Bahnhofskiosk

Ein Magazin wie eine Selbsterfahrungs­gruppe, aber eine gute

Zeichnung eines Mannes mit Brille und Mütze, dessen Krawatte sich zu einer Hand formt, die mit einem Finger auf ihn zeigt.

Wenn ein Magazin schon „Neue Narrative“ heißt, seine Leser aufruft, sich mit ihm für „eine lebensdienliche Wirtschaft“ einzusetzen, alle Texte durchweg gender-sternt, im Impressum also das Wort „Chefredakteur*in“ hinschreibt, es dann wieder durchstreicht und durch „Selbstorganisierte Redaktion“ ersetzt – dann komme ich aus dem Augenverdrehen gar nicht mehr raus.

Ich lege mir die Nummer meines Augenarztes raus, schlage „Neue Narrative“ auf und erwarte leichten Jutegeruch, einen Stuhlkreis und die Einladung zur basisdemokratischen Teilhabe. Stattdessen aber sehe ich gleich auf der dritten Seite die Aufforderung:

„Bitte klau dieses Heft!“

Wie bitte?

„Wenn es unbedingt sein muss, weil du Klauen nicht aushalten kannst: Schick uns 9,80 €. (…) Noch besser: Hol dir ein Abo!“

Nun, das kann man als krypto-kommunistischen Aufruf verstehen, gemeinsam die Welt zu verbessern, ja, selbst auf Kosten unseres eigenen Profits, weil: Wir sind die Guten! Aber in erster Linie kommt das einfach charmant und unpeinlich rüber. Abowerbung hat man schließlich schon ganz anders gesehen.

Erste Verwirrung.

Das Editorial heißt hier „Check-in – Was uns bewegt“, und meine Augen würden sich normalerweise weiter verdrehen, aber sie beginnen zu lesen. Welches Mitglied aus der „selbstorganisierten Redaktion“ den Text auch geschrieben hat, sie*er (jetzt fange ich auch schon damit an!) schafft es, vom ruppigen Leserbrief, der das Gender-Gesterne kritisiert, sehr organisch zum Thema der aktuellen Ausgabe zu kommen: Verantwortung.

Und da ist schon wieder dieser Ton, der auf dem schmalen Grat der Wir-Editorials wandelt, aber weder in eine plüschäugige Betulichkeit, noch in selbstüberschätzende Herablassung abrutscht. Er ist direkt, aber sympathisch, bestimmt, aber nicht eingebildet, jung („Wie krass wäre es, wenn wir alle in unserer Sprache Verantwortung übernehmen würden …“), aber dabei weder platt noch anbiedernd. Die Verwirrung schlägt in Verwunderung um.

Dann kommt, am Ende des Check-Ins, jener Satz, der die Augen endgültig stehen bleiben lässt:

„Warum kümmern sich Menschen privat ganz selbstverständlich um ihren Vorgarten und engagieren sich in lokalen Initiativen, um Sinn zu stiften, arbeiten aber in Unternehmen, die sich nur um sich selbst kümmern?“

Das ist krass auf den Punkt gebracht. Es ist ein Heft wie eine Selbsterfahrungsgruppe, aber eine gute. Das mag etwas hoch gehängt klingen. Aber dieses Magazin kann durchaus zum Denken anregen.

Eine Erkenntnis im Wert von drei Abos

Der erste Text behandelt den Widerspruch, dass zwar für jedes Missgeschick ein*e Manager*in (ja, sorry) die Verantwortung übernimmt – aber trotzdem immer noch viele „unverantwortliche Dinge“ passieren. Und plötzlich wird mir bewusst, in wie vielen Unternehmen ich bereits gearbeitet habe, bei denen es weniger darum ging, Fehler zu vermeiden oder herauszufinden, wie man mit ihnen umgeht, sondern darum, immer zu wissen, wen man dafür verantwortlich machen kann. Mit den Seminargebühren, die man sich allein durch diese Erkenntnis erspart, hätte man bereits das Geld für drei Abos.

Ein anderer Text führt sehr schön vor Augen, dass sich viele Unternehmen heute mit einer CSR-Abteilung schmücken, die sich um „Corporate Social Responsibility“ kümmert, mit allen anderen Abteilungen aber weiter Profit auf Kosten anderer machen.

