„Berliner Zeitung“

Berliner Mordraten-Raten mit Götz Aly

„Die Weigerung, Texte genau durchzuarbeiten, scheint zu grassieren“, schreibt der bekannte Historiker Götz Aly in seiner Kolumne in der „Berliner Zeitung“ und immerhin damit hat er zweifellos recht.

Er hat neulich eine längere Zugfahrt gemacht und bei der Gelegenheit eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung genau durchgearbeitet. Dabei entdeckte er, was andere Journalisten entweder nicht sahen oder nicht berichtenswert fanden: Eine Grafik, wonach die Mordrate in Berlin exorbitant hoch ist – viel höher als in allen anderen europäischen Metropolen.

Aly hat den Skandal dieses angeblichen Rekordes zum Jahreswechsel in der „Berliner Zeitung“ unter der Überschrift „Berlin, verschlampt und mörderisch“ angeprangert. Von dort aus machte der Aufreger die Runde, nicht zuletzt verbreitet von der AfD, ihr nahestehenden Medien, aber auch der „Berliner Zeitung“ selbst. Allerdings stellte sich heraus, dass der Vergleich in der Studie dramatisch hinkt: Die Mordrate für Berlin ist künstlich aufgebläht, weil sie unter anderem auch Arbeitsunfälle und versuchte Tötungen enthält. (Übermedien berichtete.)

Das DIW hat die Probleme inzwischen eingeräumt, die „Berliner Zeitung“ ihre Berichterstattung korrigiert. Richtig gerechnet, scheint die Mordrate in Berlin im Vergleich europäischer Metropolen nicht besonders auffällig zu sein.

Götz Aly aber sieht weder sich in der Verantwortung für die Verbreitung der falschen Zahlen, noch möchte er sich von der liebgewonnenen Überzeugung trennen, dass die Mordrate in Berlin außerordentlich hoch ist.

Die Studie, deren Zahlen er einfach ungeprüft übernommen hat, habe einfach Zahlen ungeprüft übernommen, kritisiert er nun. (Zurecht.) Es ist für ihn nur noch eine „sogenannte Studie“.

Dass das DIW aber jetzt in Ruhe die Zahlen prüfen will, ist für ihn auch nicht akzeptabel:

Warum plötzlich so betulich? Es geht auch schneller. Zum Beispiel weist die Kriminalstatistik für den Großraum Paris (die statistische Einheit le Grand Paris) für Mord und Totschlag (homicide) für 2016 eine Rate von 1,1 pro 100.000 Einwohner aus (73 Fälle).

In Berlin waren es 2016 – ohne den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz! – 92 Fälle. Das ergibt für das deutlich kleinere Berlin eine Mord-und-Totschlag-Rate von 2,6 pro 100.000 Einwohner.

Nein. Hätte Aly die Polizeiliche Kriminalstatistik genau durchgearbeitet, hätte er gelesen, dass die 92 „Fälle“ keineswegs 92 Todesfällen entsprechen. Darin enthalten sind auch 55 versuchte Taten. Die Zahl der vollendeten Taten im Bereich Mord und Totschlag betrug 37. Das entspricht einer Rate von 1,1 pro 100.000 Einwohner, also ungefähr jener des Großraums Paris inklusive der Vorort-Departements Seine-Saint-Denis, Hauts-de-Seine und Val-de-Marne, den sich Aly zum Vergleich ausgesucht hat, warum auch immer. Die Rate von 1,1 gibt auch das BKA in seiner Polizeistatistik für Berlin an.

Die OECD, auf deren Zahlenreihen die DIW-Auswertung beruhte, hat die Werte für Deutschland inzwischen korrigiert. Sie kommt nun auf eine Rate von 1,4 für Berlin (dabei sind auch Körperverletzungen mit Todesfolge enthalten) und 2,4 für Paris.

All diese Werte sind mit größter Vorsicht zu interpretieren und zu vergleichen, und mit etwas Pech entdeckt Götz Aly nächste Woche in der Statistik, dass die Zahl der Fälle in Berlin im Jahr 2018 scheinbar explodiert ist. Das liegt daran, dass die Opfer des Anschlags vom Breitscheidplatz erst in jenem Jahr erfasst werden, in dem die Ermittlungen abgeschlossen waren. Und das BKA dann aber auch die Verletzten eines Anschlags als Opfer eines Tötungsdeliktes mitzählt, so als wären sie ums Leben gekommen.

Man müsste das schon sehr, sehr genau durcharbeiten – oder es aber, wie Götz Aly:

  • lassen
  • sich darüber beschweren, dass andere Medien ihn korrigieren
  • selbst neuen Unsinn verbreiten
  • und sich bitter beklagen, dass der Senat sich dazu nicht äußert.

