Von „zulässigen und richtigen Montagen“

Die Reportage: Manipulationen nach Lehrbuch

Claas Relotius hat auch Interviews manipuliert und Berichte gefälscht, aber es ist das Genre der Reportage, das seit der Enthüllung seiner vielfachen Erfindungen besonders in Verruf geraten ist. Reporter sehen sich dem Generalverdacht ausgesetzt, Tatsachen im Zweifel zugunsten einer schöneren, besseren, passenderen Geschichte hinzubiegen.

Relotius war mit seinen dreisten Manipulationen ein Extremfall, aber gibt es tatsächlich eine zweifelhafte Tradition, es bei dieser besonders subjektiven Erzählform mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen?

Ausgerechnet in dem Buch „Die Reportage“ von Michael Haller, einem Standardwerk der Journalistenausbildung, stößt man auf eine verblüffende Bereitschaft, Dinge zu verändern, passend zu machen: Dort heißt es, das „journalistische Realitätsprinzip“ besage,

„daß die zur Zeit anzutreffenden Verhältnisse gestalterisch ausgeschöpft, aber nicht entstellt werden dürfen.“

Was mit „gestalterisch ausgeschöpft“ gemeint ist, demonstriert Haller anhand eines Übungstextes. Er stammt von Michael Geffken, der heute die Leipzig School of Media leitet. Seine Reportage handelt von einem Tag auf der Rennbahn. Der Autor ist völlig unerfahren, trifft aber einen erfahrenen Zocker namens Eddy, der ihm schon auf dem Weg zur Trabrennbahn als offenkundiger Experte auffällt. Der Reporter lässt sich von ihm ins „Schlepptau“ nehmen.

Die gesamte Reportage, vom ersten bis zum letzten Absatz, hangelt sich am Schlepptau dieser Person entlang. Am Anfang des Nachmittags sagt Eddy zum Ich-Erzähler: „Klar helfe ich dir’n büschen. Damit du hier nicht unter die Räuber fällst!“ Dann warnt er ihn, dass es den Besuchern nicht um Sport gehe, sondern nur ums Wetten: „Ob hier Pferde laufen oder Kamele, das ist den meisten egal.“

Später erklärt er ihm, wie er die Statistiken in einer Fachzeitschrift zu seinen Gunsten nutzt. Vor einem Rennen gibt er ihm einen Tipp, „todsichere Sache, ich schwör’s dir“. Er warnt ihn vor den illegalen Buchmachern, verschwindet eine Weile, taucht aber rechtzeitig zum letzten Absatz wieder auf, um sich „auf dem Weg zum Bus“ die Leidensgeschichte des erfolglosen Wett-Neulings anzuhören und einen pointentauglichen Rat für den nächsten Tag zu geben: einfach zum Buchmacher gehen statt auf die Rennbahn.

Wer ist Eddy und wenn ja, wie viele?

So einen Eddy zu treffen, ist ein großer Glücksfall für einen Reporter. Wäre ein großer Glücksfall. Denn diesen einen Eddy gibt es nicht. Michael Haller verrät im Buch:

Der Verfasser hatte im Verlauf seines Nachmittags auf der Trabrennbahn mehrere Zocker angesprochen und kennengelernt, darunter auch einen im Zuschnitt des Eddy. Allerdings absolvierte er den Rest des Nachmittags und die Heimfahrt in Begleitung anderer Helfer und Ratgeber. Um nun das Geschehen nicht kompliziert und den roten Faden unübersichtlich werden zu lassen, verschmolz der Autor beim Schreiben der Reportage zwei Zocker zu dem einen Eddy (…) – eine nicht nur zulässige, sondern richtige Montage, weil durch sie ihre Schilderungen aufs Wesentliche vereinfacht, aber die Realitäten nicht entstellt werden. Tatsächlich traf der Autor Figuren nach Art seines Eddy.

Und die Eddy-Verschmelzung ist kein Einzelfall. Haller schreibt:

Ähnliche Manipulationen wurden im Rahmen des Zulässigen auch bei einigen anderen Übungstexten vorgenommen. Indem sie aber dieses Realitätsprinzip respektieren, flippten diese Autoren nicht ins Fiktionale, sondern blieben bei den Sachen.

(Alle Zitate aus der 2. Auflage. In der 6. steht hier: „… im engen Rahmen des Zulässigen …“)

Ausriss: Michael Haller, „Die Reportage“

Erstaunlich: Eines der Standardwerke zur Reportage im deutschen Journalismus, erstmals 1987 erschienen, aktuell in der 6. Auflage von 2006 im Handel, heißt es ausdrücklich für gut, mehrere reale Personen zu einer zu verschmelzen. Auch andere „Manipulationen“ seien erlaubt, solange sie dem „Realitätsprinzip“ nicht widersprechen.

