Pressefreiheit als zweifelhafte Hitparade
Einmal im Jahr veröffentlicht die Nichtregierungsorganisation Reporter ohne Grenzen (ROG) ihre „Rangliste der Pressefreiheit“, und das Gute und Schlechte daran ist, dass man über sie berichten kann wie über die Tabelle der Fußball-Bundesliga: Wer liegt vorn, wer hat seine Position verteidigt, wer ist Absteiger des Jahres? Die Präsentation als Ranking macht den Medien die Berichterstattung leicht, aber sie erschwert eine tiefgründigere Auseinandersetzung. Und das ist nicht das einzige Problem der Auswertung.
? Es ist soweit:
Heute erscheint unsere neue #RanglistederPressefreiheit 2019! Alle Infos zu Auf- und Absteigern, Gewinnern und Verlierern findet ihr unterhttps://t.co/OTC7icIuyB#Rangliste #Pressefreiheit #ReporterohneGrenzen pic.twitter.com/SNkjXfTLlu— ReporterohneGrenzen (@ReporterOG) 18. April 2019
Die Veröffentlichung der neuen Rangliste wurde mit dem richtigen Hinweis begleitet, dass der aufkommende Rechtspopulismus in Europa die Pressfreiheit bedroht. Trotzdem ist das Ganze so formuliert, dass Regierungen sich nicht unbedingt in der Verantwortung sehen. Schlimm sind immer nur die anderen: Die nämlich, die irgendwo weiter unten auf der Liste stehen. Dabei steht es im eigenen Ermessen eines Landes, ob es ab Rang 20 oder eher so ab Rang 100 richtig peinlich wird.
Pressefreiheit wird damit scheinbar zu einem relativen Wert: Nicht allgemeine Kriterien machen mein Land zu einem, in dem die Medien wirklich frei sind, sondern der Vergleich mit anderen Ländern, in denen die Lage schlimmer ist. Auch kann mit dieser Darstellungsform nicht festgestellt werden: Gibt es ingesamt eine Verbesserung oder Verschlechterung, und wenn ja, in welchen Bereichen und in welchen Ländern? Im Fall von Deutschland steht es faktisch etwas schlechter um die Pressefreiheit als letztes Jahr. Da sich die Situation von Österreich und Island stärker verschlechtert, ist Deutschland in der Rangliste um zwei Plätze nach oben gerutscht.
Der Hinweis, dass sich Deutschland nur dadurch „um zwei Plätze auf Rang 13“ verbessern konnte und nicht wegen einer tatsächlich verbesserter Lage, hat es in manche, aber nicht in alle Meldungen zum Thema geschafft.
Viel aussagekräftiger ist deshalb die Weltkarte von ROG, auf der nach absoluten (und nicht relativen) Kriterien Farben zugeteilt werden, die mit Bewertungen wie „gut“, „zufriedenstellend“ bis hin zu „ernste Lage“ belegt sind. Konkrete, absolute Punktzahlen bilden auch die Grundlage für das Ranking, aber die finden in den Berichten, Kommentaren und Analysen kaum Beachtung.
Skandale in Frankreich
Geschönt erscheint die Situation in Frankreich, dem Geburtsland von Reporter ohne Grenzen. Dort wurde im Herbst das sogenannte „Fake News“-Gesetz verabschiedet, das zu Recht umstritten ist, weil es eine Einmischung durch die Regierung zu Wahlkampfzeiten erlaubt. ROG erwähnt das im Frankreich-Bericht, ohne es einzuordnen oder selbst Stellung zu beziehen. Dass Journalist*innen in Frankreich neuerdings kriminalisiert werden, weil sie etwa über Menschen berichten, die Porträts des Präsidenten aus Rathäusern entwenden, dass die Staatsanwaltschaft ohne richterlichen Beschluss eine Hausdurchsuchung beim Investigativmagazin Médiapart abstatten wollte, nachdem dieses brisante Tonaufnahmen veröffentlich hatte, dass die Polizei auf Journalist*innen zielt und sie verletzt – das alles sind eigentlich Skandale, die ROG aber nicht als solche benennt. Rang 32, klingt doch stabil.
Es gibt etliche Länder, in denen eine detaillierte Ansicht weit mehr Grund zur Sorge gibt, als die Rangliste von Reporter ohne Grenzen vermuten lässt. Deren Aufgabe wäre es, die Dimension der einzelnen Vorfälle zu differenzieren. Da reicht es nicht, von Rechtspopulismus oder Radikalen zu sprechen. Vor gewalttätigen Gelbwesten kann im Zweifelsfall eine verantwortungsbewusste Regierung schützen. Aber wer schützt vor einer Regierung, die die Pressefreiheit einschränkt? Gegen prügelnde Demonstrierende ruft man die Polizei. Aber wen ruft man, wenn die Polizei mit Gummigeschossen auf einen schießt?
