Bahnhofskiosk

Von Gestaltern und Gemeinmachern

Was bisher geschah: Aus Cordt Schnibben wurde vor vier Wochen Cordt Georg Wilhelm Schnibben, ein multipler Leser, der sich zu dritt im Bahnhofskiosk herumtreibt, um Zeitschriften zu finden, über die Cordt viel zu schnell die Meinung hätte, die ich von mir erwarte.

Meine Eltern hatten bei meiner Geburt sicher etwas anderes im Sinn, als sie mir Georg und Wilhelm mit auf den Weg gaben – aber nun kann ich mich rächen.

Georg, von mir George genannt, ist einer von diesen Männern, die feministischer sind als viele Feministinnen. Wilhelm überrascht mich immer wieder durch seinen Nonkonformismus, man könnte auch sagen, für ein bisschen Beifall von der falschen Seite geht er über Leichen.

Während ich mir dieses Mal das Magazin „page“ vornehme, hat mich George mit der Zeitschrift „enorm“ überrascht, und Wilhelm kam leider schon wieder – wie im vergangenen Monat – mit einer Auto-Zeitschrift an. Das war mir zu viel Konformismus, ich habe ihn deshalb zurückgeschickt. Bis Redaktionsschluss brachte er nichts Gescheites als Ersatz, ließ es sich aber nicht nehmen, Kommentare in den Texten von George und mir zu platzieren.


„enorm“

Von Georg Schnibben

„Zukunft fängt bei Dir an“, Zweimonatszeitschrift, Ausgabe Februar/März, 100 Seiten, davon 11 Anzeigenseiten und 14 Seiten Native Advertising, 8,90 Euro.

Inhalt: 11 längere Artikel, 11 Meldungsseiten.

Gestaltung: dickes Papier, durchgestaltetes Layout, Fotostrecke im Titelthema, Strecke mit Illustrationen im zweiten Themenkomplex.

Fangen wir mit den journalistischen Teilen von „enorm“ an. Titelthema ist „Afrika“ als interessanter, aufstrebender Kontinent, vorgestellt in sieben Artikeln: Wirtschaft, Landwirtschaft (Kakao), Tierleben, Musik, Genossenschaften, Mitmach-Initiativen. Auf 60 Seiten, also in der Länge von etwa drei bis vier „Zeit“-Dossiers. Wer sich bisher kaum mit den leuchtenden Seiten Afrikas beschäftigt hat, bekommt einen neuen Blick auf den Kontinent. („Wenn da alles so toll läuft, warum laufen dann die Leute weg?“ / Wilhelm)

Dieser Rundum-Schlag-Journalismus hat den Vorteil, aus verschiedenen Perspektiven aber trotzdem nicht schlaglichtartig ein Thema zu spiegeln, erfordert beim Leser allerdings ein Interesse, das über das normale Maß hinausgeht. Wenn mich Afrika nicht interessiert, ist die Hälfte des Heftes uninteressant – die Redaktion braucht also ein gutes Gespür für Themen, die zum einen in der Luft liegen, zum anderen genügend unentdeckten Stoff bieten für eine 360-Grad-Betrachtung. In diesem Fall gelungen. („Geht einem der Alles-gut-finden-Sound nicht schnell auf die Nerven?“ / Wilhelm)

Zweites Thema: Richtig Streiten, auf 18 Seiten. Fürs Streiten interessiert sich natürlich jede und jeder, allerdings wird in den drei Texten erstaunlich wenig gestritten. Der Report über die Suche nach einer neuen Diskussionskultur, das Interview über die „streitbare“ Hamburger Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard (für die „streitbar“ ein Negativ-Attribut ist für Frauen, „die eine klare Haltung haben“); und der Report über Leadership-Training thematisieren das Streitthema ohne große Widersprüche.

Warum nicht ein Streitgespräch, um unterschiedliche Perspektiven auf die gesellschaftliche Debattenkultur zu veranschaulichen? Soziale Medien bieten doch ein großes Reservoir von Streithähnen. („Oh ja, Broder gegen Niggemeier über Streitkultur!“ / Wilhelm; „Nein, lieber Sixtus gegen Reichelt!“ / Cordt)

Man solle sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, mit diesen Spruch und Anspruch von Hanns Joachim Friedrichs quälen sich Journalistenschüler herum; „enorm“ aber quält sich nicht, es überschreitet die Grenze zum Gemeinmachen konsequent, beziehungsweise: Es gibt diese Grenze nicht in „enorm“. Das Magazin zelebriert eine neue Spielart von Gemeinmachen-Journalismus. Es mischt Journalismus mit Aktivismus, Constructive Journalism mit Gute-Sache-PR und Native Advertising für das Gute. („Also Gesinnungsjournalismus für Gutmenschen?“ / Wilhelm)

Auf elf Nachrichtenseiten geht es um ökologische Tampons, Gezeitenenergie, Putzhilfen, Bauschutt-Recycling, Gemüseempfehlungen, Saisonkalender für ökologisch korrekte Ernährung, nachhaltige Mode. Auf 13 Seiten haben Firmen wie Microsoft, Tonali, Original Beans oder Stiftungen wie die Right Livelyhood Award Foundation und Social Impact die Chance, gegen Bezahlung ihren Beitrag zu einer besseren Welt auszubreiten.