Erstaunlich ist, dass die „Berliner Zeitung“ offenbar keinerlei Interesse hat, seine Fehler zu korrigieren. Auch Alys ursprüngliche Kolumne ist nach wie vor online. Dass sein neuer Text dem widerspricht, was man selbst schon eingesehen hatte, scheint auch niemanden gestört zu haben.

Mit großem Dank an Tobias Blanken und Tobias Wilke für ihre Recherchen.

Nachtrag, 15:35 Uhr. Nun steht vor der aktuellen Kolumne folgende Korrektur:

Korrektur: Gemessen an Paris ist Berlin nicht „extrem mörderisch“. Die Kritiker meiner Kolumne vom 13. Januar 2020 haben in dem für die Argumentation entscheidenden Punkt recht: Im Vergleich der Mord-und-Totschlags-Raten pro 100.000 Einwohner zwischen Berlin und Paris ist mir ein schwerer Irrtum unterlaufen. Während ich für Paris die vollendeten Tötungsdelikte angeführt habe, habe ich für Berlin eine Statistik übernommen, in der – eigentlich deutlich genug markiert – auch die nur versuchten Tötungsdelikte mitgezählt werden. Ich bedauere diesen Fehler und bedanke mich bei all denen, die ihn aufgedeckt haben. Götz Aly

17 Kommentare

  1. Kreatives Kriminalstatistikauswerten scheint des deutschen Michels Lieblingsdisziplin zu sein. Sehr gelungen fand ich seinerzeit die Aufarbeitung der Jahre 2016 und 2017. Da schob die halluzinierende Rechte die 308 Tötungsdelikte von Andreas (Pilot) und Niels (Krankenpfleger) den Flüchtlingen in die Schuhe.

  2. Drollig finde ich, dass Götz Aly seiner Kolumne offenbar eine Korrektur vorangestellt hat, in der er den Fehler bedauert und sich entschuldigt. Die Kolumne selbst steht aber weiterhin unter der Korrektur.

  3. @Carsten: Ah, das stand da vorhin noch gar nicht. Habe das oben nachgetragen.

    Man könnte aber immerhin sagen, dass das nicht nur drollig, sondern auch transparent so ist: Korrektur plus Original.

  4. Bedeutet das, dass bei der Berliner Zeitung Kolumnistinnen und Kolumnisten selbst für ihre Korrekturen verantwortlich sind?
    Auch wenn der Redaktion inhaltliche Fehler sind?

    Zu Alys Artikel vom 31.12.19 „Berlin, verschlampt und mörderisch“ fehlt weiterhin eine Korrektur. Allerdings wird (zumindest derzeit) auf einen Artikel über die Kritik an den verwendeten DIW-Zahlen prominent hingewiesen.
    Das Problem ist also das Übliche: Leserinnen und Leser, die nur die erste Meldung wahrnehmen und das Thema danach nicht weiterverfolgen, bekommen nur die Fehlinformation mit. Von denen, die ohnehin aus politisch-ideoligischen Gründen nur ein Interesse an der Falschmeldung hatten, weil sie ins eigene Weltbild passte, will ich gar nicht erst anfangen.

  5. Danke für die fleißige Aufklärung. Zu ergänzen wäre noch: Wenn Aly richtig hätte vergleichen wollen, dann hätte dem Großraum Paris nicht die Stadt Berlin entsprochen, sondern die Agglomeration Berlin – zu der neben Potsdam auch kleinere Städte wie Oranienburg, Bernau und Königs Wusterhausen gehören.

    Ich vermute, dann wären die korrekten Zahlen noch stärker zugunsten Berlins ausgefallen. Denn während die Kriminalitätsschwerpunkte hier innerhalb des Stadtgebietes liegen und es im Umland eher beschaulich zugeht, ist es in Paris umgekehrt: Die belasteten „Banlieues“ aus den 70ern liegen dort jenseits der Stadtgrenze.

  6. Schade, denn das war wohl das einzige Mal, dass die AfD-Nasen einen Deutschen, dessen Nachnamen man „Ali“ ausspricht, feiern. :-)

  7. @6: Die AfD-Nasen huldigen jedem, der ihnen das eigene Weltbild bestätigt. Also zumindest bis zur Machtergreifung, danach muss man jede Verbindung zu Alis und Pirinçcis leugnen, um nicht als entartet zu gelten.

