wie Italo-Western schauen und „Beat Club“.

Mein erstes „Kursbuch“ war das mit der Nummer 11, im Januar 1968. In meinem Bücherregal stehen heutzutage, nach vielen Umzügen, noch drei Kursbücher – und ein Sammelband mit den ersten 20 Ausgaben. Den Band nimmt sich Wilhelm vor, der Konformist. Georg, der Feminist, pausiert und recherchiert. Er will herausfinden, wer wie einen Bahnhofskiosk bestückt.

„Kursbuch“ – „Revolte 2020“

Von Cordt Schnibben

Quartalszeitschrift, Ausgabe 200, 248 Seiten, 19 Euro.

Das „Kursbuch“ sei „der Begleiter aller Revolten seit 1965“ gewesen, schreibt Herausgeber Armin Nassehi im Editorial des aktuellen Hefts, das nicht „nostalgisch“ zurückblicken, sondern lieber – einmal um die Welt schauend – eine „strenge Gegenwartsanalyse“ liefern wolle. Was dann thematisch heißt: Hongkong. Rechtspopulismus. Klimaproteste. Digitale Revolte. Protestsongs. Kirchenfrauenprotest. Mädchenprotest. Und zurückgeblickt wird doch auch: Der Zeichner und Anarchist Gerhard Seyfried, Zeichnungen von eins bis jetzt.

In der ersten Ausgabe, im Juni 1965, schrieb der Herausgeber Hans Magnus Enzensberger, im Heft „wird gehandelt von Grenzübertritten in Berlin, vom Verlust einer Kneipe, von einer Stadt in Finnland, von der Lage der Intelligenz, von den Rechten und den Möglichkeiten der Schriftsteller, vom Frankfurter Auschwitz-Prozess“.

Gelegentlich – beunruhigt von der fortschreitenden Enthemmung, der Müdigkeit intellektueller Debatten, der Kraftlosigkeit von SPD und CDU – schaue ich in die Kursbücher im Regal, die 1968, 1978, 1993 versucht haben, die Gesellschaft zu beschreiben. Sie spiegeln die Themen des aktuellen Heftes wie in einem Hologramm.

Der Journalistin Hanna Lühmann, Autorin des „Briefes einer Leserin“, muss es ähnlich gehen. In Ihrem Text erzählt sie von einem Text aus dem „Kursbuch“ 54, Dezember 1978; er ist von Rainald Maria Goetz. Sie blickt, den Goetz-Text kommentierend, zurück auf das Zeitalter der Ironie vor 2014:

„Wir wollten uns informieren, uns interessieren, gleichzeitig hatten wir das Gefühl, alles, was man tun könne – in eine Partei eintreten, selber etwas gründen, Politisches posten – wäre irgendwie aufgesetzt, unauthentisch, unecht. Wir waren noch nicht an dem Punkt, an dem wir, um mit Goetz zu sprechen, ‚unsere Wirklichkeit auf diese Abstrakta beziehen können’.“

Heute sei das Politische zurück, aber damit auch die „Etiketten und Schablonen“, sie sind denkfeindlich wie eh und je, bringen, wie eh und je, Erleichterung. Heute haben wir einen neuen, aus den Gender- und Kulturwissenschaften hervorgegangen Diskurs, der sich so wunderbar selbst sortiert, dass man ihn nicht mehr durchdenken muss, um in der aus ihm hervorgegangen Sprache zu sprechen“. Etiketten und Schablonen? Ja, gibt es auch, aber sind nicht Druck und Bereitschaft, sie zu überwinden inzwischen viel bestimmender?

Kursbücher waren immer Denkbefehle, waren immer anstrengend, auch die 200. Ausgabe fördert Widerspruch, Reflexion, Weiterdenken. „Das große Nein“ von Armin Nassehi schlägt den Bogen von den Ostermärschen der Fünfziger zu den studentischen Protesten der Sechziger, den Alternativbewegungen in den Siebzigern, der Friedensbewegung in den Achtzigern, den Montagsdemos in der DDR über die Pegida-Demos bis zu den aktuellen Klimaprotesten, „die sich anschicken, die Dimension der Achtundsechziger Proteste zu übersteigen“.

Proteste sind „Themengeneratoren“ in der Demokratie, sie unterbrechen den „Machtkreislauf“ und zwingen „den Machthaber dazu, sich dazu zu verhalten“. In der Natur von Protesten liegt es, einen Protestkreislauf auszulösen, eine „Steigerungslogik“. Darum gebe es eine direkte Linie von der 68er-Bewegung zur RAF oder von „einer rechten Protestszene zu den Mördern des NSU“. Und es gebe eine „direkte lineare Logik von dem etwas verschrobenen Parteigründer Bernd Lucke hinzu veritablen Faschisten wie Höcke, die das Kampagnengeschäft gelernt haben“.