Ein nützlicher Amerikaner

Was Haller damit meint, diskutiert er auch an einem historischen Beispiel: 1926 unternahm Joseph Roth als Reporter für die „Frankfurter Zeitung“ eine Reise auf der Wolga. An einer Stelle beschreibt er, wie ein Amerikaner auf dem Passagierschiff gegen die sozialisitsche Revolution argumentiert:

„‚Sehen Sie, sagte mir ein Amerikaner auf dem Schiff, ‚was hat die Revolution erreicht? Die armen Leute drängen sich unten und die reichen spielen Sechsundsechzig!“

Haller bezweifelt, dass es diesen Amerikaner wirklich gab, der, wie bestellt, einen Anlass für eine lange Erwiderung Roths bietet. Wäre das eine „erlaubte Schmückung“ oder „unerlaubte Dichtung“? Kommt darauf an, sagt Haller:

Der Reporter muß sicher sein, daß derzeit tatsächlich kapitalistisch denkende amerikanische Staatsbürger auf russischen Wolgadampfern reisen. Weiß er von wenigstens einem Fall, dann darf er dem Zufall ein wenig nachhelfen und sich mit diesem Amerikaner auf demselben Schiff einquartieren. Er darf es, weil er die derzeitigen Realitäten auf Wolga-Damern nicht entstellt. Falls er aber nicht gewußt hat, ob es dort Amerikaner gab, dann war die Schmückung eine freie und unzulässige Erfindung (…).

Die Unterscheidung klingt akademisch – wogegen natürlich zunächst einmal nichts zu sagen ist, weil es sich ja um ein Lehrbuch handelt. Sie dürfte aber auch das Publikum überraschen, das mutmaßlich davon ausgeht, dass ein Reporter, der beschreibt, was eine Person in einer bestimmten Situation zu ihm gesagt hat, auch tatsächlich mit dieser Person geredet hat – und sie sich nicht nur passend herbeigeschrieben hat, weil er weiß, dass es solche Personen gibt.

Einen Fall aus fünf Geschichten zimmern

Besondere Freiheiten darf sich der Journalist nach der Lehrmeinung von Haller herausnehmen, wenn er keine Reportage schreibt, sondern ein Feature. Ein Feature funktioniere so, das es „ein Thema konkretisiert und mit Hilfe weniger sinnlich dargestellter Situationen einige charakteristische Züge hervorhebt.“ Es mache abstrakte Sachverhalte, von denen ein Artikel handelt, durch konkrete Beschreibungen anschaulich. Um exemplarische Situationen zu zeigen, sei ihr „erlaubt, was bei einer Reportage unzulässig ist, nämlich fiktive Szenen zu verwenden und ganze Szenarien zu entwerfen“. Oft sei es „notwendig, einen typischen Fall, aus vier, fünf individuellen Geschichten zu zimmern, um das Exemplarische zu zeigen.“

Als Beispiel nennt Haller in seinem Buch einen eigenen Artikel aus dem „Spiegel“ aus dem Jahr 1987. Er beginnt so:

Seit Weihnachten ist der 17jährige Holger Widmann abwesend. Nicht, daß er verlorengegangen wäre. Er hat sich vielmehr in seinem Spielzimmer verbarrikadiert und wird seither vom Rest der Familie nur noch auf dem Weg zur Küche oder zum WC gesichtet. An seiner Tür hängt das Pappschild: „Laßt mich in Ruhe“, darunter mit Filzstift: „Ich bin ein Chippie“, ein Computerbesessener.

Lange schon hatte sich Holger, dessen Familie in Hamburg-Billstedt ein kleines Einfamilienhaus bewohnt, einen Homecomputer gewünscht, mit dem man ein bißchen rechnen und herumbosseln, vor allem aber Video spielen kann: zum Beispiel Raumschiffe abschießen und ganze Armeen von Marsmenschen umzingeln und killen.
Zuerst waren seine Eltern strikt dagegen. „Dann hockt der Junge rund um die Uhr vor dem Bildschirm, wie sein Freund, der Udo“, fürchtete die Mutter: Der gleichaltrige Kamerad, dessen Schulleistungen rapide nachließen, war im Hause Widmann das abschreckende Beispiel.

(…)

In den Herbstferien jobte Holger bei einem Hamburger Express-Botendienst als Mopedfahrer, das brachte ihm in zwei Wochen 1300 Mark ein. Den Rest legte der Vater drauf, und so stellte ihm das 86er Christkind einen „520 ST“ der Firma Atari auf den Gabentisch.

Diesen detailliert beschriebenen Holger Widmann mit seiner ebenso genau geschilderten Familiensituation gab es so also gar nicht. Das heißt: Es gab ihn vermutlich irgendwie schon, weil er (angeblich) typisch war für viele Jugendliche und ihre Familien und deren Umgang mit dem Computer. Aber der beschriebene „Holger Widmann“ war laut Haller eine aus mehreren realen Personen zusammengesetzte fiktive Person.

Es ist insbesondere vor dem Hintergrund der Relotius-Debatte verblüffend zu lesen, welche Manipulationen laut Lehrbuch (und offenbar damals auch: im „Spiegel“) erlaubt waren. Und wie mühsam eine Grenze gezogen wurde, die nicht dort lag, wo sie am klarsten wäre: vor jeder Fiktionalisierung.

Imaginierte Taxifahrer

Haller deutet in seinem Buch an, dass journalistische Manipulationen der Wahrheit durchaus keine Seltenheit sind, und er tut nicht so, als sei das unproblematisch:

Sehr viele Journalisten – und ich habe den Verdacht: es sind nicht die redlichsten – tun so, als gäbe es da gar keine Probleme: Wir schreiben alles nur so, wie wir es gesehen und gehört haben. Ausschmückungen? Okay, vielleicht mal ne Blume im Reversknopfloch oder ein rosa statt braun gefärbtes Kleidchen bei der Freundin unserer Hauptperson, es hätte ihr sowieso besser gestanden. Aber flunken oder gar erfinden? Niemals! Heerscharen imaginierter Taxifahrer, Eisenbahnschaffner, Barkeeper und sogenannter Hausfrauen würden jetzt schallend lachen; aber eben, es gibt sie nur in der Reporterphantasie. Ist also eher das Gegenteil zutreffend, daß man seelenruhig beim Schreiben hinzudichten darf, wenns der Stimmigkeit der Geschichte hilft?

