Wahrscheinliche IS-Rückkehr

Die trügerische Stille um den „Islamischen Staat“

Was ist eigentlich mit dem so genannten Islamischen Staat? Fragen Sie sich das manchmal? Man erinnert sich dunkel, da war mal was: Autokonvois, die mit wehenden Fahnen in den Sonnenuntergang fahren. Schwer bewaffnete Männer. Zerstörte Weltkulturerbe wie die Stadt Palmyra. Oder, das erschütterndste Beispiel, die albtraumhaft grellen Wüsten-Szenarien: Menschen im orangefarbenen Guantanamo-Einteiler – kurz vor ihrer Ermordung.

Es gab Zeiten, nicht lange her, in denen verstrich kaum ein Tag, an dem man nicht mit Bildern der Terrormiliz konfrontiert wurde. Jeder kann diese Bilder geistig sofort abrufen, sie haben sich eingebrannt. Schlagzeilen wie „ISIS Massaker am Strand“ oder „Terrorbraut packt aus“ erinnern an den „ekelerregenden Aperitif“, mit dem Baudelaire schon im 19. Jahrhundert beschrieb, man könne Zeitungen nicht durchblättern, „ohne in jeder Zeile die erschreckendsten Merkmale der menschlichen Perversität zu finden“.

Aber was ist aus ihm, dem IS, geworden? Aus dieser perversen Form eines ehemaligen Medienhypes? Solche Aufmerksamkeitsblasen nehmen zunächst massiv Raum ein und verdrängen temporär andere Themen. Ähnlich wie bei einer Immobilienblase basieren sie auf Überbewertungen, die sich selbst verstärken. Das hat zugenommen. Immer öfter bewegt sich die Sichtbarkeit von Nachrichten in Extremen: Entweder man hört in andauernder Penetranz von einer Nachricht, oder sie ist verschollen, bis auf wenige Ausnahmen vielleicht. Wie der IS, der einst ein Gebiet in der Größe Großbritanniens kontrollierte.

Die Bilder, das uns damals erreichten, kamen vom IS selbst: sorgfältig geplant, erstellt und kuratiert. Westliche Medien haben diese Propaganda-Fotos und -Filme – auch aus Mangel an Alternativen, es gab einfach nichts anderes – eins zu eins übernommen. Das war natürlich schön einfach – und extrem problematisch. Denn dass uns diese Bilder genau so erreichen, war ja beabsichtigt.

Terroristen: Meister des Narrativ-Managements

Terroristen, vor allem die Anhänger des IS, sind wahre Meister des Narrativ-Managements. Sie wissen, wie man psychologische Zermürbungstaktik im Krieg einsetzt. Sie wissen, wie wirkmächtig solche Bilder sind, weil sie uns emotional unmittelbar treffen. Oder, wie Karl Ove Knausgård schreibt:

„Sie wollten in unsere Träume. Alle wollten dorthin. Unser Inneres war der letzte Markt.“

Dort sind wir ultimativ verletzlich.

Westliche Medien haben dem IS früher in die Hände gespielt, indem sie halfen, dessen Narrativ der barbarischen, extrem mächtigen Terrorgruppe weiterzuverbreiten – oft sogar ohne Hinweis auf den Ursprung der Quelle. Der IS hat auf die Spitze getrieben, was Susan Sontag die „routinemäßige Auslösung von Gefühlsreaktionen“ nennt: die Ausbeutung von Gefühlen wie Mitleid, Empörung oder Schock, was die Kriegsfotografie ja immer auch mitträgt.

Was es damals an Aufmerksamkeit zu viel gab, gibt es heute allerdings viel zu wenig. „ISIS is gone“ – mit dieser zweifelhaften Aussage brüstet sich US-Präsident Trump seit dem Frühjahr immer wieder; kürzlich erst, als ihn die Friedensnobelpreisträgerin Nadia Murad aufforderte, die durch den Völkermord vertriebenen Jesiden zu schützen. Schon im Dezember hatte Trump den Sieg über den IS in Syrien verkündet und den Abzug der US-Streitkräfte angeordnet, was international als verfrüht kritisiert wurde.

