Eine Woche Snapchat: Probezeit für den kleinen weißen Geist
Was zum Fick hab ich mir dabei gedacht? Mein erster Gedanke, als ich nach meiner Kolumne der letzten Woche Snapchat öffne und in mein müdes Gesicht blicke, welches genau so aussieht, wie der Gedanke es vermuten lässt.
Dass man beim Öffnen der App erstmal in sein eigenes Gesicht blickt, passt zu meinem Vorurteil. Gegen welches ich eine Woche mit meinem Selbstversuch kämpfen möchte. And now what?
Unten in beiden Ecken stehen Zahlen. Links leuchtet eine weiße „11“ in einem pinken Kasten. Rechts eine „4“ auf blauem Grund. Ich klicke auf die „4“ und gelange auf eine Seite voller Kreise.
„Geschichten“ steht darüber. Darunter ist eine Lupe. Und ein Suchfeld. Ich habe in den letzten Tagen schon begonnen, unterschiedliche Leute zu meinen Snapchat-Freunden zu machen. Dabei habe ich mich tatsächlich ziemlich doof angestellt. Denn intuitiv ist das nicht. Zumindest nicht für mich. Ich habe die Namen einfach in das Suchfeld unter der Geschichten-Überschrift eingegeben. Ein paar habe ich darüber auch gefunden. Aber – und jetzt, da ich es schreibe, erscheint das eigentlich ziemlich logisch – das ist das Suchfeld für die Geschichten. Und nicht für neue „Freunde“.
Neue „Freunde“ fügt man hinzu, indem man die Geschichten-Seite nach rechts wegschiebt und oben auf den Snapchat-Geist klickt. Hier kann man Leute unter anderm „über Snapcode adden“ – das sind die scheinbar wirren schwarzen Punkte um die Snapchat-Geister. Wählt man in der eigenen Handy-Bildergalarie ein Bild eines Snapcodes, wird dieser gescannt und ein Fenster mit passendem Nutzer erscheint. Was für die meisten Snapchatter das normalste der Welt ist, beeindruckt mich. Das find ich nice. Es fühlt sich für eine Snapchat-Oma wie mich nach Fucking-Future an.
Dennoch werde ich in dieser Woche feststellen, dass ich die Fucking-Future kaum verwende. Und stattdessen die meisten Menschen einfach über ihren „Nutzername adde“.
Ich habe jedenfalls schon einige Menschen als Freunde geaddet. Und da vier von diesen Menschen eine Geschichte veröffentlicht haben, leuchtete auch die „4“ in der Ecke unten rechts. Ich bin also auf der Geschichtenseite und sehe unter vorgeschlagenen Kreisen, in denen ich CNN, MTV oder VICE „discovern“ kann, Kreise und daneben Benutzernamen. Ich klicke auf den obersten Kreis, in dem ich Richard Gutjahrs Gesicht erkenne und lande in seinem „Snap Diary“. Das ist so eine Art „Follow-Me-Around“ nur eben nicht auf Youtube, sondern bei Snapchat.
Ich verstehe, was das soll. Verstehe, dass das unterhaltend sein kann und erkenne, dass sich da jemand Gedanken macht. Eine Geschichte aufbaut. Mit Zeichnungen spielt und sowohl eine Art „Intro“ in Form eines Fotos auf dem „Snap Diary“ einbaut als auch eine Art „Endcard“ – auf der die unterschiedlichen Social media Plattformen von Richard Gutjahr aufgezählt sind.
Die Ansprache fühlt sich zwar ein bisschen nach Kinderkanal an, ist aber soweit erstmal sehenswert. Aber was dann passiert, ist wie eine Art Kulturschock im Mikrokosmos: Denn auf einmal quakt mich eine Youtuberin an, die sich völlig überdreht und affig unterschiedliche Filter aufs Gesicht legt und mich dabei dazu bringen will, ihr neues Youtube-Video zu schauen. Schafft sie nicht. Stattdessen bringt sie mich zu meinem Ursprungsgedanken zurück: WAS ZUM FICK HAB ICH MIR DABEI GEDACHT?