Haller Antwort ist ein klares Jein – und eben der Bezug auf das „journalistische Realitätsprinzip“, das gewahrt werden müsse. „Und dieses Prinzip sollte für die ganz großen Künstler ebenso selbstverständlich sein wie für die kleine Tageszeitungsreportage auf der Lokalseite.“ Der aus mehreren Eddys zusammenmontierte Eddy auf der Rennbahn sei erlaubt. Den Umgang des legendären, aber für seine dichterischen Freiheiten berüchtigten Reporters Egon Erwin Kisch mit der Wahrheit hingegen dürfe man „nicht tolerieren“.

Im Niemandsland

Wie steht Haller heute zu dieser Grauzone? Auf Nachfrage spricht er von einem „Niemandsland“ zwischen Bericht und Erzählung, das er angesprochen habe: Die Manipulation in der Rennbahn-Geschichte sei zulässig, weil inhaltlich bedeutungslos. Er ist sicher, dass das damals nicht missverstanden werden konnte:

Mein Buch mit seinen Lehrmaterialien entstand in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es waren analoge Zeiten mit einem prägnanten, von Fake-Katastrophen wie Sterns „Hitler-Tagebücher“ geschärften Bewusstsein für das Sachrichtige. Meine Erläuterungen wurden damals im Sinne „bei den Sachen bleiben“ verstanden und angewendet.

Doch manchen seiner Studentinnen und Studenten ist die Lehrmeinung, die Haller auch Mitte der 2000er Jahre an der Universität Leipzig noch vertrat, durchaus als heikel in Erinnerung geblieben. Offenbar gab es dort in den Seminaren auch expliziten Widerspruch zu Hallers Thesen – an der Uni und auch von „Spiegel“-Reportern wie Jürgen Leinemann, die solche Manipulationen für gar nicht zulässig hielten.

Auf die Frage „Was darf ein Reporter?“ gebe es für ihn „nur eine dogmatische Antwort und viele weitere weiche Antworten“, schreibt uns Haller:

Die eine harte lautet: Du darfst dein Publikum nicht in die Irre führen, ihm nicht ein X für ein U vormachen. Dies gilt für die Fakten und – mehr noch – für das Gesamtbild, für den Gehalt der Geschichte, die erzählt wird. So gesehen hat Relotius gleich zwei Mal gelogen: Er hat sich die Botschaft ausgedacht, die seinen Chefs gefallen könnte; und dann hat er die dazu passenden Fakten als Pseudobelege phantasievoll komponiert.

Austauschbare Typen

Haller erläutert, wie der „Spiegel“ seine typische Nachrichtenmagazingeschichte aus dem amerikanischen „Feature“ entwickelte: „Texte, die – im Unterschied zur Reportage – komplexe Sachverhalte auf das Wesentliche verdichten und anschaulich machen (sollen).“ Weil sie das Typische beschreibe und nicht das Einmalige, seien seine Figuren auch Typen und bis zu einem gewissen Grad austauschbar. Das Feature dürfe deshalb faktengenau recherchierte Szenen auch im Indikativ beschreiben, selbst wenn der Journalist nicht zugegen war:

Leider aber haben im Laufe der letzten zwanzig Jahre (…) maßgebende Spiegel-Leute die Recherche, die zum Feature führt, immer weiter vernachlässigt zugunsten dessen, was die leitenden Redakteure vor allem des Gesellschaftsressorts wie auch Mitglieder der Chefredaktion für eine großartig erzählte Story halten – und haben wollten.

In verschiedenen Redaktionen – nicht nur beim „Spiegel“ – seien in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren „merkwürdige Vorstellungen darüber aufgeblüht, wie die abgehoben-elegante Story gestrickt sein muss. Diese Vorstellungen erzeugten einen entsprechenden Anpassungsdruck bei jungen Leuten; sie lernten, dass die Botschaft der Geschichte mehr Gewicht habe als die Fakten.“

Viele Reporter hätten keinen scharfen Sinn mehr für das Faktische und für Authentizität. Deshalb werde er in der neuen Auflage seines Buches „noch klarer machen, dass auch das Manipulieren von Sachverhalten nicht sein darf“:

Wenn dem Publikum mit dem Gestus der Reportage Authentizität versprochen wird, muss auch authentisch erzählt werden. Wenn man nicht authentisch erzählen kann oder will, darf man keine Reportage vorgaukeln, sondern sollte ein solides Feature schreiben. „Solide“ bedeutet hier: Der Erzähler ist nicht Teil der Geschichte, sondern recherchierender Beobachter.

Im Nachhinein unzulässig

Haller hält offenbar seine eigene langjährige Lehre davon, wann Fiktionalisieren, Manipulieren, Montieren in der Reportage und im Feature erlaubt sind, nicht für das Problem. Das Problem sieht er darin, dass Journalisten die Maßstäbe verrutscht seien – aufgrund der Digitalisierung und in die Irre geführt zum Beispiel von leitenden „Spiegel“-Redakteuren.

