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Grillen mit Testosteron und die Olympische Orgie 2020

Neue Zeitschriften – so heißt eine der gängigen Erfolgsformeln für Printprodukte – können auch heutzutage noch Erfolg haben, wenn sie eine möglichst kleine, spitze Zielgruppe anpeilen und gut bedienen. Männer, die mit wildem Stolz kochen, das ist eine spitze Zielgruppe und darum, so muss man es wohl sehen, hat „Beef!“ seit fast zehn Jahren Erfolg.

Menschen, die sich für Sport interessieren, das ist das Gegenteil einer spitzen Zielgruppe; Menschen, die sich ein Jahr vor den Olympischen Spielen für die Olympische Spiele interessieren, das ist keine spitze Zielgruppe, das ist keine Zielgruppe. Wie schön, dass die Macher von „20.20“ Blattmacher sind, die Blätter aus Leidenschaft machen und nicht um Businesspläne zu erfüllen.

Wilhelm, ein Nonkonformist auch in der Küche, nimmt sich „Beef!“ vor; Cordt, einer von denen, die sich nicht mehr für Olympia interessieren, blättert in „20.20“. Georg, der feministischer denkt als manche Feministin, will sich diesmal auf Zwischenrufe beschränken, er mag Olympia so wenig wie Fleisch.

„Beef!“

Von Wilhelm Schnibben

„Männer kochen anders“, Zweimonatszeitschrift, Ausgabe 4/2019, 174 Seiten, davon 17 Anzeigenseiten, 12 Euro.

Inhalt: 7 Rezept-Strecken, 3 Porträts, 3 Reportagen, 3 Technikreports, 8 Meldungsseiten

Gestaltung: durchgestaltetes Layout, großartige Fotografie, männliches Papier.

Verlage haben sich auf der Suche nach neuen Erfolgen im Printmarkt angewöhnt, ihre Mitarbeiter in hausinternen Design-Thinking-Wettbewerben aufeinander zu hetzen. Im Darwinismus der Ideen, so die Hoffnung, werde die neue tolle Idee die Flop-Ideen killen. Meist geht das schief, weil den Journalisten das verlegerische Wissen fehlt, den Verlagsleuten die journalistische Kreativität – und weil zweimal Unwissen sich selten zu einmal Top-Idee fügt.

Mannsein übers Kochsein definieren

„Beef!“ zeigt, dass ein Ideenwettbewerb eine Zeitschrift hervorbringen kann, der Erfolg hat, und das seit zehn Jahren. Die Idee hinter „Beef!“: Nimm den Mann Ernst, der sein Mannsein über sein Kochsein definiert oder definieren will. („Das Kochen zu gendern, darauf muß man erst mal kommen.“ / Georg)

Wo fängt der Mann an, der am Herd glänzen will? Am Grill. Wie fängt man ihn ein? Indem man aus dem Grillen ein Abenteuer macht, dass die Sprache von Autorennen benutzt: ein Rumpsteak hat „V12 Power“, ist ein „Turbolader“ oder ein „Hubraum-Bolide“. („Klingt nach schwarz verbranntem Steak, das nach Abgasen riecht.“ / Georg)

„Rumpsteak 4.0“ ist eine von sieben Rezeptstrecken im Heft, „Pizza brutale“, „Ich mach Carpaccio aus dir“, „Männer-Frisbee“ sind drei andere. („Klingt wie Dialoge aus einem Mafia-Film.“ / Georg) Offenbar brauchen Männer, die Grillen, eine Machosprache, damit sie die Küchenschürze nicht zu Weicheiern macht. „Echte Männerpizza“, das ist der Männer-Frisbee, mit „völlig abgedrehten Belägen“, die „der Schwiegermutter nicht gefallen“ – Steak, Calamari mit Tinte oder Sprotten als Auflage.

Die Formel 1 der Star-Wars-Köche

Die Zielgruppe, das erliest sich sehr schnell, ist sehr, sehr spitz: Männer, die gerne kochen, Sprachspiele lieben, gute Fotos mögen und Kochen auch als Chance sehen, den Highend-Handwerker in sich zu pflegen. Pizzaöfen von 230 bis rund 5500 Euro, der „Opus Power Grill“ (2300 Euro), der aussieht „wie ein Truppentransporter aus Star Wars“ und der geräumige Fischtopf von Alessi (910 Euro) sind gute Investitionen in die Gewissheit, als Koch in der Formel 1 am Start zu sein.