Schnell wische ich mit dem Daumen nach unten, das nervige Geplärre hört auf. Und ich fühle mich wieder ziemlich alt. Oder zumindest ziemlich nörglerisch. Ich möchte ja gar nicht zur Mecker-Oma werden, aber das ist einfach nur anstrengend. Und hat mit Geschichten so viel zu tun, wie wie einige Webvideokünstler mit Kunst.
Es ist aber mehr als nur der Inhalt, der mich daran nervt. Die neue Autoplay-Funktion von Snapchat, die am Ende einer Geschichte automatisch die nächste Geschichte eines anderen hinzugefügten Snapchatters startet, nervt mich tierisch. Und sorgt dafür, dass ich sehr sehr schnell so ziemlich alle Youtuber aus meiner Liste entferne. Ich hätte gerne dann und wann mal reingeschaut, um zu entdecken und erkunden. Und mich vielleicht auch überraschen zu lassen, denn wer weiß – vielleicht steckt in einem der Kollegen völlig unverhofft ein super Snapchat-Geschichtenerzähler. Aber es ist mir einfach zu anstrengend.
Aber ich wollte ja nicht nur mit dem Mecker-Zeigefinder auf andere zeigen, sondern selbst ausprobieren. Also tu ich es. Mein allererster Snap der Geschichte ist dieser:
Danach folgen noch ein paar weitere. Und ich bin wirklich positiv überrascht, wie schnell und einfach alles ist. Das macht Spaß. Ich habe im vergangenen Monat einen anderen Selbstversuch gestartet und 14 Tage lang Daily Vlogs gemacht. Dabei hab ich schnell festgestellt, dass man ziemlich asozial wird, wenn man wie ich neben dem Daily-Vloggen auch noch arbeitet. Weil am Ende des Tages immer geschnitten werden muss. Es gibt zwar auch andere Gründe, die das tägliche Vloggen asozial machen (siehe dieses Video), aber die Zeit, die im Schnitt drauf geht, spielt auf jeden Fall eine Rolle. Diese fällt auf Snapchat komplett weg.
Während ich mich darüber freue und weiter rumexperimentiere, steigt die Zahl im linken pinken Viereck. Ich drücke darauf und bin im Snapchat-Nachrichten-Bereich. Oha. Hier ist schon ziemlich viel los. Unfassbar viele Menschen schicken mir kurze Snaps, in denen sie mich begrüßen und sich freuen, dass ich jetzt hier bin. Einige schicken mir gleich mehrere hintereinander, die wirken wie Snapchat-Geschichten, und sagen mir, dass sie mein Buch gelesen haben und sich dafür bedanken wollen. Erzählen, welches Kapitel sie am meisten berührt hat. Und dass es inzwischen sogar ihre Eltern gelesen haben und feiern.
Das ist neu. Nicht, dass Menschen mir Feedback zu Dingen geben, die ich On- oder Offline tue. Aber dass ich sie dabei sehen kann. Das rührt mich irgendwie. Und überrascht mich. Denn während man ansonsten Kommentare und Feedback immer nur in Textform liest, fühlen sich die kurzen Videobotschaften nah und viel menschlicher an.
Ich antworte nicht. Es sind einfach zu viele. Und ich bin noch überfordert mit der Handhabung. Wenn die Aufnahmen enden und ich nach rechts wische, bin ich in einem Chat-Fenster, in dem ich zwar unendlich viele Möglichkeiten habe: vom Videoanruf bis zu Stickern, die ich verschicken kann. Aber Snaps kann ich hier nicht aufnehmen. Dank einigen Telefonjokern wie Philipp Steuer, der mit „Snap Me If You Can“ ein schickes Snapchat-Einführungsbuch schrieb, welches er kostenfrei zum Download anbietet, finde ich irgendwann heraus, wie es funktioniert. Antworte aber trotzdem nicht. Es sind einfach so viele, dass es viel zu viel Zeit fressen würde.
Ich merke es erst gar nicht. Aber nach und nach schleicht sich durch diese Snaps etwas ein, mit dem ich nicht gerechnet hätte: Snapchat wird mir sympathisch. Wie toll, dass es keine Likes und Co. gibt. Wie toll, dass Kommentare und Feedback so viel menschlicher wirken, weil man den Feedbacker eben sieht. Oder hört.