Fünf Jahre währte die so genannte Anti-IS-Koalition. Sie flog mehr als 30.000 Luftangriffe. Die Zahl der getöteten Zivilisten ist unklar: Die Nichtregierungsorganisation Airwars geht von mindestens 7.500 zivilen Opfern aus, Menschenrechtsorganisationen sprechen von einem Waffeneinsatz, der „unverhältnismäßig“ groß war. Nun denn, der IS, so Trump, sei jedenfalls besiegt, und zwar „zu 100 Prozent“ – mission accomplished, bitte gehen Sie weiter.

Natürlich ist nicht alles gut, wenn keiner mehr berichtet

Von einem ehemals stark gehypten Thema lange Zeit so gut wie gar nichts zu hören, ist irritierend: Wenn man davon ausgeht, dass Medien für viele von uns wie Bezugspersonen sind, mit denen man täglich interagiert, fühlt man sich als loyaler Rezipient ein bisschen verraten. Jeder kennt das von diesem einen Freund, den man monatelang bei einem Problem berät und dann hört man nichts mehr davon. Was suggeriert, das Problem hätte sich in Luft aufgelöst.

Aber natürlich ist nicht automatisch alles gut, wenn keiner mehr berichtet. Vor kurzem war zwar in vielen Medien von der Rückkehr deutscher IS-Kämpfer die Rede, aber das blieb immer im Modus des Abgesangs: Auch dort wird die Erfolgsstory erzählt, das Kalifat sei besiegt, und nun kümmere man sich um die Spätfolgen. Nur vereinzelt warnten deutsche Medien im Frühjahr, der IS sei „noch lange nicht besiegt“ („Welt“), ein „Kalifat ohne Land“ („Hannoversche Allgemeine Zeitung“) und „weiterhin eine Bedrohung für die internationale Sicherheit“ („Die Zeit“). Ansonsten aber ist es eher still.

Dabei herrscht im ehemaligen Herrschaftsgebiet im Irak und Syrien noch immer Chaos, vielleicht ein noch größeres als zuvor. Die Gebiete sind weder stabil noch sicher. Es stimmt, dass der IS momentan kein offizielles Territorium mehr beherrscht. Damit ist die Terrorgruppe allerdings noch lange nicht besiegt. Ein aktueller Bericht des Institute for the Study of War (ISW) legt nahe, dass der IS noch immer höchst aktiv ist und lediglich Kräfte sammelt, um seine Rückkehr vorzubereiten.

Institute for the Study of War: IS künftig noch gefährlicher

Nach dem jüngsten Truppenabzug der USA aus Syrien ist der IS noch immer stark. Viel stärker, als es 2011 zum Beispiel Al Kaida beim Abzug der USA aus Afghanistan war: Sie hatten nur noch 700 bis 1000 Kämpfer. Der IS hingegen hatte noch im August 2018 mehr als 30.000 Kämpfer. Sie würden sich schnell erholen und in Zukunft noch gefährlicher werden, schreiben die Autoren des ISW-Berichts. Der lange Zeitraum der Anti-IS-Angriffe, erst unter Obama und dann unter Trump, ließen der Miliz genug Zeit, sich aus den Hochburgen Mossul und Rakka zurückzuziehen und in neue Gebiete zu verlagern.

Anführer Abu Bakr al-Baghdadi baut inzwischen erneut Kontrollstrukturen auf. Die IS-Kämpfer haben noch immer ein intaktes globales Finanznetzwerk. Sie lagern Waffen und andere Geräte in Tunnelsystemen, über die sie übrigens auch aus Rakka und Mossul fliehen konnten. Sie schwächen kontinuierlich den Widerstand der Bevölkerung, nähren Misstrauen gegen die irakische Regierung und greifen in Syrien gleich dreifach an: das Assad-Regime, die kurdischen SDF-Truppen (Syrian Democratic Forces) und Syriens Al Kaida-Ableger Hay’at Tahrir al-Sham (HTS). All das, um Gewalt zu schüren und, darin sind sie sehr gut, den Eindruck von Staatsversagen zu verstärken.

