Bahnhofskiosk

Der Koffer und ich und der „Vintage Flaneur“

Es ist März. Ich habe beschlossen, dass der Wintermantel wieder im Schrank wohnt und friere nun maulend durch einen Zeitungsladen am Berliner Hauptbahnhof. Der Zug fährt in 15 Minuten. Der Koffer und ich drücken uns unschlüssig zwischen den Regalen herum – und finden: „Der Vintage Flaneur“.

Ich mag das Wort „Flaneur“. Klingt nach lauen Nachmittagen, Zitroneneis und abends Sommersprossen auf der Nase zählen. Es klingt nach Müßiggang, aber in gut. Nicht den halben Tag nackt und verkatert im Halbdunkel des Schlafzimmers herum vegetieren. Sondern sortiert das Haus verlassen, Augen sogar geöffnet, und sich obendrein erwachsen fühlen.

Beim Wort „Vintage“ dagegen stellen sich mir die Nackenhaare auf. Das steht in Anzeigen für potthässliche Porzellan-Pötte auf Ebay, oder in Verkaufsgruppen bei Facebook über die abgelatschten Stiefel von Tante Gudrun („Original 80er Vintage“). Es will viel und heißt nix. Also nur bei meiner Freundin P. Die sagt: „Das heißt immer noch SÄCONDHÄND, ihr Hipster!“

Wie kess: „Ihr ‚Fräulein‘ Dovermann“

Was für ein Spannungsfeld also! Ich will flanieren, aber will ich vintagieren? Ich will dem auf den Grund gehen, der „Flaneur“ muss her. Gesagt, 7,90 Euro bezahlt. Wir steigen in den ICE, der Koffer und ich und der Herr Flaneur.

Er ist kleinformatig, auf mattem Papier gedruckt und auf der Titelseite hat die Flaneur-Redaktion eine Frau auf eine Blumenschaukel montiert, mit sorgfältig drapiertem pinkem Haar, rotem Kleid mit Petticoat und bunttätowierter Haut.

Sie sieht ein wenig angestrengt aus, als würde sie durch die Zähne um Hilfe zischen. Es sind aber vermutlich nur die Ankündigungen der März-April-Themen des Flaneurs, vor allen Dingen: Frühling! Und Klamotten, Fahrräder, Brot, Ordnung im Kleiderschrank und Tipps zum Durchstarten. Der Hintergrund ist hübsch blau. Die Stimmung stimmt.

Wir fahren, ich schaue raus. Draußen hat jemand grau in grau Sachsen-Anhalt aufgebaut, ich gucke also lieber schnell wieder in den Flaneur.

Flott durchblättern, bisschen anlesen, und ich merke gleich: Hier geht’s mächtig seriös zu. Da wird sich nicht duzend eingemeiert, sondern dem in der Welt der ach so flachen Hierarchien und des „Ich mach was mit Internet“ gemiedenen „Sie“ gehuldigt. Ob im Editorial, das die Chefredakteurin ganz kess mit „Ihr ‚Fräulein‘ Dovermann“ unterzeichnet, oder in den „10 Begebenheiten, die im Frühling auf Retro-Lover zukommen“, oder auch im „Flaneursbericht“ über Feminismus. Alles ganz manierlich.

Diesem stilistischen Edikt haben die Leserinnen dann wohl auch die geschwungenen Schriftarten zu verdanken, die Blümchen und Ornamente, die einige Texte umranken. Aber dieses geschwätzige Dekor („Es ist Frühling, rafft es endlich!“) wird zum Glück bei längeren Artikeln reduziert, so fühlt sich das Durchblättern nicht mehr ganz so an wie Lesen in Omas Poesiealbum.

All Hormone go Peng!

Thematisch flaniert man an folgenden Eckpunkten entlang: Der Rundgang beginnt mit „Frühlingsgefühlen“; was sind sie, was können sie (von Euphorie bis Depression ist alles drin) und was ist Frühling überhaupt (Blühende Blüten, duftende Düfte, all Hormone go Peng!).