Und so fühlt es sich überhaupt nicht mehr nervig an. Ich entwickle sogar eine große Freude am Snappen und daran, Möglichkeiten zu erkunden und rumzuexperimentieren. Besonders viel Spaß hab ich am Spiel mit den Ebenen. Sprechen, filmen und auf das Gefilmte oder Fotografierte zeichnen. Leider kann man auf Snapchat selbst nicht in Fotos reinzoomen und feinteilig zeichnen. Deshalb lade ich mir eine Fremdapp runter, die das möglich macht. Hier kann man nicht nur ins Bild zoomen, sondern unterschiedliche Strichstärken wählen, und auch die Auswahl der Farbtöne ist wesentlich angenehmer als auf Snapchat selbst.
Außerdem kann man mit der App Bilder aus der Mediathek hochladen. Das ist für sowas wie eine Endcard ziemlich praktisch. Ich mache so neben Zeichnungen auch eine Musikliste für eine meiner Snapchat-Geschichten. Denn ziemlich auffällig ist, dass zwar ein paar Snapchatter bewusst mit Musik arbeiten; Credits werden aber keine gegeben. Finde ich als Musikerin nicht so cool.
Mein Mann Manu findet hingegen die Fremd-App nicht so cool. Er sagt, das sei ein bisschen wie schummeln.
Und so wende ich mich mit diesen Fragen in meiner nächsten Snapchat-Geschichte direkt an meine Snapchat-Freunde. Zum einen zu den beiden Themen Musik und Fremd-App. Aber auch zum Thema: Screenshots.
Das Ergebnis ist via Screenshot zum Thema Screenshot ist ziemlich eindeutig. Mit mehreren Hunderten Stimmen gewinnt klar die Meinung, dass die absolut gar nicht peinlich sind.
Beim Thema Fremdapp wird es da schon deutlich undeutlicher. Dennoch gewinnt mit ein paar Stimmen die Meinung, dass Fremd-Apps durchaus klar gehen, wenn man sie für nicen shit benutzt. (Aber Achtung: Die Apps sind von Snapchat nicht autorisiert. Angeblich wurden auch schon Snapchat-Profile gelöscht, die mit diesen Fremd-Apps mauschelten.)
Zum Thema Musik erreichen mich dann einige Nachrichten, Snaps und Tweets. Grundtenor: Ist doch geil, dass wir hier auf Snapchat machen können, was wir wollen, weil „GEMA und Co uns alle nicht auf dem Schirm haben“.
Das kann ich zwar verstehen. Finde ich aber trotzdem uncool. Genauso wie Geschichten, in denen sich der Verdacht nach Produktplatzierung schon ziemlich aufdrängt. Wenn Snapchat inzwischen beliebter ist als Instagram und das gerade bei jungen Menschen, sollten hier GEMA und Co schnell ihre Schirme aufspannen.
Was ich auch ziemlich uncool finde, ist die eigentliche DNA von Snapchat. Das Auflösen. Bei den Snaps stört mich das gar nicht. Dafür bei den Geschichten umso mehr. Ich speichere jede meiner Geschichten auf meinem Handy. Die Qualität ist nicht wirklich sexy. Und ich finde es schade, dass ich mir keine älteren Geschichten ansehen kann von den wenigen Snapchattern, die ich entdecke und die mich nicht nerven. Das mag Oldschool-Oma-Shit sein, aber ich würde mir wirklich ein Geschichten-Archiv wünschen. Für mich, aber auch andere Geschichtenerzähler da draußen.
Meine ersten Snaps sehen 20 Menschen. Das erkenne ich an den Augen, die mir rechts angezeigt werden, wenn ich auf der Geschichten-Seite auf „Meine Geschichte“ klicke. Ich weiß nicht, ob das viel ist. Und wundere mich deswegen nicht. Bis die Zahl im pinken linken Viereck immer höher steigt und mir fremde sympathische Gesichter sagen, dass man meine Gesichte gar nicht sehen kann. Die hab ich – unbewusst, weil das die standardisierte Grundeinstellung ist – nämlich nur für meine Freunde sichtbar gemacht. Gut zu wissen.
Ich stelle sie öffentlich. Und bin ziemlich überrascht, wie schnell aus den 20 Augen 1000 werden.