Dieser gravierende qualitative Unterschied wird bei Reporter ohne Grenzen aber gar nicht genannt. Gewalt von einzelnen Demonstrant*innen und Polizeigewalt werden in einem Themenblock aufgezählt, als handele es sich um dieselbe Form der Einschüchterung. Das ist eine Verharmlosung.
Eurozentrische Selbstgerechtigkeit?
Ähnliches trifft auch auf die Kurzzusammenfassung über Deutschland zu. Wie kann man die medienfeindliche Stimmung der Rechtspopulisten auf Demonstrationen erwähnen, ohne im selben Zug zu verdeutlichen, dass Polizeibeamt*innen die Einschüchterung zum Teil mitgetragen haben, wie etwa im Fall des ZDF-Kameramanns in Dresden? Der wird zwar in der Langfassung „Deutschland Nahaufnahme“ berücksichtigt, aber auch hier wird die Einschüchterung durch Staatsgewalt in eine Reihe gestellt mit pöbelnden Demonstrierenden, als seien das vergleichbare Vorfälle.
Dem liegt womöglich eine gewisse eurozentristische Selbstgerechtigkeit zugrunde, ein Nichtwissenwollen. „Sprechen Sie nicht von Repression und Polizeigewalt, das ist in einem Rechtsstaat inakzeptabel“, hatte der französische Präsident Emmanuel Macron im März gesagt. Eine Argumentation, die den Verdrängungsmechanismus vieler westlicher Länder kennzeichnet: Es sind nicht mehr die einzelnen Gestezgebungen und Vorgehen, die mein Land zum Rechtsstaat machen, sondern es ist der Status des Rechtsstaats, der alles andere legitimiert.
Finanzielle Abhängigkeiten
Das wichtige ROG-Programm „Media Ownership Monitor“, kurz MOM, ordnet sich genau dieser Logik unter. Es untersucht, wem die Medien in einem Land gehören, welche finanziellen Abhängigkeiten es gibt, und inwiefern die Konzentration vieler Medien in einer Hand die Medievielfalt einschränkt. Der Haken ist: Dieses Programm untersucht bisher nur sogenannte Drittweltländer.
Das Projekt wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) finanziert, folglich entscheidet auch das BMZ, in welchem Land überhaupt erst eine Stelle geschaffen wird, um diese Untersuchungen zu erheben. (Nachtrag, 24. April. ROG widerspricht: Das BMZ bestimme nicht, welche Länder für den MOM untersucht werden. Unsere Autorin hatte aber vor zwei Jahren am Rande einer Konferenz den MOM-Leiter Olaf Steenfad angesprochen, warum keine EU-Länder untersucht werden. Er antwortete, das wolle er, aber die Anträge für die jeweiligen Stellen müssten beim BMZ genehmigt werden; das sei eine Budget-Frage.)
Die finanzielle Abhängigkeit wird in einem Frage-Antwort-Block auf der Webseite transparent gemacht. Aber die bloße Benennung der strukturellen Abhängigkeit löst diese ja nicht auf. Es ist kein geringfügiger Widerspruch, wenn man die Unabhängigkeit und Vielfalt der Medien anhand ihrer Geldgeber*innen und Besitzer*innen untersucht, aber bei diesen Untersuchungen selbst abhängig ist von einer Bundesinstitution, die nicht ganz interessenlos sein kann. Das Projekt, das sicherlich mit engagierten Journalist*innen besetzt wird, untersucht ein Problem, von dem es selbst betroffen ist.
Dabei steht es um die Medienvielfalt in europäischen Ländern nun auch nicht gerade brilliant. Eine Tatsache, die in Frankreich übrigens von „Le Monde Diplomatique“ und in Deutschland von den Kabarettisten der „Anstalt“ detailliert aufgezeigt wurde. Schade, dass es auf der MOM-Seite nicht einmal für einen Hinweis auf diese Recherchen gereicht hat.
Die Arbeit von Reporter ohne Grenzen ist und bleibt wichtig; die detaillierten Berichte geben wertvolle Einblicke – ob im MOM-Programm oder in den herkömmlichen jährlichen Berichten. Doch die Ranglisten wirken durch ihre Mängel als Weichspüler, die Ländern und Institutionen zu Bequemlichkeit verhelfen.
Gefährlich wäre es, wenn so der Eindruck entsteht, dass Pressefreiheit als einmal erreichter Zustand eine unerschütterliche Tatsache sei. Pressefreiheit muss aber – wie alle demokratischen Errungenschaften – pausenlos verteidigt werden, wenn sie erhalten bleiben soll. Auch kleine Anzeichen der Einschränkung sind nicht zu unterschätzen.
Reporter ohne Grenzen sollte deshalb kompromisslos nerven und anprangern. Ranglisten machen es uns und den Regierungen zu einfach.