Die soziale Logik von Protesten sei ähnlich, was man daran sehe, dass der rechte Propagandist Götz Kubitschek in seiner Schrift „Provokation“ mit dieser Logik spiele, „die sich ihre Erfolgsbedingung bei linken Protestformen früherer Generationen abgeschaut hat“. Die „Steigerungslogik des Protestierens“ führe in vielen Fällen zur Gewalt. Die Frage ist: Gilt das auch für die Fridays-for-future-Proteste? Reicht den Klima-Kids irgendwann der 300. Schulstreik nicht mehr? Was kommt nach Extinction Rebellion? Eine Öko-RAF?

Der Therapeut Walter Schmidtbauer geht in seinem Text „Heilige Johanna des Waldbrandes“ der Frage nach, warum es zu Gestalten wie Jeanne d’Arc, Katharina von Siena und Greta Thunberg kein männliches Pendant gibt, also warum das Mädchen, das mit einer großen Berufung gegen die Welt der Erwachsenen kämpft, keine Brüder hat. Eine der Antworten: Erwachsenen gelingt es besser als Jugendlichen, Ängste zu verdrängen, sie lenken sich ab, fangen an zu trinken, konsumieren mehr statt weniger. Offenbar gilt das auch für männliche Jugendliche.

Die Wissenschaftlerin Cornelia Koppetsch kritisiert den „Hashtag-Feminismus“ (#Aufschrei, #MeToo) als Medienaufstand auf Nebenkriegsschauplätzen:

„Lohnungleichheiten und ökonomische Ausbeutung, Karriereblockaden, Altersarmut und alltägliche Form der Diskriminierung sind gesellschaftlich bedeutsamer, können medial aber kaum Aufmerksamkeit erzielen.“

Und sie fragt:

„Worin besteht der politische Nutzen, öffentliche Kunstwerke, wissenschaftliche Klassiker und prominente Persönlichkeiten öffentlichkeitswirksam anzugreifen und zu diskreditieren?“

„Sind Frauen die besseren Revolutionäre?“ Das fragt logischerweise die Historikerin Hedwig Richter, räumt aber ein: „Die Frau als Hort der Demokratie, der Mann als Despot – so klar lagen die Dinge eher selten zu Tage“; sie erinnert an den Aufstand der 68-Frauen gegen die aufständischen Männer und den hilflosen Vorschlag von Fritz Teufel, alle „Genossinnen auszuschließen, weil sie noch entfremdeter und blöder daherquatschen als die Genossen“; sie streift die feministische Revolutionshymne „The Pill“ von Loretta Lynn aus dem Jahr 1975 („All the years I stayed at home while you had all your fun“); um mit Mao Tse Tung zu enden, nicht mit Clara Zetkin, Rosa Luxemburg, oder Sahra Wagenknecht: „Die Revolution ist keine Stickerei.“

Was kommt nach der Revolution? Die Konterrevolution. In seinem Manifest „Wider die Schönfärberei“, gesteht der Schriftsteller Gert Heidenreich:

„Lasst uns Tacheles reden. Die neue Gegenreformation ist gelungen, die Täuscher haben es geschafft: Sie sind zur Macht gelangt. Gewohnheitsmäßige Lügner mit Amt und ohne Würde bestimmen den öffentlichen Diskurs.“

Die Revolution gegen das Fremde werde von den Schönfärbern als Rechtspopulismus euphemisiert. „Populisten sind Leute, die dem Volk nach dem Maul reden. Das ist auf Dauer eine ermüdende Strategie… Faschisten aber sind Leute, die dem populus so lange ihre scheinbar vaterländischen Parolen einhämmern, bis das Volk ihnen nach dem Maul redet und sich an den Parolen so begeistert, als habe sie selbst erfunden.“ Euphemismen und Fake News seien der Boden, auf dem solches Unheil gedeiht.

„Kursbuch“ 1965-1970

Von Wilhelm Schnibben

Band I, „Kursbuch“ 1-10, 1965-1967, Band II, „Kursbuch“ 11-20, 1968-1970, 32 Euro.

Im ersten „Kursbuch“ 1965 skizziert Hans Magnus Enzensberger das Programm seiner Neugründung:

„Kursbücher schreiben keine Richtungen vor. Sie geben Verbindungen an, und sie gelten so lange wie diese Verbindungen. So versteht die Zeitschrift ihre Aktualität.“

Was bedeutete das für die Ausgaben in den verschiedenen Jahrzehnten?

In meinem ersten „Kursbuch“, dem von Januar 1968, wurde Che Guevara – er war gerade in Bolivien erschossen worden – von Peter Weiss begraben: „Wir sind Optimisten. Wir glauben an die eingeborene Kraft, die den Menschen dazu befähigt, seine Unterdrücker zu stürzen.“ Der Dramatiker beschreibt, ganz Superoptimist, „den Tag, an dem Millionen Arbeiter die Fabriken und Werkstätten verlassen und fordern werden: Schluss mit der Schlächterei – dieser Tag wird der Anfang vom Ende sein, vom Ende des Imperialismus.“

150 Seiten später, im Text „Berliner Gemeinplätze“ allerdings räumt Hans Magnus Enzensberger ein:

„Das Gespenst der Revolution flößt Millionen unserer Mitbürger sinnlose Angst ein“.

