Bahnhofskiosk

Dieses ganze spannende Leben auf DIN A5

15 Euro sind verdammt viel Geld für ein Magazin. Andererseits kommt „Reportagen“ aus der Schweiz und kostet dort 20 Franken. Das wären umgerechnet noch mal drei Euro mehr. Seit 2011 erscheint das Taschenbuch im DIN A5-Format im Zweimonatsrhythmus und es fällt in seiner plakativen Unscheinbarkeit am Kiosk auf: Kein Foto auf dem Cover, starkfarbige Umschläge und eine große, kantige Serifenschrift für die Themen des Hefts. In Ausgabe 28 vom Mai 2016 sind es Texte aus China, Brasilien, Südafrika, Ägypten, Russland und Indien.

Reportagen #28

Den Anspruch an die eigene Arbeit formuliert „Reportagen“ in den redaktionellen Leitlinien so: „Kluge Essays aus dem Elfenbeinturm interessieren uns nicht. Unsere Autorinnen und Autoren gehen hin und erleben selbst.“ Auch das Heft startet nicht nur mit einer Weltkarte, auf der die besuchten Schauplätze eingetragen sind, sondern auch mit einer Selbstverortung zwischen Journalismus und Literatur. Zitat: „Ein Meilenstein der literarischen Reportage ist Truman Capotes ‚Kaltes Blut‘, ein Tatsachenroman, der 1965 erschien. Er schafft den Spagat zwischen Faktentreue und romanhaftem Erzählen.“

Nach einer lesenswerten Abfolge von „Making of“-Texten, die mit Hintergründen, Fakten und Anekdoten für Neugier auf die einzelnen Stücke sorgen, steigt der Schweizer Urs Mannhart tatsächlich literarisch in seine China-Reportage ein. „Hätte ich gewusst, dass Rung Li dort wohnt, wäre ich viel früher schon nach Chongqing gereist. Aber so ergeht es dem Menschen: Sein Leben lang bewegt er sich wie eine Schnecke, auf dem Kopf zwei Fühler als Stummel.“

Wie in der klassischen Bauform einer Kurzgeschichte führt er gleich im ersten Satz eine Person ein, die erst viel später wichtig für seine Geschichte wird: Rung Li ist Masseur des „Cheng Yu Blinded Therapeutic Service“ und er wird den Autor von seinen Rückenschmerzen befreien. Die Geschichte von Rung Li ist ein kunstvoll eingearbeiteter Strang in einer Reportage über das Getriebe in der größten Stadt der Welt in Zentralchina, die diesen Titel nur inoffiziell trägt. Fast 29 Millionen Menschen leben innerhalb des Verwaltungsbezirks, der rapide zusammenwächst, und Urs Mannhart gelingt es, den kakophonischen Sound einer riesigen Baustelle und Garküche mit Sprache zu instrumentieren.

Reportagen #28

Ganz ohne Bilder kommt auch „Reportagen“ nicht aus, aber es sind hauptsächlich Illustrationen, Infografiken und typographische Elemente, die nicht als bloße Deko eingesetzt sind, sondern die Texte mit Zusatzinformationen unterfüttern und auf eigenen Seiten platziert sind, um den Erzählfluss nicht zu stören.

Die dezent eingesetzte Perspektive der ersten Person in Mannharts Text verlässt Monique Schwitter in ihrer Reportage über Bandlakazi, einer Frau aus dem südafrikanischen Volk der Xhosa. Bandlakazi nimmt die Schriftstellerin und die Leser mit in ihr Auto, durchquert auf der National Route 2 das Land und reist zu ihrer Familie.

Monique Schwitters Art des Erzählens ist prall, bunt, schnell und wie das Plastikperlenarmband ihrer Protagonistin am Steuer. Sie bändigt viele Informationen, lädt sie auf, setzt sie in Zusammenhänge und folgt trotzdem einem klaren Erzählstrang. Ihr Text ist journalistisch, weil er die Bewegung seiner Hauptfigur an die Geschichte und Kultur einer Region knüpft, aber er ist in seiner Zugewandtheit zu dieser Person auch erzählerisch und verweigert sich dabei weder der Identifikation, noch der Zuneigung. Auf 15 Textseiten ist zum Glück genug Platz für diese Zwischentöne.

Reportagen #28

Mit dem Raum für Geschichten und dem damit zwangsläufigen tieferen Eintauchen in den Sprachduktus eines Autors sind die Übergänge zwischen den Texten in „Reportagen“ harte Schnitte. Nach dem opulenten Erzählstil von Monique Schwitter folgt ein besonders kühner Bruch: „Sotschis Soundtrack“, geschrieben vom 34-jährigen Dmitrij Gawrisch, ist ein Textsteinbruch aus vielen kurzen Sätzen, die meisten nicht länger als fünf oder sechs Worte.