  8. @8: Welcher Vergleich?
    Ich erkläre das gerne noch mal: Rassisten sind unbeliebt, sowohl unter Nicht-Rassisten, als auch unter Rassisten anderer Rasse.
    Nutzt ein deutscher Rassist nun einen Rassisten aus einem anderen Land als Steigbügelhalter für die eigene Ideologie, ist das paradox, weil der Rassismus des einen sich direkt gegen die physischen Eigenschaften (Hautfarbe z.B.) des anderen Rassisten richtet.
    Die inhärente Ideologie des Rassismus verbietet also sowohl die Zusammenarbeit mit nicht.Rassisten, als auch mit Rassisten anderer Rasse.
    So ist man aber alleine auf weiter Flur.
    Daher organisieren sich europäische Rassisten schon seit einigen Jahrzehnten gemeinsam, um gegenüber nicht-Rassisten so auszusehen, als wären die Rassisten eine homogene Gruppe, die ein gemeinsames Ziel verfolgt, was aber natürlich gar nicht der Fall sein kann, da der eine Rassist gerne die Rasse des anderen Rassisten auslöschen möchte.
    Die Zusammenarbeit unter Rassisten unterschiedlicher Rasse kann also zur bis zu einem Zeitpunkt X (hier: Machtergreifung) funktionieren, danach ist das mittel zum Zweck nämlich verbraucht.

  9. Was sind den „Rassisten anderer Rasse“? Seehunde, Bonobos oder Kopffüßler? Unfassbar, daß man 20202 selbst anscheinend klar denkenden Menschen noch erklären muß das es keine Menschenrassen gibt.

  10. @ Anderer Max (#10):

    Jaja, schon klar. Was hat Götz Aly mit einem „Rassisten aus einem anderen Land“ (wie Pirincci) zu tun? Der Mann hat „Hitlers Volksstaat“ geschrieben! (Das bleibt, auch wenn er sonst in letzter Zeit viel Blödsinn verzapft.)

    Funfact: Aly hat wahrscheinlich den ältesten moslemischen „Migrationshintergrund“ Deutschlands. Einer seiner Vorfahren ist der (unter anderem Namen) im Osmanischen Reich geborene Christian Friedrich Aly, der am Hofe Friedrichs III. von Brandenburg um 1700 als „Königl. Cammer-Türcke“ tätig war – der erste dokumentierte Deutsch-Türke Berlins.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Aly

  11. Ich wundere mich auch immer, wie phantasievoll manche Leute Kriminalstatistiken interpretieren. Insgesamt kommt bei vielen Interpreten (Journalisten und anderen) dann auch viel Unsinn heraus, weil sie regelmäßig weder die Entstehungsbedingungen noch die Einschränkungen beacjhten. Das mit den mitgezählten Versuchen ist ein Klassiker. Hinzu kommt, dass in die Polizeistatistik, es handele sich beim Versuch um ein Tötungsdelikt, allein die polizeiliche Sicht eingeht, die oftmals von Staatsanwaltschaft und Gericht nicht bestätigt wird, wenn ein Tötungsvorsatz nicht beweisbar ist. In den 1990ern wollte man in Berlin vom Ausland (Amerika!) lernen, indem dei Polizeigewerkschaft zur Beratung den police commissioner William Bratton von NYC einlud. Er hatte immerhin vorzuweisen, die New Yorker Tötungsrate um einiges gesenkt zu haben. Dass die Rate in NYC nach seinem Erfolg immer noch sehr viel höher lag als die in Berlin, war dabei weniger bedeutsam. Hier ein Artikel von 1997 dazu:
    https://jungle.world/index.php/artikel/1997/36/berlin/new-york-connection

  12. Diagonal lesen + Ungenügendes Text- oder Sachverständnis + Sensationslüstern + Erste:r sein wollen = Artikel in Bildzeitungsqualität.

    Passiert mir auch manchmal. Bin aber kein Journalist.

    Hoffe, dass Aly durch seine Doppelblamage wenigstens ein klein wenig dazu gelernt hat.

  13. „Die Weigerung, Texte genau durchzuarbeiten, scheint zu grassieren“

    Da hat er ja die Fallhöhe selbst schön weit oben angesetzt, um dann im freien Fall von dort herunterzustürzen. Peinlich. Das doppelte Hereinfallen auf (seltsamerweise offenbar gewünscht) hohe Werte für Berlin ist doppelt peinlich.
    Summa summarum also eine Dreifachpeinlichkeit.

    Wenn Zahlen derart divergieren, sollte jedem Menschen mit Verstande die Klärung der simplen Frage „Kann das sein?“ als allererst zu klärende zwingende Aufgabe erscheinen. Man kann ja Merkel, Müller, Migranten noch so sehr kritisieren wollen, aber so viel können die alle nicht anrichten, dass an sich nicht so unähnliche Orte derart unterschiedl. Zahlen liefern. Die Frage war also leicht mit „Nein“ zu beantworten. Irgendwo musste ein Fehler sein. Es war auch gar nicht mal so schwer, diesen zu finden.

    Aly hat nun also zweimal *nicht* gründlich durchgearbeitet. Für einen Historiker (weitere Fallhöhe: eigentlich zu erwartende Kompetenz genau hier) ist das nicht nur eine Vierfachpeinlichkeit, sondern ein Super-GAU.

    An seiner Stelle würde ich da tief in mich gehen, nach Fehlerquellen bei mir, schon um zu verhindern, dass es rasch wieder passiert.

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