Medienkompetenz in der Schule

Wie Kinder süchtig nach Zeitschriften gemacht werden sollen

Die lustigste Stelle findet sich auf Seite fünf:

„Gehen Sie auf die Suche nach Blogs, die sich der Verbreitung von Informationen und der Aufklärung der Bürger verschrieben haben.“

So steht es in einer Broschüre aus diesem Jahr, mit der Schülerinnen und Schüler ab Klasse 8 im Umgang mit Medien angeleitet werden sollen. Lustig ist nicht die Aufgabe, es sind die Beispiele: Diese informativen, aufklärenden Blogs, heißt es, könnten „langjährige berühmte sein wie ‚Huffington Post‘ oder ‚Der Postillion’“ – also eine Onlinezeitung, die Ende März eingestellt wurde, und ein Satire-Magazin. Vorher wird außerdem auf „The BOBs“ verwiesen, den Blogger-Preis der Deutschen Welle. Es gibt ihn seit fünf Jahren nicht mehr.

Titel einer Broschüre mit einem Foto verschiedener Schülerinnen und Schüler vor einer Tafel
Komische Tipps: Broschüre zum Umgang mit Medien Stiftung Lesen

Mit derart handfesten Tipps stattet die gemeinnützige Stiftung Lesen Schulen aus, zusammen mit dem Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) und den Vertrieben gedruckter Medien, dem so genannten Presse-Grosso.

600.000 Zeitschriften für 230.000 Schülerinnen und Schüler

Im Jahr 2004 haben sie eine Aktion ins Leben gerufen, die „Zeitschriften in die Schulen“ heißt. Anfang Mai ging es wieder los, wie jedes Jahr: Laut VDZ erhielten „über 230.000 Schülerinnen und Schüler an weiterführenden und beruflichen Schulen“ insgesamt „mehr als 600.000 kostenfreie Zeitschriften“, in Klassensätzen von bis zu 30 Heften, bunt gemischt. Alles Remittenden, Rückläufer aus dem Handel, die normalerweise ins Altpapier fliegen. Schirmherrin der Aktion ist Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU).

Ziel sei es, „Lehrkräfte bei der individuellen Förderung von Lesemotivation sowie Lese- und Medienkompetenz zu unterstützen“, schreibt der VDZ. „Zeitschriften in die Schulen“ bereichere den Unterricht und stärke „die Lesekompetenz älterer Kinder und Jugendlicher“, was natürlich ein edles Anliegen ist, aber auch nicht ganz uneigennützig. Schaut man sich zum Beispiel einige der Zeitschriftentitel an, die in die Schulen kommen, und die Begleitmaterialien dazu, erscheint die Aktion auch teilweise fragwürdig.

Für Lehrerinnen und Lehrer ist sie zunächst eine willkommene Ergänzung des Unterrichts. Es entfache eine „ganz andere Motivation“ bei seinen Schülerinnen und Schülern, wenn er mit den Zeitschriften arbeite statt mit Schulbüchern, erzählt ein Deutschlehrer, der an einer Haupt- und Realschule unterrichtet. Zumal Gedrucktes für viele Schüler heute etwas „Cooles“, Unbekanntes sei, sagt er: „Früher kannten alle die ‚Bravo‘, viele kauften sie. Heute kennt die kaum noch ein Schüler.“ Was natürlich ein Problem für die Verlage ist.

Presse-Grosso: Magazine als „Einstiegsdroge“ für Jugendliche

2004 war es genau das, was die Branche fürchtete: Dass immer mehr junge Leserinnen und Leser ins Internet glotzen und immer weniger in „Bravo“, „Bunte“ oder „Spiegel“. Deshalb dachte man sich etwas aus, um die Jugend früh anzufixen. Denn: Zeitschriften können eine „Einstiegsdroge“ sein!

So formulierte es damals Klaus-Dieter Wülfrath, der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Presse-Grosso. Und Karl Dietrich Seikel, VDZ-Vorstandsvorsitzender, schwärmte, die Aktion sei „Gattungsmarketing für die Publikumszeitschriften im besten Sinn“. Der VDZ investiere mit seinem Engagement „in die Märkte der Zukunft“; man gehe davon aus, „dass die heute 14-Jährigen spätestens mit 20 zu Käufern unserer Zeitschriften werden“.