Die Unterscheidung zwischen Feature und Reportage, die er anmahnt, erklärt nicht, warum er in seinem Buch zum Beispiel auch bei der authentisch erzählten Rennbahn-Reportage das Verschmelzen mehrerer Eddy-ähnlicher Figuren zu einem Eddy ausdrücklich empfahl. Aus heutiger Sicht, schreibt er auf nochmalige Nachfrage, halte er den Schluss des Übungstextes, wenn der Autor scheinbar noch einmal demselben Zocker begegnet, für nicht mehr zulässig. In einer neuen Auflage seines Buches werde er den Übungstext anders kommentieren.

Haller tut sich nicht leicht mit der Frage, wie Journalisten in der Reportage und verwandten Darstellungsformen sicherstellen, möglichst wahrhaftig zu berichten. Sein Lehrbuch ist keine Einladung an Möchtegern-Relotiusse, sich einfach etwas auszudenken. Aber es erlaubte – und empfahl – Reportern in einem erstaunlichen Maße Freiheiten, von denen die Leser vermutlich nichts ahnten.

98 Kommentare

  1. Diese „Doku“ des NDR riecht doch auch komisch:
    https://www.youtube.com/watch?v=FuCMRl92W3s

    Mal abgesehen davon, dass sich der Journalist selbst zum Thema macht, wer glaubt denn ernsthaft an den „Zufall“, dass er sich den winzigen Ackerstreifen ohne Hintergedanken als Anlageobjekt gekauft hat, zumal dort schon eine Pipeline verlief und die Routen für zukünftige Projekte wie Nordstream auch nicht zufällig gewählt werden?

    Es bleibt vorerst der Verdacht, dass hier eine Situation provoziert/konstruiertwurde, um die gewollte Geschichte zu erzählen.

  2. Ich verstehe ehrlich gesagt nicht so ganz wo/was das Problem ist. Wenn man mit der altmodischen Worthülse „Wahrheit“ daher kommt, suggeriert man, dass entweder bewusst „wahr“ oder „falsch“ berichtet, dass ehrlich/authentisch berichtet oder gelogen wird. Das ist mir zu einfach. Mich interessiert bei dem Thema eher das Problem der Haltung von Redaktionen. Jede/r der/die an einem Format arbeitet, bereitet sich vor und hat bereits eigene Meinungen, Gefühle, erste Fakten, kurzum: eine gewisse Haltung, das mit dem eigenen Menschen- und Weltbild verknüpft ist. Das ist es, das einem bei der Recherche und Auswahl der Fragen und Themen leitet. Darauf baut sich eine Dramaturgie/Inszenierung des Wissens, das man darstellen/kommunizieren will. Wenn ein BILD-Sackgesicht glaubt, dass alle Linken Randalierer sind, die das Eigentum abschaffen wollen, dann sucht sich die entsprechende BILD-Redaktion vermeintlich Linke, die Aussagen von sich geben, die das genau oder irgendwie abbilden. Für mich als irgendwie halbwegs aufgeklärter Leser heißt das, die BILD nicht zu lesen, da ich doch weiß, dass bei der BILD eine völlig mir entgegenstehende Haltung propagiert wird.

  3. Ich verstehe nicht, wie man nicht verstehen kann, was daran das Problem ist. Wenn ich die Beschreibung eines konkreten Menschen in einem Artikel lese, gehe ich davon aus, dass es diesen Menschen gibt und dass der so ist, wie es da steht und nicht aus mehreren Figuren, die so ähnlich sind, zusammengesetzt wurde.

    Dass das Einhalten solcher Regeln noch nicht dazu führt, dass das Ergebnis der „Wahrheit“ entspricht, weil es so viele andere subjektive Auswahlprozesse bei einer Reportage gibt, steht außer Frage. Aber das macht diese Regeln ja noch nicht sinnlos.

  4. „Der Autor ist völlig unerfahren,..“
    und nimmt sich dann mal kurz etwas Zeit zur Recherche.

    Daran dürfte das Geschäft hauptsächlich kranken.

    Heute über Wetten, morgen über Nahrungsmittelunverträglichkeiten und nebenbei noch etwas zu Schadstoffen…

    Ich finde das jetzt nicht besonders erstaunlich. Wer kennt sich schon überall aus und kann gleichzeitig seinen Brötchengeber zufriedenstellen.

    Hier geht es ja gewiss nicht um Fachjournalisten, sondern um „rasende Reporter“, die irgendetwas aufgreifen und verwursten. Es wird sich doch wohl keiner (also weder Journalist, noch Rezipient) einbilden, daß eine schnelle Reportage mehr als ein Abbilden eines Eindruckes sein kann.

    Leider geben die Formate meist nicht mehr her.

    Es fehlt der „Rückkanal“, der die Anregung (als solche lese ich solche Dinge) ausbauen, vervollständigen oder ggf. richtig(er)stellen kann.

    Schriebe also der Journalist eine Reportage oder einen Artikel so, daß er ganz klar sagt, wie lange und mit wie vielen und welchen Quellen er sich beschäftigte und daß er sich über Ergänzungen und andere Sichten freuen würde, wäre es wohl plötzlich eine ganz andere Situation.

    Sieht der Leser die Reportage als eine Sicht, die nicht die einzige sein muß, ist es ebenfalls entspannter.

    Beide sollten lernen – Journalisten und Rezipienten.

  5. Natürlich. Interview-Partner zu erfinden und Fakten zu verbiegen ist und bleibt schei*e, aber ich persönlich sehe im nur Handwerklichen eben nicht die Komplexität und Schwierigkeit des Problems, denn das könnte man ja ganz einfach mit Überforderung und Ressourcenknappheit der Journalisten erklären und dadurch verhindern, indem man den Redaktionen vorschreibt nur noch die Transkriptionen der Interviews zu veröffentlichen, zack fertig. Aber ich sehe da eben eher ein anderes Problem, das weniger mit einer bloßen „Wahrheit“ zu tun hat.