Erst vor kurzem, im Mai 2019, hat die Miliz die „Battle of Attrition“, also die „Zermürbungsschlacht“ ausgerufen. Wenn es dem IS gelänge, erneut Land zu erobern und physisch seine Retrofiktion vom Kalifat zu errichten, würde das Comeback wahrscheinlich verheerender ausfallen als vor fünf Jahren. Davor warnt nun auch das Pentagon: Die Miliz erstarke nach dem Abzug der US-Soldaten wieder, gerade in Syrien, heißt es in einem Bericht des Pentagon-Generalinspekteurs, der am Dienstag veröffentlicht wurde.

Keine Schockspiralen, kein Stillschweigen: Der Grat ist schmal

Mit ihrer weitgehenden „Nicht-Berichterstattung“ spielen westliche Medien dem IS erneut in die Hände: Ungestört von größerer internationaler Aufmerksamkeit kann er sich neu formieren und unter dem Mantel der vermeintlichen Nichtexistenz die Rückkehr vorbereiten. Zu wenige thematisieren das.

Sollte diese Rückkehr gelingen, sind das natürlich nicht die allerbesten Aussichten. Gleichzeitig wäre es gefährlich, prophylaktisch Panik zu schüren. Doch wegzusehen kann auch keine Lösung sein. Es ist schwer, da die Balance zu finden, aufklärende Hintergrundinformationen zu liefern und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der Medienrezipienten zu binden. Der Grat ist schmal.

Doch vor allem derart brenzlige Narrative muss man medial stören, statt sie durch ständige Schockspiralen noch weiter zu befeuern; oder eben durch Stillschweigen. Die Abwesenheit von Berichten und Bildern verleitet zu oft zum Trugschluss, das Thema wäre vom Tisch. Ein dauerhaft nüchterner Lagebericht, der die Situation vor Ort beschreibt, wäre gut. Eher mehr Text statt Bild, mehr Fakten statt Bewertung, mehr Kontinuität statt Spektakel.

Am Ende wünscht man sich, die Aufmerksamkeitsblase würde etwas umherwandern, öfter mal aufplatzen und dabei gleichmäßiger abregnen. So ein sanfter Sprühregen wäre dann auch besser für unsere Träume.

3 Kommentare

  1. „Terroristen, vor allem die Anhänger des IS, sind wahre Meister des Narrativ-Managements“
    Glauben Sie wirklich daran? Dass diese Steinzeit-Islamisten oder auch frühere Terroristen wie der Junkie Andreas Baader oder der Oktoberfest-Attentäter Gundolf Köhler Meister im Management von irgendetwas sind bzw. waren?
    Ihr eigenes Narrativ wird nicht von den Terroristen gemanagt, sondern in einem solchen Ausmaß von Medien, dass sogar ihre tatsächliche Existenz so luftig und entbehrlich wird wie die eines Phantoms. Und das ist ja wohl kein Zufall.

  2. Ich könnte mir schon vorstellen, dass über den IS weniger berichtet wird, weil es weniger Bilder gibt, aber letztens kam im Radio ein Bericht über IS-Mitglieder im Gefängnis, und wie man die von einer „Reradikalisierung“ abhalten könnte. Also etwas berichtet man schon.

    Ich hielte es aber für sehr bedenklich, dass der IS in Syrien oder im Irak nur deshalb nicht bekämpft wird, weil über ihn nicht mehr in D. berichtet wird.

  3. Es ist ja, mit oder ohne Medieninteresse, nicht so, dass der IS jemals wirklich eine Gefahr für unsere westliche Gesellschaft gewesen wäre. Vielmehr ist die unterschiedliche Auslegung des Islam eine Angelegenheit der Muslime. Es ist aber so, dass wir uns seit den Zeiten der Kolonialherrschaft in die Angelegenheiten Nordafrikas, des mittleren und vorderen Orients einmischen, deshalb müssen wir auch mit entsprechenden Reaktionen rechnen. Wenn Medien darüber berichten, gehört es zur Wahrheitspflicht, auch darauf hinzuweisen. Alles Andere ist unseriös.

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