Die Rubrik „Frag Frida“, geschrieben von einem Mann, erklärt das Sprachmodell Gewaltfreie Kommunikation so kurzweilig, dass ich erst gar nicht ans Augenrollen denke. Stattdessen weiß man als Leser am Ende immerhin, wann man schuld sein könnte, wenn man von seinem Kollegen angeschnauzt wird.

Eine Reportage stellt die Berliner Genossenschaft WeiberWirtschaft vor, eine andere schildert die Steine, die Sozialunternehmen in den Weg gelegt werden. Ein Text behandelt verantwortungsvolle Geldanlage, ein anderer beschreibt, „wie ein Familienalltag für Führungsaufgaben fit macht“. Die letzte Idee hatten auch schon diverse Frauenmagazine, aber hier geht es etwas tiefer.

„Neue Narrative“ will nicht missionieren, sondern informieren

Ein Interview mit dem Wachstumskritiker Niko Paech dreht sich dann um die Verantwortung von Unternehmen im Umgang mit natürlichen Ressourcen, in einem Interview mit Lorena Jaume-Palasí, der Gründerin der Ethical Tech Society, wird die Frage erörtert, ob man Verantwortung an Algorithmen delegieren kann.

Das alles kommt ohne Sendungsbewusstsein, ohne erhobenen Zeigefinger und ohne „Wir sind nicht traurig, nur sehr enttäuscht“-Attitüde daher. „Neue Narrative“ will nicht missionieren, sondern informieren, und meistens schafft es die Redaktion, dies in einem angenehm unakademischen Stil zu tun, auch in einem Cartoon, der die sehr unterschiedlichen Gehaltsniveaus eines Managers und eines Rettungssanitäters krass (yep!) gegeneinander schneidet.

Links Text, rechts eine Frau, aus deren Kopf ein Atompilz steigt.

Auf dem Weg dahin werden Fragen gestellt, die selbst abgebrühte Egoistinnen (ohne Sternchen) zum Nachdenken bringen, angefangen beim Fleischkonsum, über die Frage, wo die Rohstoffe für den Computer herkommen, an denen sie tippen, bis hin zu: „Sind wir verantwortlich für die Demokratiekrise, wenn wir uns in den sozialen Medien nicht in laufende Debatten einschalten?“

Keine Angst, niemand will nach der Lektüre von „Neue Narrative“ gleich ein selbstverwaltetes Waisenhaus in Indien eröffnen. Aber ich zumindest helfe in Zukunft schon einmal alten Frauen über die Straße.

Wenn es einmal so richtig Meinung sein darf, wird sie offen deklariert. Man wolle mit positiven Beispielen vorangehen, positive Geschichten erzählen und das Glas lieber halb voll als halb leer sehen, steht im Vorspann zur Kolumne „Kinski meets McKinsey“:

„Doch manche Dinge machen uns so wütend, dass es gar nicht so leicht ist, konstruktiv zu bleiben. Dafür gibt es diese Kolumne, mit der wir unserer Wut Luft machen.“

Das menschelt so schön, dass mein schlechtes Gewissen über mein völlig unkonstruktives Leben gleich wieder ein bisschen schrumpft.

Linierte Seite als "Platz für Notizen"

Dazwischen beinhaltet „Neue Narrative“ kleine Details, die leicht daneben gehen könnten, aber genau den Ton treffen. Das Magazin ist sozusagen interaktiv, aber oldschool, mit viel Raum für eigene Notizen. Die erste leere Seite: gleich nach dem Editorial. Hier sollen die Leser hinschreiben, was sie sich von dem Heft erwarten – und das nach der Lektüre abgleichen. In der vierten Ausgabe (zum Thema „Pause“) gab es hinten im Heft eine Doppelseite, auf der einfach stand:

„Diese Seiten blieben übrig. Jetzt gehören sie dir. Mach was draus!“

Na gut, sie gehören ja ohnehin mir, weil ich das Heft nicht geklaut, sondern gekauft habe. Trotzdem nett, irgendwie. Und dieses Mal werden auf den leeren Seiten weitere Fragen gestellt, die man sich selbst beantworten soll. „Wo hast du in deinem Leben ein Übermaß an Verantwortung getragen?“ Gleich darunter: „Wo hast du dich vor ihr gedrückt?“ Ertappt.