Seit ich meinen neuen Gasgrill unten auf der Terrasse stehen habe, überlege ich, ob ich meinen alten Mercedes 280 SL verkaufen und das Geld lieber Fridays for future spenden sollte. („Hey, aus Dir kann ja noch ein Mann mit Verstand werden!“ / Georg)

Ich brauche das Cabrio nicht mehr, mein Spielzeug steht jetzt hinterm Haus: Der Gasgrill hat eine Edelstahlfront, drei Brenner, Wave Grillroste und eine „Sizzle Zone“, die mit Temperaturen bis zu 800 Grad jedes Steak sekundenschnell mit Grillaromen veredelt. So ein Grillgeschoss macht aus jedem Garten eine Spießer-Festung und lässt das gesamte Denken seines Besitzers nur noch um drei Fragen kreisen: Was grill ich? Wann grill ich? Wer ist es wert, begrillt zu werden? („Bitte nicht selbst auspeitsche, das ist mein Job!“ / Georg)

Kürzlich habe ich für 16 Leute vier Gänge gegrillt: Rotbarsch in Kokos-Chile-Sud, Kalbsbratwurst mit Orange-Möhren und mariniertem Spargel, Lachs an Gartensalat, Lammlachs und Hüftsteak mit Steinpilzravioli und Pfifferlingen als Abschluss. („Rezepte per Mail?“ / Georg) Bringt mehr Ruhm, als eine „Spiegel“-Titelstory zu schreiben.

Wie schmeckt eigentlich Ratte?

Für Leute wie mich bringt „Beef!“ die Lebenshilfe, ohne die das Grillmasterleben auf der Stelle tritt. Wie schmeckt eigentlich Ratte? Wie werde ich zum Fleischsommelier? Wofür eignet sich Black Lime? Was ist ein Chuck Flap? Wie komme ich an ein spanisches Iberico Secreto? Und wie an ein irisches Salzwiesenlamm-Tomahawk? Vor allem: Was ist das Geheimnis vom Smoken?

Die Titelstory über Smoken wendet sich an alle Männer, die sich am Grill schon langweilen und in der Champions League wähnen. Der Vorteil vom Smoken: Auch billiges Fleisch kriegt man so upgegradet und genießbar. Der erste Nachteil: Man verbringt (bei Truthahn) bis zu 6 1/2 Stunden vor dem Smoker. („Moment, ist das für Grillmaster wie dich nicht ein Vorteil?“ / Georg)

Der zweite Nachteil: Man braucht die Fertigkeiten eines Lokomotivführers aus dem 19. Jahrhundert, um Brennkammer, Luftschieber, Garraum und Räucherkamin so zu bearbeiten, dass durch langsames Garen bei Niedrigtemperatur nichts anbrennt, aber das Fleisch außen goldbraun und innen zart und saftig rauskommt. („Klingt für dich doch auch großartig!“ / Georg)

Der dritte Nachteil: 500 Euro bis 7000 Euro kosten diese Lokomotiven für den Garten. („Musst ja nicht alles Geld, das du für deinen Mercedes bekommst, an Fridays for future geben!“ / Georg)

„Das Pulled Pork bildet zusammen mit dem Beef Brisket (Rinderbrust) und Sparribs (Rippen vom Schweinebauch) die Holy Trinity, die heilige Dreifaltigkeit des Smokens.“

So ein Satz kann nur entstehen, wenn man die eigene Sprache stundenlang smoked. Für historische Interessierte: Das Smoken kommt von den Plantagen amerikanischen Südstaaten und war die billigste Möglichkeit, Sklaven satt zu bekommen. Ölarbeiter aus Texas bauten aus alten Fässern die ersten Smoker-Grills.

„Echte Männersalate“, „Spielzeug für Männer“, „Wermut für Kerle“

Mit Geschichte, Lebensmittelkunde, Portraits, Reportagen und Reiseberichten garniert die Redaktion die Rezept-Orgien, alles so fotografiert, dass Mann das Wasser im Munde zusammen läuft, Frauen neidisch werden und Vegetarier ins Grübeln kommen. („Was ich noch nicht verstanden habe: Wie und warum kochen Männer anders?“ / Georg)

Kleiner Tipp an die Redaktion: Als grillender Mann muss ich nicht in jedem Artikel als Geschlechtstrottel angeteasert werden. „Echte Männersalate“, „Spielzeug für Männer“, „Wermut für Kerle“ mögen der Heft-Positionierung entsprechen, aber geht es nicht etwas raffinierter?


„20.20“

Von Cordt Schnibben

„Auf dem Weg nach Tokio“, Jahreszeitschrift, 134 Seiten, davon 16 Anzeigenseiten, 4.90 Euro.