  6. Orrr. Dieser Artikel versucht nicht, die gesamte Komplexität des Problems zu behandeln. Er behandelt einen einzelnen, winzigen Aspekt. Den ich interessant finde, weil es hier eben nicht um Abkürzungen bei der täglichen Arbeit geht, sondern darum, was – zumindest nach einem Lehrbuch – an Manipulationen ausdrücklich erlaubt und sogar erwünscht gewesen sein soll.

  7. Zwei Eddys der Anschaulichkeit halber zu einem zu machen, mag noch vertretbar sein, sofern die Zitate echt sind: „Eddy“ ist dann weniger ein Individuum als ein Typus. Eine Person samt Zitaten zu erfinden, um einen Stichwortgeber zu haben, geht aber nicht mehr – die Rechtfertigung, man wisse ja, dass es Personen wie die erfundene tatsächlich gibt, öffnet der Methode Relotius Tür und Tor.

    Bestimmt gibt es in den USA Leute, die Sachen sagen, wie Relotius sie den Einwohnern von Fergus Falls in den Mund gelegt hat. Wäre dieses Vorgehen Haller zufolge dann korrekt?

    Davon ab: Joseph Roths Reportagen aus der jungen Sowjetunion (nach Lenin, vor Stalin) sind ein grandioses Stück journalistischer Zeitgeschichte. Kann ich wärmstens empfehlen: https://www.chbeck.de/roth-reisen-ukraine-russland/product/14295335

  8. Off-Topic, aber wenn man 1987 für zwei Wochen Zustellung 650 Euro verdienen konnte, dann stimmen mich die heutigen Gehälter (in diesem Bereich) noch trauriger.

  9. Wer nichts erlebt oder zumindest nicht das Gewünschte, soll auch keine Reportage darüber schreiben. Vielleicht tut‘s ja in diesem Fall Belletristik.

  10. @Stefan Niggemeier: Vielen Dank für den Fund. @Kritischer Kritiker, #7: Nein, geht nicht, finde ich. Es sei denn, man schreibt es drauf , so á la „Kann Produktplatzierung enthalten“, „Enthält gestalterische Ausschöpfungen der angetroffenen Verhältnisse“ ;-)

  11. @ KriMeKri (#12):

    Stimmt schon. Mit „noch vertretbar“ meinte ich auch nicht „sollte man so machen“. Eher: „Das allein ist kein Skandal“. Am Beispiel sauberer (und lustiger) wäre es, von „Eddy 1“, „Eddy 2“, etc. zu sprechen und all die vermeintlich todsicheren Tipps ihrer Widersprüchlichkeit zu überführen. Dann wäre es klar, dass man keine Person porträtiert, sondern den Typus „Rennbahnzocker“ in seinem ganzen, halbseidenen Glanz.

  12. @Kritischer Kritiker, #13: Da sind wir dann einer Meinung. Und man sollte es wirklich nicht so machen.

  13. Ich kenne die Motive von Stefan Niggemeier nicht, die ihn zu dieser entstellenden Darstellung des Lehrbuchs „Reportage“ veranlassen. Die Entstellung ergibt sich daraus, dass er die zahlreichen Hinweise und Anleitungen des Lehrbuches, wahrhaftig zu schreiben, unterschlägt. Ein ganzes Kapitel („Die Materialbeschaffung“) beschreibt diese Aufgabe, ein weiteres („Bei den Sachen und in der Sprache bleiben“) die angemessene sprachliche Umsetzung. Zur Wahrhaftigkeit gehören Faktentreue und Authentizität. Aber dies genügt nicht. Es geht auch darum, dass der vom Reporter gewählte und erzählte Wirklichkeitsausschnitt die von ihm durchschauten Verhältnisse zeigt – und er nicht sein Vorurteil oder die Erwartungen der Redaktion oder des Auftraggebers bedient. Diese drei Erfordernisse zu erfüllen, macht die hohe Kunst der Reportage aus. Und genau dies zu zeigen war und ist das Anliegen dieses Lehrbuchs.
    Das von Herrn Niggemeier hier ausgebreitete Problem ist gewiss ernst zu nehmen, doch sollte man hier die Fahne etwas tiefer hängen (die Fake-Geschichten von Relotius gehören ohnehin in eine andere Welt). Hier geht es um ein – jedem erfahrenen, recherchefreudigen Reporter vertrautes – handwerkliches Problem: Manchmal muss der Journalist am Ort des Geschehens so lange mit Leuten (Passanten, Beteiligte, Akteure, Betroffene) sprechen, bis er verstanden hat, nicht nur, was hier abgeht, sondern auch, was die Leute bewegt und was sie antreibt. Aus der Fülle des Materials wählt er nach seinem Ermessen den (oder die) „geeigneten“ Protagonisten aus, der (die) dann in seiner Geschichte agiert (agieren); auch dies gehört seit je zur Gestaltungsfreiheit des Reporters.Nun gibt es zudem Situationen, in denen er keinen Akteur, sondern typische Verhaltensmuster zeigen will. Er wäre schlecht beraten, dafür die zehn Leute im Text auftreten zu lassen, die er kennengelernt und an denen er das Typische (Muster „Eddy“) erkannt hat. Übrig bleibt also die handwerkliche Frage, wie der Reporter solch typisierende Passagen, die dem Feature entlehnt sind, formuliert. Nur um diesen Punkt geht es hier, und darin waren die Journalisten wie auch die Erzähltheoretiker vor dreißig, vierzig Jahren souveräner als man es heute ist oder zu sein vorgibt.
    Wie gesagt: Entscheidend war und ist, dass der Reporter wahrhaftig erzählt, also keine Fakten erfindet, keine Authentizität vortäuscht, keine Protagonisten (Individuen!) phantasiert und keine vorgefasste Ansicht oder Meinung („Küchenzuruf“) bestätigt. Und ja, der fragliche Übungstext ging im letzten Absatz zu weit, weil der Verfasser mit seinen letzten drei Sätzen den Anschein des Authentischen erweckte. Angesichts der sich ausweitenden Unsicherheit darüber, wo die Grenze zu ziehen ist, werde ich in der nächsten Auflage die No-go-Linie anhand dieses Schlussabsatzes im Übungstext unmissverständlich definieren.
    Ich habe dies alles Herrn Niggemeier auf sein Bitten hin schriftlich darzulegen mich bemüht. Dies scheint mir – wenn ich seinen Text lese – offenbar nicht gelungen zu sein. Darum wurde dieser Kommentar jetzt etwas länger.