„Org School“, „Circle of Influence“ und „Takeaway Box“

Zugegeben, die Rubriken könnten ein bisschen weniger nach Business klingen: In der „Org School“ werden „Tools“ vorgestellt, etwa verantwortungsvolles Sprechen und das Wort Nein, aber auch der „Circle of Influence“ und der „Circle of Concern“. Am Ende vieler Artikel gibt es eine „Takeaway Box“ mit den „drei Learnings“ des zuvor Gelesenen. Immerhin hat die Redaktion das nun selbst gemerkt und erstmals ein Glossar zusammengestellt, da es sich manchmal „leider einfach nicht vermeiden“ ließe, Fachsprache „oder Business-Denglisch zu verwenden“, das „außerhalb unserer Bubble“ verstanden werde. Ja, das Wort Bubble steht auch drin. Und, übrigens: Die ganzen Gendersternchen bringen mir leider nicht so viel, wenn die drei Erfahrungsberichte, was Verantwortung bedeutet, ausschließlich von Männern kommen.

Apropos Männer: Gabor Steingart gibt gerade sehr mit seinem Verzicht auf Werbung an. „Neue Narrative“ macht das schon länger, und das fällt auch erst gar nicht auf, man genießt einfach dieses Lesegefühl mit einem angenehmen, reichlich illustrierten Layout, das nicht durch Anzeigen gestört wird.

Stattdessen wird für Abos geworben, auf eine so transparente Art, dass ich gleich noch etwas dazulerne: Auf einer Seite wird à la taz vorgerechnet, wie viele Abos benötigt werden, um einen Umsatz zu generieren, der die Kosten pro Jahr (250.000 Euro) deckt. (Lösung: 10.000 Abos, davon haben sie erst 2000 verkauft.) Auf einer anderen Seite wird aufgeschlüsselt, wie viel die Heftmacher von einem am Kiosk verkauften Heft bekommen (1 Euro bei einem Copypreis von 9,80 Euro), und wie viel ihnen dagegen von einem Abo bleibt (24 von 29 Euro.)

Dennoch wurde in dieser Ausgabe erstmals ein Sponsor an Bord geholt. Unter einem Text, der das selbstorganisierte Arbeiten erklärt am Beispiel des „holakratischen FinTechs Europace“ (FinTech steht leider nicht im Glossar, holakratisch schon, hab‘s aber leider immer noch nicht ganz kapiert), wird in einem Disclaimer offengelegt, dass Europace die Ausgabe finanziell unterstützt habe:

„Als kleines Unternehmen ohne externe Investoren sind wir noch dabei herauszufinden, womit wir die Produktion dieses Magazins langfristig sicherstellen können.“

Auf die Gefahr hin, die Umwelt durch noch mehr bedrucktes Papier zu schädigen, bestelle ich jetzt jedenfalls ein Abo, und zwar nicht nur, weil „Neue Narrative“ auch noch in Österreich bei einer der wenigen Cradle-to-Cradle-Druckereien hergestellt wird. Aber irgendwie muss ich herausfinden, wie die das mit dem richtigen Ton immer hinkriegen.

Neue Narrative
TheDive GmbH
9,80 Euro

3 Kommentare

  1. Tolle Kolumne, aber hier biegen sich meinem inneren Zyniker die Fußnägel auf:
    „Warum kümmern sich Menschen privat ganz selbstverständlich um ihren Vorgarten und engagieren sich in lokalen Initiativen, um Sinn zu stiften, arbeiten aber in Unternehmen, die sich nur um sich selbst kümmern?“
    Weil Sinn nicht satt macht. Seid doch lieber froh, dass Menschen, die in Unternehmen arbeiten, die sich nur um sich selbst kümmern, genug Freizeit, Energie und sonstige Ressourcen für ihre Vorgärten und lokale Initiativen haben. (Ich unterstelle mal, dass das eine tiefsinnige Analyse des wie immer widersprüchlichen menschlichen Verhaltens sein sollte und keine rhetorische Floskel, ansonsten habe ich nichts gesagt.)

  2. Schließe mich dem Lob an, großartig geschriebene Kolumne*!
    Wäre glatt motiviert, mir auch mal eine Ausgabe zu kaufen, wenn ich irgendeine Chance sähe, dazu zu kommen, sie auch zu lesen … (Das ist das Problem an all den hier positiv besprochenen Magazinen – das Interesse wäre ja da, aber die nötige Freizeit fehlt halt.)

    * Bin ich der Einzige, der jedes Mal nachschauen muss, wie man das schreibt?

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