Am Ende des „Kursbuch“ 20, wir sind im März 1970, also fünf Jahre später, entwickelt Hans Magnus Enzensberger seinen Baukasten zu einer „Theorie der Medien“, einen erstaunlich weitsichtigen Blick, der bis in die Gegenwart 50 Jahre später reicht. „Mit der Entwicklung der elektronischen Medien ist die Bewusstseinsindustrie zum Schrittmacher der sozioökonomischen Entwicklung spätindustrieller Gesellschaften geworden.“ Und: „Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Masse selbst befinden.“

Die Kursbücher der ersten beiden Jahrzehnte waren viel stärker als heute auch eine literarische Zeitschrift, offen für „neue Prosa und neue Poesie“. Und wo die literarische Vermittlung versagt, „wird das „Kursbuch“ den unvermittelten Niederschlag der Realien zu fassen suchen: in Protokollen, Gutachten, Reportagen, Aktenstücken, polemischen und unpolemischen Gesprächen“.

Im „Kursbuch“ 54, Dezember 1978, reiht sich Reportage an Reportage, Essay an Essay, Gespräch an Gespräch. Mittendrin der sehr subjektive, sehr erschöpfte Blick eines Einzelgängers, mitten im deutschen Herbst aufgeschrieben vom Medizinstudenten Rainald Maria Götz, zu Papier gebracht in seinem ersten Text:

„Und so sitze ich, während ich dies schreibe, in meiner Studentenbude mitten in Schwabing, allmonatlich überweist der Vater die Miete. Ich habe mir den anerzogenen Weg gewählt, das Medizinstudium also, ein geordnetes, höchst braves Privatleben, ohne Alkohol, ohne Drogen, ganz ohne Studentenboheme. Ich werde das Soll erfüllen, Ausbrüche, Einbrüche, Abbrüche, nein, Brüche irgendeiner Art, sichtbar nach außen, erwarte ich nicht. Die Erwachsenen werden mir wieder anerkennend auf die Schulter klopfen, der macht seinen Weg.“

Im „Kursbuch“ 113, September 1993, formuliert ein Dutzend Jugendlicher in Selbstportraits ihre Hoffnung und Enttäuschung im wiedervereinigten Deutschland.

Der Schriftsteller Bodo Morshäuser surft mit spitzen Fingern durch die Sechziger, Siebziger, Achtziger:

„In den Sechzigern wurde Identität von den Protestierenden gesellschaftlich begriffen und als Veränderung gedacht. In den Siebzigern wurde sie persönlich als Selbstverwirklichung verstanden. Achtzigerjahrejugendliche, die sich von Jugendlichen vorherige Jahrzehnte unterschieden, hatten nicht das Ziel der Identität. (…) Die Sechziger und Siebziger waren Jahrzehnte inhaltlicher politischer Auseinandersetzung, die Achtziger waren das Jahrzehnt des Bestreitens von Inhaltlichem.“

Der Journalist Klaus Hartung schreibt 1993 – nach Rostock, Hoyerswerda, Hünxe, Mölln und Solingen – als hätte Gerd Heidenreich 2020 von ihm abgeschrieben:

„Wir sind in die Defensive geraten… Bedroht sind Frauen und Kinder, türkische Frauen und türkische Kinder. Ausländer. Wir müssen etwas Selbstverständliches verteidigen. Etwas, das so selbstverständlich ist wie der Satz: Frauen und Kinder dürfen in unserer Gesellschaft nicht umgebracht werden.“

Und auch Ernst Uhrlau, der Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, klingt wie aus der Zukunft:

„Für das Selbstbewusstsein des organisierten Rechtsextremismus bedeutet die Legitimation durch die Zustimmung von Teilen der Gesellschaft einen Motivationsschub.“

Am Ende des 200. „Kursbuchs“ bilanziert Herausgeber Peter Felixberger: „Seit ich lebe, geht die Welt unter.“ Ich bin gespannt auf das 220. „Kursbuch“.

3 Kommentare

  1. „…warum es zu Gestalten wie Jeanne d’Arc, Katharina von Siena und Greta Thunberg kein männliches Pendant gibt…“
    Bei Jeanne d’Arc zumindest ist die Antwort doch klar:
    Sechzehnjährige zieht in den Krieg, alle so: „Sie ist eine Heldin und eine Heilige!“
    SechzehnjährigeR zieht in den Krieg, alle so: „Na, DAS ist ja wohl auch das Mindeste.“
    Aber klar, „männliche Jugendliche saufen mehr“ ist natürlich auch eine Erklärung…

  2. Heute Gemischter Metaphernsalat mit Quatschsoße: „spiegeln im Hologramm“. Nach einem Originalrezept von Heinz Ehrhardt.

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