„Gewalt von einzelnen Demonstrant*innen und Polizeigewalt werden in einem Themenblock aufgezählt, als handele es sich um dieselbe Form der Einschüchterung. Das ist eine Verharmlosung.“
Zweifellos.
Die Crux ist die, dass das eine allgemeine Propagandamethode ist, mit der unsere Vervielfacher (Politik, Medien, Wissenschaft) seit Jahren arbeiten.
Die Falschmeldungen der Mainstreammedien werden auf eine Stufe gestellt mit Fake-News von Facebook- oder Twitter-Usern, deren Reputation und Leserzahl irgendwo im Bereich zwischen Nichts und Null liegt. Und die angeblich die US-Präsidentenwahl entschieden haben.
In den FAQs des „Media Ownership Monitors“ wird aber auch das europäische Äquivalent erwähnt (MPM). Dort werden europäische Länder untersucht. Siehe „Media Pluralism Monitor“ -> http://cmpf.eui.eu/media-pluralism-monitor/mpm-2017-2/. Unter diesem Aspekt scheint die „eurozentrische Selbstgerechtigkeit“ weniger gravierend.
Danke für die kritische Einordnung, sehr interessante Sicht auf die Mängel der Rangliste.
In der Zeitung, in der ich von der Rangliste gelesen habe (Der Standard, Wien) wurden die Bereiche der Rangliste ebenfalls farblich (für „gut“, „zufriedenstellend“, …) gekennzeichnet, was die Einordnung immerhin etwas verbessert hat. So konnte man gleich sehen, dass Österreich nicht nur aufgrund anderer Länder abgerutscht ist, sondern sich tatsächlich von „gut“ auf „zufriedenstellend“ verschlechtert hat – definitiv besorgniserregend.
Aber jedenfalls gehören Angriffe durch die Staatsgewalt entschieden härter bewertet als Angriffe aus der Bevölkerung. Das erschiene mir eigentlich selbstverständlich.
Naja, Angriffe durch Staatsgewalten sind mit anwaltlichen Mittel zubegegnen..natürlich nicht immer…nicht immer einfach(er) aber möglich,nicht immer..es gibt noch Chancen!
Aber wenn aus der Bevölkerung die freie Presse angegriffen wird,
gibt es auch nützliche emotionale Komponenten ,
weil das dort entfachte Feuer von mehr oder weniger bekannten Akteuren,
die anwaltlich/polizeilich nicht (mehr)zupacken sind,gesteuert wird.
Immerauch mit dem Gedanken das es andere Mitglieder der freien Presse warnen soll, es nicht mit der Pressefreiheit zu übertreiben!
Enttäuschender Bericht. Erstens sind viele „Vorwürfe“ nicht nachvollziehbar, weil nicht zitiert wird. Da „entsteht der Eindruck“ usw., das ist doch Quatsch. Schlimmer finde ich aber folgende Methode: Da legt RoG selbst offen, wo die Grenzen der Erfassung liegen, stellt in Kurz- und Langberichten die Details dar, und dann wird das aufgenommen und – einfach *gegen* RoG verwendet (zB die relative Verbesserung Deutschlands: Die Rechtfertigung für den Vorwurf liegt dann darin, dass ja nicht in allen Medien der von RoG gleich mitgelieferte Grund genannt wurde. Geht’s noch?) – Am Drolligsten allerdings der Vorwurf, durch einen Ländervergleich würde die Pressefreiheit selbst „relativiert“. Bei allen solchen Vergleichen (TIs „Index der wahrgenommenen Korruption, UNEPs „Index der menschlichen Entwicklung“ usw.) geht es darum, auch die oberen Ränge nicht in eine Komfortzone zu schieben – aber eine Idee davon zu geben, *wieviel* schlimmer es in vielen Ländern ist. Dabei ist die Quantifizierung von qualitativen Prozessen immer ein Problem, und man kann die Seriösität eines solchen Rankings immer daran erkennen, wie selbstkritisch die eigene Methodik dargestellt wird. – Bleibt zu klären, warum dieser Beitrag eigentlich als „Kommentar“ gezeichnet ist – weil der Text erkennbar keine Qualitätshürde überspringt und deshalb zum „Kommentar“ (im Verständnis von „die Autorin meint das halt so“) wird? Ist ja vllt kein Zufall, dass RoG auch gar nicht befragt wurde? Feige und ein durchsichtiger Versuch, sich die steile These nicht kaputtmachen zu lassen.
Die Rangliste basiert auf sieben verschiedene Kategorien. Wie sich die Pressefreiheit in einem Land verändert hat, lässt sich am besten erfassen, indem man sich die Punkte (Scores) der zurückliegenden Jahre anschaut. https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Presse/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2019/Methode_Rangliste_2019.pdf
Wir antworten auch gerne auf Kritik – dafür müsste man uns allerdings auch fragen. Kleiner Hinweis noch, weil es sachlich falsch ist: Das BMZ bestimmt nicht, welche Länder für den MOM untersucht werden.