Manches davon ist so nüchtern-deskriptiv wie im sozialistischen Realismus, den Dmitrij Gawrisch in seinem Tagebuch-Stakkato zu persiflieren scheint. „Endlose Kolonnen von Lastwagen mit Nummernschildern aus ganz Russland. Überall Kräne, Staub, Dieselgestank. Diesel: 34,70 Rubel pro Liter.“ Dann kippt es plötzlich, wird poetisch, der Autor mischt wörtliche Rede in den Text und dennoch bleibt er journalistisch, weil das, was er beschreibt, nachvollziehbar und nachprüfbar ist – nur eben mit einer eigenen Sprechstimme vorgetragen.

Das ist es auch, was „Reportagen“ so besonders macht – die deutlich sichtbare Eigenart seiner Autorinnen und Autoren, die in langen Stücken ihre Haltung nicht verstecken müssen. Und der – in den journalistischen Leitlinien des Magazins genannte – Fokus auf Nebenschauplätze ist natürlich charmantes Understatement. Denn ganz ohne den Rand wäre die Mitte irgendwo. Nur nicht in der Mitte.

Reportagen #28

REPORTAGEN
#28 Mai 2016, 138 Seiten, 15 Euro
Puntas Reportagen AG

 

3 Kommentare

  1. Muss auch mal gesagt werden: Peter Breuer schreibt hier eine richtig gute Kolumne! Hatte diese „Reportagen“ immer auf dem Schirm, aber dann doch aus den Augen verloren. Jetzt flott endlich gekauft. Peter Breuers Streifzüge durch den Bahnhofskiosk: ganz großartige Infos. Danke! :-)

  2. Reportagen eröffnet jede Ausgabe mit einem anderen Zitat. Vor einiger Zeit war es

    „Lies nur, was dich gut aussehen lässt, falls du mittendrin stirbst“ (P.J. O’Rourke)

    Dieses Selbstverständnis vorausgesetzt könnte man Reportagen für ein leicht blasiertes, elitäres Magazin halten. Ein Gefühl, das ziemlich schnell verschwindet, wenn man damit beginnt, eine Ausgabe zu lesen. Das liegt aber nun nicht daran, daß man mit diesem Heft besonders lächerlich aussähe, stürbe man tatsächlich während des Lesens. Vielmehr sind wirklich nahezu alle Reportagen auf die eine oder andere Art ausreichend fesselnd geschrieben, sodaß man sich beim Lesen gedanklich nur noch mit dem Mikrokosmos der jeweiligen Erzählung beschäftigt.

    Ich habe Reportagen vor etwa anderthalb Jahren kennengelernt, als Blendle mir aus dem Nichts heraus ein Geschenk machte und mir die Wahl ließ zwischen einem kostenlosen Abo-Monat mit Archivzugriff von Reportagen oder vom Kicker. Dann las ich diese Kolumne und nur ein Jahr später schloss ich ein Abo ab, was ich aber – man merkt es vielleicht – nicht bereue. Für 90 Euro erhält man ein Jahresabo mit 6 Heften und Zugang zu sämtlichen bereits erschienenen Ausgaben in digitaler Form. Verzichtet man darauf, spart man 5 Euro und hat somit nicht allzu schlau agiert.

    Erstaunlich finde ich, daß jedes Heft wie aus einem Guss wirkt – und das obwohl (wie von Peter Breuer so schön beschrieben) sich permanent alle möglichen Stilrichtungen abwechseln. Wesentlich dazu trägt die Gestaltung bei: Die Coverfarbe (fast jedes Heft kennt nur drei Farben – Schwarz, Weiß und die jeweilige Coverfarbe) zieht sich mit spärlich eingesetzten Elementen durchs ganze Heft und schafft es komischerweise auch dann nicht zu irritieren, wenn sie sich mal entscheidet, eine komplette Reportage spaßeshalber farblich einzuquetschen (wie bei „Portugals Muschelmafia“ in Heft Nr. 35).
    Jedes Heft beinhaltet 5 Reportagen, dann folgt eine „historische Reportage“ in der beispielsweise George Orwell erzählt, wie er sich in Paris um 1930 als Tellerwäscher in einem Lokal durchschlug, in welchem der Kellner unliebsamen Gästen gegenüber gelegentlich den Putzlappen über der Suppe auswrang. Die Reportagen, die auch mal in Form einer Graphic Novel erscheinen können, stehen als kompakter Block, lediglich ergänzt durch einen weiterführenden „Kontext“ zum Abschluss und zeitweise aufgelockert durch ein Statistikblatt – mit Zitaten, wenn’s passt.

    Davor und dahinter ist ein wohlgeordneter Kladderadatsch aus festen und wechselnden Rubriken, zwischen den die Anzeigen der Werbekunden gestreut werden – diese sind dann auch die einzigen Seiten im Heft, die mehr als drei Farben beinhalten; selten wurde Werbung so zelebriert, für die Kunden wohl ein überbordender Quell der Freude.