Wenn man dann weiß, was Frühling ist und kann, kann der geneigte Lesende lernen, was man mit all der überschüssigen Energie so anfangen könnte. Da kommen die erwähnten „10 Begebenheiten, die im Frühling auf Retro-Lover zukommen“ ins Spiel, die da wären: Shoppen, Saufen, Klamotten wegwerfen, Kommoden erstehen, das alles mit dem Rad oder dem Oldtimer und im Anschluss ’ne Grillparty und bei Facebook bei irgendwas auf „Attend“ klicken.

Danach Staubsaugen und eine Liste mit Zielen schreiben. Überall nun noch die Worte „Antik“, „Vintage“ und „Retro“ einfügen – dann sind das alles nicht prima Tipps für jedermann, sondern eben „Begebenheiten für Retro-Lover“. Ich schreib‘ mir das alles in meinen Kalender für April und Mai – allein, die Irritation über die Verwendung des Wortes „Begebenheit“ bleibt.

Richtig gut gefällt mir die Bastelanleitung für eine schwebende Teetasse, aus der sich Kunstblumen auf eine Untertasse ergießen. Man benötigt, um sie anzufertigen, wie übrigens für die meisten spannenden Dinge im Leben: eine Heißklebepistole! Eigentlich sieht das Konstrukt ganz hübsch und fröhlich aus, aber weil ich ein morbides Gemüt mein Eigen nenne, sehe ich bereits, wie der Staub sich als flockendes Deckchen auf die nie welkenden Wicken legt.

Da fällt mir Marie Kondō ein, und weil „Der Vintage Flaneur“ eben nicht nur „Vintage“ kann, sondern auch echt beim Zeitgeist Bescheid weiß, taucht die Dompteurin der unaufgeräumten Sockenschublade auch gleich („Die Kunst des Aussortierens“) auf.

Frühlings-Makeup für die „Bestagerin“

Hübsch anachronistisch kommt dagegen ein Make-Up-Tutorial in sechzehn Schritten um die Ecke. (Sechzehn Schritte für ein „Frühlings-Make-Up“! Ich bin froh, wenn ich morgens nicht zwei verschiedene Schuhe anhabe, wenn ich das Haus verlasse, aber das ist eine andere Geschichte.) Die „Bestagerin“, für die diese Lidstrich-Cremerouge-Nummer erdacht wurde, kennt solche Probleme nicht, ABER sie kennt doch YouTube? Nein? Doch, bestimmt. Allerdings blökt einem bei so einem Tutorial auf Papier nicht ständig jemand etwas über „Contouring“ ins Ohr. Und das ist doch auch was Feines.

Also fast so fein wie ein Ausflug nach Wuppertal, wenn die Schwebebahn nicht funktioniert. Geschlossen bis Mitte 2019. Ich kann mir die Enttäuschung bei der Recherche-Reise zu „Ein Wochenende im Bergischen Land“ bildlich vorstellen. Ich hätte ja in die Wupper geheult, und es sind dann auch nicht richtig viele Fotos dabei rumgekommen.

„More Leverkusen, less Petticoat“, so insgesamt betrachtet, wenn es nach mir gegangen wäre. Aber das tut es ja nicht. Gut auch, dass es wenigstens ein Foto der Schwebebahn gibt, und dass ich gelernt habe, dass es in Solingen ein schönes altes Kino und ein Klingenmuseum gibt.

Wir fahren hinter Erfurt in einen Tunnel und ich beiße in ein pappiges Etwas aus dem Backshop. Remu tropft mir auf Kinn und Rock, und damit ich mich noch erbärmlicher fühle, lese ich, mit klebrigen Fingern blätternd, das sehr lange Interview mit einem ambitionierten Bio-Bäcker aus Bonn.

Im Brot ist nur, was in ein Brot gehört

Er hat Leidenschaft für sein Handwerk, in seinem Brot ist nur, was in ein Brot gehört, und das alles hat mit der ganzen „Vintage“-Nummer zu tun, weil es früher gescheites Brot gab und heute eben Trottel wie mich, die Remu-Semmeln aus dem Backshop fressen – und dabei auch noch kläglich versagen. Dagegen unternimmt der Bonner Bäcker was. Das kann man nur gut finden.