Seither ist eine Woche vergangen. Und auch wenn ich einiges noch immer nicht verstehe und vor allem den Inhalt auf Snapchat zum Großteil ziemlich unnötig finde, hat sie irgendwie mein Herz erobert. Die App mit dem kleinen weißen Geist. Denn da ist so viel drin.
Ich hab grad erst angefangen rumzuexperimentieren. Und werde – auch dank der vielen Snaps, Tweets und Nachrichten von der Community und Kollegen voller Lob für meine ersten Snapchat-Versuche, weiter snappen.
Also danke an alle, die durch ihre Snaps und ihre Reaktionen auf meine Geschichten dieses Experiment mit einer wirklichen Überraschung enden lassen. Denn die müde Snapchat-Oma, die sich vor einer Woche noch selbst verfluchte, hätte wirklich nicht damit gerechnet, freiwillig weiter zu snappen. Und jeder weiß ja, Omas überrascht eigentlich überhaupt gar nichts mehr.
Hihi ich bin 2 Jahre älter als du und hab auch erst vor ein paar Wochen Snapchat für mich entdeckt. Ausgerechnet das, was ich anfangs doof und unlogisch fand, weiß ich jetzt besonders zu schätzen. Wahrscheinlich gibt es momentan keine andere soziale App, die uns authentischer zeigt als Snapchat und dazu gehört auch die Vergänglichkeit der Snaps und Geschichten. Es gibt nichts, wofür man sich langfristig schämen müsste. Von daher denkt man über seine Posts auch nicht ganz so lange nach wie vielleicht auf instagram oder youtube, wo alles für die Ewigkeit ist. Ich finde es großartig, dass niemand außer dem Sender selbst weiß, wie viele Follower es gibt und Snaps nicht öffentlich bewertet oder kommentiert werden können. Mein Mann nannte Snapchat deshalb im Gespräch gestern „die anti-shitstorm plattform“.
Ich liebe Snapchat mittlerweile und freue mich auf weitere Geschichten von dir.
LG Luisa
Du gibst dir ja sehr viel Mühe mit Snap. Mit „Fremdapp“ etc.
Interessantist sicherlichdiesr Punkt: „Wie toll, dass Kommentare und Feedback so viel menschlicher wirken, weil man den Feedbacker eben sieht.“ Das könnte tatsächlich eine Bremse für Hasskommentare sein, wenn die Personen sich zeigen (ehem, müssen sie ja nicht unbedingt).
Hinter „authentisch“ kann man Fragezeichen anbringen, nicht nur aus alter philosophsicher Gewohnheit, sondern weil du ja mit deinen Snaps gerade zeigst, wie sehr die Clips dann auch wieder gemacht und kaluliert sein können. Da finde ich Live-Videos wie z.B. Periscope viel ungeschönter und direkter.
Es fällt zudem auf, dass einige Protagonisten („Medienleute“, „Internetpeople“ etc.) auf Snapchat wieder ihre Marktstände errichten, um für ihre „Fans“, natürlich „authentisch“, da zu sein. Du nennst da die Youtuber. Für solche Leute und für dich als Buchautorin ist Snappen dann natürlich sinnvoll – entsprechend der Followerzahlen. Daher sagt du auch folgerichtig: Das mit dem Löschen ist doch blöd. Nur: Was du hier testest ist ja nicht Snapchat, sondern „Snapchat als Selbstvermarktungstool“ („Leute, ich habe da mal eine ganz dolle Frage an euch, würde ich echt interessieren …“ ist ja einer der ältesten Rhetorik-Figuren für Social-Media).
Snapchat als Kommunikationstool zwischen Freunden und Bekannten wäre doch eine andere Geschichte die für dich keine Rolle spielt? Da fragt man sich nämlich schnell als Ü25-jähriger, ob und für welche Situationen der Aufwand lohnt und ob man nicht doch lieber Whatsapp nimmt oder Periscope oder Facebook Live-Video.
Mir ist das Spielzeug einerseits plausibel für bestimmte Sonderfälle der privaten Kommunikation, andererseits bin ich wohl aus so trockenem Holz, dass ich immer noch nicht weiß: Passiert auf Snapchat irgendetwas, wo mich als NIP (non-important person) „fear of missing out“ packen könnte? Müsste? Da sehe ich einfach nichts.