Inhalt: 8 Porträts, 5 Gespräche, 5 Reportagen

Gestaltung: schöne Fotografie, klares Layout

Es gibt Journalisten und Verleger, und es gibt Oliver Wurm. Er hat als Journalist und Verleger die Bibel zum Magazin gemacht und kürzlich das Grundgesetz. Und dazwischen versucht er, aus jedem Sportereignis ein Print-Event zu machen. („Kann mich gut an ‚54749014‘ erinnern, das Fußballmagazin, das den WM-Titel schon vorher im Titel hatte.“ / Georg)

Wenn sein neuestes Objekt „20.20“ ein ganz miserables Ding wäre, langweilig und überflüssig, ich würde es loben. Oliver Wurm hat sich inzwischen einen Status als Ein-Mann-kämpft-gegen-den-Verfall-des-Printjournalismus – Typ erarbeitet, der jeden Leser zwingt, ihn zu preisen.

„So ein Magazin hat es noch nicht gegeben“

Die Idee von „20.20“: Athletinnen und Athleten auf ihrem Weg zu den Olympischen Spielen in Tokio zu begleiten. Im Editorial schreibt Wurm:

„So ein Magazin hat es noch nicht gegeben.“

Stimmt.

„Im Sport verwirklicht sich für uns das, was eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält – gegenseitiger Respekt, die Einhaltung von Regeln.“

Ja, schön gesagt.

„Und im Sport erfüllt sich die ureigene Sehnsucht des Menschen zu lernen, besser zu werden.“

Auch richtig.

„Der Sport bringt Völker aus der ganzen Welt zusammen.“

Alles hohle Worte? („Völker??? Ist Olympia nicht längst das Volksfest von Millionären und Sponsoren?“ / Georg)

1992 war ich das erste Mal bei Olympischen Spielen, in Barcelona, vielleicht den schönsten aller Zeiten. In einer Stadt zu sein, in der Zehntausende Sportler sich in drei Wochen ihren Lebenstraum erfüllen, bejubelt und beklatscht von Hunderttausenden aus aller Welt, ist eine Orgie der Menschenfreude. („Wurden nicht vorher Stadtviertel abgerissen, in denen Zehntausende Freude am Leben hatten?“ / Georg)

„Wir sind hier in Deutschland, vierte Plätze sind Scheiße“

Die große Leistung des Magazins „20.20“: Wer sich einlässt auf die 20 Stories über Menschen, die den Kampf gegen sich und für ihren Traum aufgenommen haben, kann diesen Zauber spüren, der jedem Fernsehzuschauer verborgen bleibt. („Ich guck sowieso nicht, nur den 100-Meter-Lauf, um zu sehen, welcher Doper demnächst seine Medaille wieder abgeben muß!“ / Georg)

Wie wächst eine 4×100-Meter-Staffel der Frauen zusammen? Im Gespräch mit den vier Sprinterinnen und dem Bundestrainer wird deutlich, wie Konkurrentinnen nur dann erfolgreich sein können, wenn sie ihren Egoismus überwinden. Gina Lückenkemper: „Wir sind hier in Deutschland, vierte Plätze sind Scheiße.“

Warum gibt es für Ruderer zwei wichtige Tage vor Olympia? Der Tag, an dem die Nominierung bekannt gegeben wird. Und der Tag des ersten Rennens in Tokio. Die Judo-Zwillinge Amelie und Theresa kämpfen beide um den Startplatz in Tokio, nur eine wird ihn bekommen. Aber: „Ohne die jeweils Andere wären wir heute nicht da, wo wir sind.“

Wie sieht das Trainingslager von Schwimmern aus, die ein Paar sind? Warum brauchen zwei Beach-Volleyballerinnen ein Team von neun Leuten, um erfolgreich sein zu können? Warum will ein Para-Sprinter seine Beine nicht zurück? Wie kann eine Turnerin den Schwebebalken lieben, obwohl sie ihn eigentlich hasst? Wenn man in einem Jahr 50.000 Schuss abfeuert, was hat das mit der Atmung eines Sportschützen zu tun? Wie kann man als Speerwerfer den Zufall trainieren? Was ist, wenn der Sport dich zum Krüppel macht?

Die Botschaft des Magazins „20.20“: Auch wenn Olympia so korrupt ist wie nie, auch wenn einige dopen wie nie, auch wenn der ganze Protz und Kommerz alles erdrückt, auch wenn Funktionäre die olympische Idee verraten – sie kriegen den Traum der Athleten nicht kaputt. („Vielleicht, weil sonst die ganze Schinderei umsonst ist?“ / Georg)

Wirklich? Wir werden sehen, alles weitere im nächsten Heft, im Juli 2020.

Ein Kommentar

  1. Die Pizza Brutale sieht aus wie ein sich noch bewegendes Klingonen-Gericht, Commander Ryker würde es sicher schmecken.

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