Unglücklich tupfe ich an dem Fettfleck auf meinem Rock herum; um den Trübsinn zu vertreiben, betrachte ich dann doch lieber die Modestrecke: Frauen, die erfreulicherweise aussehen, als arbeiteten sie in der Grafikdesign-Agentur, respektive in der Kneipe um die Ecke, zeigen Gestreiftes, Geblümtes, mit Hummern Bedrucktes vor knalligen Hintergründen und halten dabei Blumentöpfe, Eier und Farbpinsel. Sie sehen dabei natürlich ein bisschen aus wie Hausfrauen der Nachkriegszeit, aber nur ein bisschen, denn die statische und farbenfrohe Inszenierung klöppelt einen schönen ironischen Bruch.

Kurz vor Nürnberg wird es draußen dunkel, Licht aus in Franken, und ich purzele durch die Artikel zur Entwicklung der Rocklänge (merke: es geht immer noch kürzer als bei Mary Quant) und Fahrradkultur (hier kann man tatsächlich was lernen – auch wenn man diese Fixie-Penner hasst, so wie ich – Küsschen! ) und bleibe schließlich beim Krimi-Rätsel hängen, in dem eine Katze namens Esmeralda eine tragende Rolle spielt.

Das (gepaart mit der Durchsage „Wir erreichen in wenigen Minuten München Hauptbahnhof“) führt mich schließlich zur Frage, was das eigentlich alles soll. Das Siezen, die Blümchen, die Petticoats und die Fahrrad-Historie, der Bonner Bäcker und nun auch noch Esmeralda, um nur ein paar Themen zu nennen.

Er ist ein Eklektiker, der „Vintage Flaneur“

Es flaniert sich tatsächlich vielfältig mit diesem unterhaltsamen Magazin. Nichts geht zu sehr in die Tiefe, manches wirkt zufällig aneinandergereiht, manches ist nicht rasend gut geschrieben, alles sieht gut aus. Man muss diese manierierte und durch die Epochen springende Ästhetik mögen.

Dieses „Neo-Vintage-Magazin“ hat einen Look für die Nische, der aber sehr nah dran ist an den Massen, die mit Begeisterung „Babylon Berlin“ gucken und Sonnenbrillen für das sonntägliche Flanieren eben „vintage“ kaufen. Er ist ein Eklektiker, der „Vintage Flaneur“, und bedient die aktuelle Sehnsucht nach Analogem und Hand-und Hausgemachtem und frönt lustvoll der Nostalgie, ohne dabei altmodisch zu sein.

Und in München angekommen, werde ich mir direkt so eine Heißklebepistole zulegen: die nie welkenden Wicken, die aus der Tasse tropfen, lassen mich nicht los – es lebe der Vintage-Chichi!

„Der Vintage Flaneur“
Dovermann Verlag
7,90 Euro

5 Kommentare

  1. Mich irritiert, dass die Zielgruppe weiblich ist, der Titel aber explizit männlich. Andererseits: „Die Vintage Flaneuse“ wäre wahrscheinlich nicht umsatzsteigernd. ;)

  2. @Martin: Für mich klar: Der Titel „Der Vintage Flaneur“ in seiner wolkigen Untermalung gleich einer Sprechblase aus dem Mund der Schaukelnden. Sie sagt „Hallo Sie, Sie adretter vintagier Flaneur, kaufen Sie sich doch nicht nur hier am Kiosk eine Packung Overstolz vom Rhein, sondern auch gleich dies‘ feines Brevier für die Gattin.“

  3. Seltsamer Titel. Flaneure und Flaneusen gehören in die Metropole, am besten ins Paris von 1900; hier scheint mir eher Vorstadt-Eigenheim um 1960 angesagt zu sein. Und bei dem Wort „Vintage“ geht es meinen Nackenhaaren wie denen von Frau Halt: Ich höre ja gerne Schallplatten und fotografiere auf Film, aber wenn das jemand (meist in lobender Absicht) meine „Vintage-Hobbys“ nennt, vergeht mir fast die Lust daran. Brrr, ihr Hipster!

  4. Fein geschrieben, jetzt weiß ich wieder was, was ich nicht kaufen will. Prima Team im neuen Bahnhofskiosk, alle sechs! :)

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