Ein schöner Traum, doch die Lage der gedruckten Presse hat sich nicht gerade verbessert, im Gegenteil. Viele Zeitschriften verlieren an Reichweite. Auch wenn eine Evaluation der Aktion im Jahr 2007, also drei Jahre nach dem Start, etwas Hoffnung machte: Dort heißt es, „dass vor allem bei Hauptschülern das Interesse an Zeitschriften überdurchschnittlich gesteigert werden konnte“, und 31 Prozent aller befragten Schüler gaben laut Stiftung Lesen an, „dass sie aufgrund des Projekts mehr lesen“:

„Gründe für diesen überdurchschnittlichen Erfolg der Aktion bei lesefernen Jugendlichen dürften in der Natur von Zeitschriften liegen: Sie sind meist bildstark, haben Texte von übersichtlicher Größe und knüpfen thematisch an die Interessen der Kinder und Jugendlichen an.“

Fragt man den Verband, ob sich die Aktion denn auszahlt, antwortet er zunächst nur mit PR-Sprech: Der VDZ bringe die „einzigartige Zeitschriftenvielfalt“ in die Klassenzimmer. Schüler für das Lesen zu begeistern und „Lese- und Medienkompetenz zu verbessern“, sei die „wichtigste Motivation bei diesem Projekt“. Von Marketing: kein Wort. Erst auf Nachfrage schreibt der VDZ, er betrachte die Aktion „nicht als Marketing-Tool“.

„Natürlich wollen die Verlage Leute dazu bringen, Zeitschriften zu kaufen“, sagt auch der Lehrer, der die Aktion grundsätzlich schätzt. Dass aus Schülern Käufer würden, bezweifelt er aber. Die Zeitschriften seien für den Unterricht interessant. In der Freizeit ist das digitale Gegenangebot stärker, und was früher exklusiv in der „Bravo“ stand, steht heute bei Instagram.

„Seriös“ und „ohne Sensationslust“ – gelogen wie gedruckt

Doch was sind das überhaupt für Magazine, die da in die Schulen finden? Für die Klassen 5 bis 7 ist alles dabei: „Spiegel“, „Stern“, „Focus“, „Bravo“, „Geolino“, auch „Bunte“ und das „Feuerwehr Magazin“. Für die Klassen ab Jahrgangsstufe 8 werden auch noch „Brigitte“ oder „Fit for fun“ beigelegt, und interessant ist nicht nur, was das so für Magazine sind, die die Schüler bekommen, sondern auch, wie sie in den Titellisten für die Lehrer beschrieben werden.

Die Zeitschrift „inTouch“ beispielsweise, das „junge People-Magazin“ aus dem Bauer-Verlag, zeige jede Woche „topaktuell das wahre Leben, den Style und die Trends der angesagtesten internationalen Stars“ – und deren Gewicht, sollte man ergänzen. Dafür ist „inTouch“ ja bekannt: ein zweifelhaftes Körperbild zu vermitteln, wofür es immer wieder Kritik gibt. Das steht da natürlich nicht.

Ob das Heftchen „Glamour“ von Condé Nast tatsächlich „die Bedürfnisse der modernen, jungen Frau“ erfüllt, zumal mit „hohem journalistischem Anspruch“, sei kurz dahingestellt. Definitiv falsch aber ist, was über die Zeitschrift „die aktuelle“ der Funke Mediengruppe behauptet wird:

„Spannende und seriöse Reportagen über Showstars, VIPs und Königshäuser, ohne Sensationslust, sondern mit viel Gefühl, bestimmen das redaktionelle Angebot und prägen den „People-Magazin“-Charakter.“

„Seriös“ und „ohne Sensationslust“ – gelogen wie gedruckt. Tatsächlich ist „die aktuelle“ ein Beleg dafür, dass doch nicht stimmt, was im Jahr 2005 der damalige niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff anlässlich der Aktion vor Schülern sagte: „Durch alles, was man liest, wird man klüger.“

Verschiedene Zeitungen und Zeitschriften liegen in einem Regal aus.
Tichy zum Mitnehmen: Presse-Angebot an einem Gymnasium Foto: Ü

Im Prinzip sind die Lehrerinnen und Lehrer frei in dem, was sie mit den Zeitschriften im Unterricht anstellen. Manche nutzen sie als Deutsch-Buch-Ersatz. Andere beschäftigen sich intensiver mit den Produkten und Journalismus allgemein. Manchmal landen die Zeitschriften auch einfach in der Bibliothek einer Schule, wo man sich sie mitnehmen kann, ohne kritische Einordnung, ohne Begleitung.

Die Print-Ausgabe des oft zweifelhaften Online-Magazins „Tichys Einblick“ etwa lag, neben anderen Medien, an einem Gymnasium in Bayern aus. Verteilt wird das Magazin nicht bundesweit, sondern vom Verband der Zeitschriftenverleger in Bayern (VZB), wo die Aktion „Themenvielfalt im Klassensatz“ heißt und ebenfalls mit der Stiftung Lesen organisiert wird. Der VZB hat auch das Klatschblatt „die aktuelle“ im Angebot und viele Fachmagazine.

Die Broschüren: Fehlerhaft und aus der Zeit gefallen

Für den Unterricht bietet die Stiftung außerdem drei begleitende Broschüren an. Im 21-seitigen „Grundlagenmaterial“ geht es darum, dass Schüler sich Magazine und deren Markt zu erschließen sollen: Textsorten definieren, Hefte vergleichen und „genau“ analysieren, „nach Seitenzahl, Werbung, Themen und Themenvielfalt, Anzahl der Bilder, Länge der Artikel und nach eigenen Kriterien“. Oder Überschriften ausdenken, „z.B. reißerisch, betont sachlich, aggressiv“.