  14. @Michael Haller, #17: Trotz langem Kommentar ist Ihnen auch mir gegenüber (noch) keine Erkärung gelungen, warum man in der Reportage schlecht beraten ist, bei der Realität zu bleiben und gut, wenn man (ver)dichtet.

    Nur eine von vielen Fragen: Mit „letzten drei Sätzen“ den „Anschein des Authentischen“ wecken? Ist das ein Lehrbuch für Reportagen, die in Medien erscheinen sollen, die keinen Anspruch auf Faktentreue haben? Ist die Reportage grds. nicht ganz real? Sondern eine Optimierung der Realität?

    Müssen Sie sich vielleicht nicht doch noch weitere Gedanken als über den Schlussabsatz machen? Der Hinweis auf all die anderen Kapitel kommt mir bei der klar positiven Bewertung einer konkreten Manipulation ein bisschen vor, wie ein Hinweis von Facebook auf seine Datenschutzwerte. Öffnet man hier nicht die Tür für das, was jetzt mit dem Namen Relotius verbunden ist? Oder scheucht man den Nachwuchs sogar in das Tor hinein?

    Ich empfinde Übermedien und Stefan Niggemeier häufig als un- und selbstgerecht, dies Stück bislang aber ehrlich gesagt nicht ..

  15. @Michael Haller: Wir können statt über den falschen „Eddy“ auch über Ihren „Spiegel“-Artikel über den Jungen reden, der aus seinem Kinderzimmer gar nicht mehr rauskommt, seit er einen Computer hat. Sie sagen in Ihrem Buch, dass das eine Figur ist, die Sie aus vielen verschiedenen Personen, die Sie recherchiert haben, destilliert haben. Ein „Typ“, kein individueller Charakter.

    Aber die Beschreibung ist voller Details über diesen Jungen, wo er lebt, was sein Vater macht, wer mit wem was redet. Ich glaube gern, dass es diese Art Typen damals gab; dass die Beschreibung insofern der Realität entsprach. Ich halte es aber für absolut unzulässig, eine solche Person so individuell zu beschreiben, wenn es diese eine Person mit all diesen beschriebenen Details nicht gab. Ich bin verblüfft, dass das im „Spiegel“ damals okay war (und hoffe sehr, dass das nicht mehr so ist). Und ich bin sicher, dass die meisten Leser damals angenommen haben, dass es diesen einen Jungen mit all diesen Details genau so gab; sie hatten jedenfalls allen Grund dazu.

    Dasselbe gilt für „Eddy“. Der Autor erweckt nicht erst im letzten Absatz den Anschein des Authentischen. Die ganze Reportage hangelt sich an den immer neuen Begegnungen mit dieser Person entlang, die auch (kurz) äußerlich charakterisiert wird. Wenn es diesen einen Eddy nicht gab, kann man dies meiner Meinung nach auch nicht in der Figur eines Eddy erzählen. Sie aber halten das nicht nur für zulässig, sondern empfehlen es ausdrücklich.

    (Wie würden Sie das überhaupt heute im Social-Media-Zeitalter machen? Wenn „Eddy“ oder „Holger Widmann“ sich wiedererkennen und sagen: Moment mal, die ersten 3 Beschreibungen, da erkenne ich mich wieder, aber das danach hat gar nichts mit mir zu tun? Und das dann auf Facebook mitteilt? Oder würden Sie die Namen sicherheitshalber auch erfinden? Und das ginge dann durch die Dokumentation, ohne irgendeinen Hinweis?)

    Ich habe mir Mühe gegeben, die Botschaft Ihres Buches nicht zu entstellen. Ich habe es vor dem Schreiben (noch einmal) ganz gelesen. Aber ich bin wirklich erstaunt über die Passagen, mit denen ich mich oben auseinandersetze. Und ich bin enttäuscht, dass Sie so gar keine Verantwortung bei sich selbst sehen, sondern nur bei anderen. Sie formulieren: „Angesichts der sich ausweitenden Unsicherheit darüber, wo die Grenze zu ziehen ist …“. Meinen Sie nicht, dass Sie einen Beitrag zur Ausweitung der Unsicherheit geleistet haben?