Buchtipps, Veranstaltungshinweise und der „enorm“-Shop bieten dem Leser und Weltverbesserer all das, was er zu einem allseits korrekten Leben braucht. Zudem bietet das Magazin für Weltveränderer, die für Arbeitgeber schaffen wollen, „die deine Werte und Ziele teilen“, den Stellenmarkt „Goodjobs“ an.

Braucht der Weltverbesserer das alles, und braucht er so ein Magazin? Ich möglicherweise, Wilhelm garantiert nicht.

„enorm“ beschreibt die helle Seite des Lebens, das Magazin ist die Ergänzung zu all den Medien, die die dunklen Seiten der Welt ausleuchten. „enorm“ könnte das Zentralorgan der wachsenden Friendsforfuture-Gemeinde werden. („Aber zahlen die auch 8,90 Euro für ein Heft?“ / Wilhelm)


„page“

Von Cordt Schnibben

„Das Magazin für die Kreativbranche“, Monatszeitschrift, Ausgabe 5/19, 114 Seiten, davon 9 Anzeigenseiten, 10,80 Euro.

Inhalt: 9 Artikel, 1 Fotostrecke, 7 Nachrichtenseiten, 7 Seiten Konferenzpromotion.

Gestaltung: dickes Papier, durchgestaltetes Layout.

Die meisten Menschen haben und sind beschränkte Begabungen. Wer singen kann, kann selten Fußball spielen; wer malen kann, kann selten fliegen; wer schreiben kann, kann selten gestalten. („Wer nicht schreiben kann, kann nicht lieben.“ / Georg)

Darum brauchen Texter und Journalisten Grafiker und Designer, die ihnen helfen, Leser zu finden. Als Werbetexter waren es für mich Art-Direktoren, die aus Reklamesprüchen Anzeigen, Plakate und TV-Sports machten; bei der „Zeit“ bauten Layouter wie Peter Wippermann aus Texten ganzseitige Kunstwerke; beim „Spiegel“ durchbrachen Leute wie Lo Breier oder Jens Kuppi immer wieder das Gestaltungskorsett. („Hab ich nie was von gemerkt!“ / Wilhelm)

Die schönste Erfahrung in der Zusammenarbeit mit solchen Gestaltern: Wenn man als schreibender Mensch eine gestalterische Idee hat, und die Gestalter daraus etwas machen, was man denken, aber nie hätte gestalten können. („Meine schönste Erfahrung: Wenn der Gestalter das Denken mir überlassen hat.“ / Wilhelm)

„page“ ist ein Magazin, dass mich hinein führt in das Paralleluniversum der gestalterischen Hirne. Im vorigen Heft habe ich das Handwerk des Klauens verstehen gelernt, nennen wir es kopieren. In diesem Heft kreist das Titelthema den Wert von Design ein, den ideellen und den materiellen. Ein Logo zum Beispiel wird nicht gelingen und funktionieren ohne Marktanalyse und Marktstrategie. Und gehört deshalb entsprechend bezahlt.

In meiner Werberzeit entstanden besonders in Michael Schirners GGK Plakate, die ich bis heute vor Augen habe, für Jägermeister, Pfanni, IBM: schreIBMaschine („Mein Plakat-Evergreen: Er läuft und läuft und läuft und läuft.“ / Wilhelm). Drei Statements von Plakatmachern aus dem „page“-Artikel „Das Plakat lebt“:

„Wirklich lebendig ist das Plakat dort, wo – wie in Deutschland – das wilde Plakatieren toleriert wird.“

„Sogar wenn ich ein Plakat nicht so genau lese, das prägt sich ins Stadtbild ein und schafft Identitäten nach innen und außen.“

„Natürlich finde ich künstlerische Plakate interessanter, aber konzeptionelles Denken ist für mich ebenfalls eine Kunstform.“

Die Typografie im Internet der Dinge, ein Report über heikle Auftraggeber, ein Artikel über interaktive Datenvisualisierung, über einen StyleGuide, über die DSGVO für Gestalter, über Teambildung bei Gestaltern – das sind einige der Themen in diesem Heft. Dazu: ein Workshop mit prämierten Arbeiten des Type Director Club von New York.

Das Besondere an „page“: die sieben Fachkonferenzen (unter anderem „Visual Storytelling“, „ Bildrecht“), die „page“ in den nächsten Monaten veranstaltet. („Und die ziemlich teuer sind, zwischen 750 und 1500 Euro!“ / Wilhelm)

Jeder Mensch ist nur eine Teilbegabung, wer gestalten kann, kann selten gut schreiben – die Texte in „page“ könnten etwas anschaulicher und sinnlicher sein, einige lesen sich wie die Texte in einem Fachmagazin für Maschinenbauanlagen. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass es so schwierig ist, Gestaltung in Worte zu kleiden? („Oder daran, dass du glaubst, auch mal was Kritisches sagen zu müssen?“ / Wilhelm)

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