Eine vertiefte inhaltliche Auseinandersetzung kommt eher am Rande vor, wenn es um Medienvielfalt geht, Pressefreiheit, Trennung von Verlag und Redaktion oder Fragen wie „Welcher Quelle vertraut ihr?“ – aber, viel wichtiger: Vielleicht ist ja auch etwas für den Gabentisch dabei!

„Stell dir vor, deine Oma schenkt dir zu Weihnachten ein Zeitschriftenabo. Du musst in einem Brief begründen, warum du welche Zeitschrift haben möchtest!“

„Der Zeitschriftenmarkt hält für jeden etwas bereit“, lässt die Broschüre wissen und erklärt auch, wie man „auf kürzesten Weg zur Wunschzeitschrift“ gelangt: über mykiosk.com, einer Seite des Presse-Grosso.

Untersuchungen zeigten zudem „immer wieder, dass Menschen dem gedruckten Wort mehr vertrauen als einer Website“, und die „Bundesbürger“ würden „den Wert einer Printausgabe mehr als doppelt so hoch“ ansetzen als den einer Digitalausgabe. Sagt wer? Eine Studie des VDZ von 2014.

Besonders toll sind Aufgaben, die so verlagsmärchenhaft beginnen:

„Philipp Welte, Vorstandsmitglied der Hubert Burda Media, sagte einmal: ‚Die Menschen in Deutschland lieben Zeitschriften.“

Aufgrund der „hohen journalistischen Qualität“ entschieden sie sich ganz bewusst dafür, Geld für dieses Medium auszugeben. Was man so sagt als Verlagsmanager. Aber wie wird es in Zukunft sein? Das sollen die Schülerinnen und Schüler in einer Podiumsdiskussion diskutieren mit dem überraschenden Titel: „Geiz ist geil – ich zahle doch nicht für Zeitschriften!“

An manchen Stellen wirkt das Begleitmaterial auch einfach aus der Zeit gefallen. Die Schülerinnen und Schüler sollen einer fiktiven Familie Zeitschriften zuordnen. „Tochter Dorothee (17)“, steht da, „hält nichts von Weiberkram und schraubt lieber an ihrem Motorroller herum, wogegen Tochter Ina (15) „ganz anders“ sei: „Sie wäre am liebsten eine Prinzessin, ist modeinteressiert und träumt von einem romantischen Jungen“ – das ist wohl dieser „Weiberkram“.

Stiftung Lesen: VDZ hat keinen Einfluss auf die Inhalte

Dass die Aktion teilweise werblich anmute, heißt es bei der Stiftung Lesen, sei der Sache an sich geschuldet. „Auch mit allem anderen, das wir empfehlen, ob Bücher oder Filme, machen wir ja irgendwie auch Werbung“, sagt eine Mitarbeiterin. Das gehöre bei der Leseförderung zwangsläufig dazu. Was der Stiftung aber auch schon Ärger einbrachte.

2011 berichtete das ARD-Magazin „Kontraste“ über Kritik des Philologenverbands. Der Vorwurf: Die Stiftung Lesen ermögliche es der Mainzer Volksbank und der Deutschen Bahn, Werbung in Schulen zu platzieren – was eigentlich verpönt ist. Arbeitsblätter und Broschüren enthielten „teilweise sehr werbliche Aussagen im Sinne der Sponsoren der Stiftung“, hieß es damals. Die Stiftung Lesen zog daraufhin einzelne Blätter zurück.

Die Broschüren der Aktion „Zeitschriften in die Schule“, beteuert die Stiftung, würden von Lehrkräften erarbeitet. So steht es auch im Impressum, unter: „Fachautoren“. Der VDZ habe keinen Einfluss auf die Inhalte. Auch der Verband selbst sagt auf Anfrage: „Das liegt in der Expertise der Stiftung Lesen.“

Die wiederum erklärt, im kommenden Jahr werde das Material komplett überarbeitet, zumal es vor allem an Haupt- und Förderschulen gehe. Das solle angepasst werden. Ein „kritischer Blick von außen“ sei da immer hilfreich.

4 Kommentare

  1. Eine Petitesse zwar, aber: „Tochter Dorothee (17)“, steht da, „hält nichts von Weiberkram und schreibt lieber an ihrem Motorroller herum,…“

    „schreibt“ statt „schraubt“ – Fehler im Original oder hat er sich hier eingeschlichen?

  2. Eigentlich gar nicht so schlecht! Es weiß doch wohl jeder, dass alles was der Lehrer vorne anpreist, für die Schüler hinten sofort 10x uncooler wird.

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