    Zu der Rahmenhandlung der Hefte: Michalis Pantelouris schrieb einmal:

    Gleichzeitig gibt es einen Lehrsatz in Print-Redaktionen, zu dem ich keine endgültige Meinung habe: „Der Leser braucht Struktur.“ Er soll wissen, wo er gerade ist im Heft, Dinge wiederfinden, seine festen Leuchttürme, und die Mutter aller Leuchttürme sind „Rubriken“, die zu jedem Erscheinungszyklus neu gefüllt werden. Zugleich, finde ich, sind sie das Gefährlichste, was man einem Magazin antun kann, wenn man nicht sehr aufpasst.

    Gefährlich, weil – so führt er weiter aus – die Gefahr besteht, daß die Rubriken irgendwann mit Beliebigkeit gefüllt werden, eben weil sie gefüllt werden müssen und nicht weil deren Inhalt einen Mehrwert bieten würde. Das ist bei Reportagen ziemlich einfach gelöst: Es gibt haufenweise Rubriken. Diese sind unter anderem:

    „Keine Geschichte“ – Ein Reporter erzählt, worüber er gerne geschrieben hätte und warum das nichts geworden ist.
    „Das Duell“ – Zwei Autoren schreiben über dasselbe Ereignis aus ihrem eigenen Blickwinkel.
    „…was seither geschah“ – Man nimmt sich bereits erschienener Reportagen an und schaut, was seit der Veröffentlichung passiert ist.
    „Autor im Gespräch“ – Ein Interview mit dem Autor einer Reportage des aktuellen Heftes.
    „Poesie vor Ort“ – Verständliche und unverständliche Lyrik.
    „Das Buch“ – Eine überaus kurze Rezension.
    „Das Objekt“ – Urs Mannhart ordnet einen Gegenstand geschichtlich ein.
    „Reporter Andernorts“ – Wie es Reportern überall auf der Welt ergeht, ihre Erfolge und Niederlagen.

    Keine Rubrik ist in jedem Heft vertreten; manche kehren in regelmäßigen Abständen wieder, andere nur ganz selten und wieder andere ruhen dauerhaft. Das finde ich gerade deswegen so geschickt, da man so die Gefahr des Totlaufens problemlos umschifft und der regelmäßige Leser trotzdem seine liebgewonnenen Leuchttürme bekommt, wenngleich diese manchmal von herausragender Winzigkeit sind.

    Ebenso winzig ist auch der Club, den das Magazin mitbegründet hat: Der „The independent longform Club SELECT“, der so klein ist, daß er nur auf einer Unterseite des hauseigenen Onlineauftritts und in einem Facebook-Post Erwähnung findet. Hier haben sich sechs Magazine aus verschiedenen Ländern zusammengeschlossen, die das Interesse an langen journalistischen Texten eint: XXI und 6Mois aus Frankreich, Harper’s aus den USA, Internazionale aus Italien und Gatopardo aus Mexico gehören dem Geheimclub, der auf ihren Websites nicht einmal erwähnt wird, an. Auch was der Club nun genau macht, bleibt unklar; vorrangig scheint der Zweck zu sein, sich gegenseitig interessante Geschichten zuzuschustern. Das aber ist wohl auch nicht das Schlechteste, wenn man bedenkt, wie viele großartige Reportagen überall auf der Welt geschrieben werden, von denen man mangels Sprachkenntnis nichts mitbekommt.

    Reportagen eröffnet jede Ausgabe mit einem anderen Zitat. In der vorletzten Ausgabe war es

    „Journalismus heißt, Dinge zu drucken, die andere nicht gedruckt sehen wollen. Alles andere ist Public Relations.“ (George Orwell)

    Dieser Kommentar hier ist somit definitiv Public Relations; ich möchte aber betonen, daß ich dafür absolut nichts bekomme. Ich habe ihn nur geschrieben, weil mir dieses Projekt wirklich sehr gefällt und ich mir ebenso wie bei Übermedien wünschen würde, daß es möglichst lange überlebt.

  3. Dieser Artikel ist zwar schon etwas älter, ich bin jedoch jetzt erst darauf gestoßen.

    Was soll ich sagen? Die Rezension hat mir gereicht mir den Internetauftritt des Magazins mal anzuschauen. 20 Minuten später war ich Kunde und warte auf meine erste Ausgabe. In der Zwischenzeit habe ich digital schon einige ältere Ausgaben gelesen.
    Bis jetzt find ich das Magazin genial. Eine willkommene Abwechslung zu dem vielen Mist, den man tagtäglich im Internet und auch in Zeitschriftenform lesen kann.

    Vielen Dank für die Empfehlung.

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