    Sie schreiben, Journalisten waren vor 30, 40 Jahren „souveräner“ als heute. Könnte es sein, dass das daran lag, dass Journalisten das Publikum und die Reaktionen der von ihnen Beschriebenen damals leichter ausblenden konnten? Und dass diese Art von Souveränität gar nicht unbedingt etwas Positives ist?

  16. Es ist richtig und wichtig, solche Hintergründe auch aus der Ausbildung von Journalisten offen zu legen. Für mich als Fachfremden und Nur-Leser von journalistischem Output sind sie neu und beinahe schockierend, viel mehr als ein Einzelfall Relotius (schwarze Schafe gibt es in jeder Branche, dort ist für mich die Frage eher, weshalb er so lange unentdeckt blieb). Das muss man erst einmal verdauen. Bin in der Sache auch ganz bei Herrn Niggemeier, dass man einen „Eddy“ oder „Holger Widmann“ nicht konstruieren darf, das entspricht jedenfalls in keiner Weise meinem Erwartungshorizont als Leser einer journalistischen Reportage. Das war auch vor 25 Jahren nicht anders. Dafür gibt es in der Tat die Belletristik, wem die Botschaft wichtiger ist als die Fakten, mag sich deren Genres zuwenden.

  17. Eddy ist heute bei Facebook und hat eine Stimme und kann sich Gehör verschaffen. Man kann ihm nichts mehr unterschieben. Man muss ihn komplett erfinden – Relotius ist Haller für das 21. Jahrhundert, zumindest, was die Verdichtung von Quellen angeht.

    In Großbritannien und den USA ist so das Erfinden von Aussagen und das Ausschmücken von Protagonisten verpönt. Seit Jahrzehnten. Wir haben uns daran nie orientiert. Das ändert sich gerade. Ich finde das gut

  18. @Lukas #10

    Ende der 70er bekamen erwachsene Schüler als Aushilfen bei der Entladung von Kohlewaggons pro Nachtschicht 80 Mark (40 Euro). Das war damals viel Geld für einen Schüler.
    Auch wenn es einige wenige Jahre später gewesen sein soll: mir kommen die 1300 Mark für zwei Wochen Botendienst mit Moped doch sehr viel vor.

  19. Als normaler Mediennutzer, ohne jeden beruflichen Verknüpfungspunkt zum Metier, habe ich mir bis zum lesen dieses Artikel nicht einmal im Traum vorstellen können, dass in einer Reportage (reportare=melden, berichten) eine frei erfundene Figur dem Leser als Realität vorgegaukelt wird. Was unterscheidet denn dann die Reportage noch vom ‚Roman‘ ?
    Wenn die Journalisten daran festhalten wollen (wie Herr Haller) dann wären m.E. Warnhinweise a la ‚Kann fiktive Personen oder Sachverhalte enthalten‘ angebracht.

  20. Ich bin etwas hin- und hergerissen. Wenn „Eddy“ eine konkrete Person sein soll, sollten ihm nur Eigenschaften Zitate und wasauchimmer dieser Person zugeschrieben werden.
    Wenn „Eddy“ ein typisierter Dummy ist, hat er natürlich Eigenschaften mehrerer realer Menschen.
    Hätte ich erstmal kein Problem mit, wenn das irgendwie kommuniziert werden würde. „Ein typischer, aber fiktiver Rennbahnbesucher, nennen wir ihn mal Eddy, würde uns das so erklären…“

  21. Nun, wenn man es so sieht/sehen will, dann ist auch Rinaldo Rinaldini keine von Christian Vulpius frei erfundene Figur sondern aus mehreren Personen (Angelo Duco, Thomasso Rinaldini) montierte Figur. Ist dann, überspitzt gesagt, etwa ‚Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann‘ gar kein Roman, sondern eine Reportage ?
    Was ich damit sagen will: in einem Werk, das sich Reportage (= Bericht) nennt, hat eine real nicht existierende Person nichts zu suchen, es sei denn, sie ist als Fiktion kenntlich gemacht.

  22. Ich stimme dem Artikel grundsätzlich zu. Ich finde eine Kunstfigur wie Eddy aber nicht problematisch, solange der Autor das kenntlich macht. Ich finde, ein Satz wie „Eddy existiert zwar nicht, aber seine Figur ähnelt der von verschiedenen Menschen an der Rennbahn“ nicht schlimm und würde den Artikel nicht entwerten, weil es transparent darstellt, was der Autor macht.

    Ich nehme im Journalismus, verstärkt durch Relotius, eine gewisse Faulheit war. Zunächst wird die Recherche abgekürzt (ob aus finanziellen Gründen, oder weil es echt schwer ist, jemanden zu finden, oder eine Mischung aus beidem). Und dann wird diese Abkürzung unter den Teppich gekehrt. Ob man schreibt „Mr Power steht in seinem Büro und blickt auf die Skyline von New York.“ oder „Gut kann man sich vorstellen, wie Mr Power aus seinem Büro heraus den Blick über die Skyline wandern lässt.“ ist dem Leser meiner Meinung nach inhaltlich egal. Allerdings suggeriert das eine etwas, was nicht stimmt, während das andere zumindest zeigt, dass man es nicht gesehen hat. Aus meiner Sicht ist es wichtig, da nichts vorzugaukeln. Es sind beides Kunstgriffe, aber nur einer ist nah genug an der Realität.

  23. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass ernstzunehmende Journalisten fiktive Charaktere erfinden um eine Geschichte geschmeidiger schreiben zu können. Das lässt mich völlig enttäuscht und desillusioniert und mit dem Gefühl manipuliert worden zu sein zurück. Es sollte doch selbstverständlich sein, dass der Leser sicher sein will, dass das was er liest, sich so zugetragen hat wie beschrieben, einschließlich der Gespräche mit Protagonisten. Und ich komme mir schrecklich naiv vor, meine gelegentlich aufgetretene Skepsis beim Lesen eines „Dossiers“ oder ähnlichem bei Seite gewischt zu haben. Es handelte sich ja schließlich um ein renommiertes Blatt…

  24. Es ist zum Thema eigentlich schon alles gesagt – nur noch nicht von mir, dem Eddy-Erfinder.
    Mitte der 90er Jahre war ich Chefredakteur des Branchenmagazins W&V; einer der Redakteure damals war Stefan Niggemeier – frisch von der Uni in die Redaktion gekommen. Eine der journalistischen Grundregeln, die ich damals jungen Kollegen wie Niggemeier versucht habe zu vermitteln, lautete: Gib vor der Veröffentlichung eines Textes unmittelbar Betroffenen die Chance, zum Sachverhalt Stellung zu nehmen.
    Dies hat Stefan Niggemeier versäumt, so dass ich an dieser Stelle einige Bemerkungen zum Thema machen möchte:
    • Der Text ist damals (1984, ich war Volontär der Schaumburger Zeitung) als Übungstext im Rahmen eines Volontärskurses an der Akademie für Publizistik in Hamburg entstanden.
    • Der Text ist nur im hier diskutierten Lehrbuch veröffentlicht worden.
    • Ich habe meinen erzählerischen Kniff, die Erfindung der Figur ‚Eddy‘, sowohl dem Dozenten Haller wie auch den anderen Volontären von Anfang an transparent gemacht, um eine Diskussion darüber anzustoßen.
    • Michael Haller hat damals (in der Diskussion im Kurs) wie heute (#17) die mögliche Anwendung dieses Kniffs sehr eng eingegrenzt. Er hat – oben nachzulesen – außerdem angekündigt, in der nächsten Auflage des Reportage-Buchs die No-go-Linien noch präziser zu definieren. Ihm jetzt gleichsam die Schuld am Treiben von Kummer, Relotius und Co. zu geben, finde ich ebenso falsch wie selbstgerecht.
    Warum diese vielleicht etwas längliche Erläuterung? Eigentlich bin ich altersmilde genug, um solche Echokammer-Diskussionen wie die hier vorliegende distanziert und manchmal sogar amüsiert zur Kenntnis zu nehmen – und sofort wieder zu vergessen.
    Doch in diesem Fall ärgert mich zweierlei:
    • Niggemeier hat – wie gesagt – keinerlei Anstalten unternommen, mich zum Thema zu befragen.
    • Er nennt meinen Namen als Verfassers des Eddy-Textes – unnötigerweise: Was tut der Name eines seinerzeit jungen Volontärs zur Sache? Ärgerlich vor allem aber, dass er durch den expliziten Hinweis auf meine aktuelle Tätigkeit – „leitet heute die Leipzig School of Media“ – insinuiert, dass da heute eine ungeeignete Person für die Weiterbildung junger Journalisten verantwortlich ist.
    Bin ich überempfindlich? Ein Social-Media-Profi wie Stefan Niggemeier müsste eigentlich wissen, dass spätestens in der dritten Viralitätsstufe dieser Nachricht die Headline lautet: ‚Der Leiter der Leipzig School of Media hat schon 1985 geschummelt wie Relotius.‘

  25. @19. Stefan Niggemeier: Ich beharre auf dem Unterschied zwischen einer Reportage, die authentisch die Erlebnisse des Reporters erzählt, und dem Feature, das Strukturen anschaulich macht, quasi „in Szene setzt“. Und mich betrübt, dass Sie hier die Dinge gewollt durcheinandermixen (den Effekt kann man etwa bei 26. Rinaldini nachlesen).
    Sie erwähnen jetzt auch den im Lehrbuch angeführten Beispieltext aus der Serie „Traum vom perfekten Sklaven.“ Anders, als Sie Glauben machen, habe ich dieses Beispiel keineswegs für das Reportageschreiben, sondern ausdrücklich als „Gegenüberstellung“ (5. Auflage, S. 88) zur Reportage für das recherchierte Feature benutzt, wie man auf S. 90 unzweideutig lesen kann. Hier wird keine Authentizität erzeugt oder beansprucht. Nebenbei: Natürlich gab es den Fall des so genannten Holger Widmann, aber auch weitere typische Fälle, die hierzu recherchiert und zusammengezogen wurden. Heute würde man (und ich finde das gut so) zum Namen die Zusatzbemerkung anfügen: „Nennen wir ihn Holger Widmann“, um den Status klar zu legen (im Sinne von 27.Jakob Eich)
    Ihre Vorhaltungen wirken auf mich moralisch und zeigefingermäßig, auch ein bisschen oberschau. Das Buch wurde in vielen Hundert Lehrveranstaltungen eingesetzt, auch, um die Grenzverläufe in der Beschreibung zwischen recherchierten Sachverhalten, beobachteten Milieus und subjektiv zu schildernden Erlebnissen diskutieren zu können. Wir reden hier über Übungstexte, deren Entstehungsgeschichten im Buch dokumentiert und offengelegt sind – und über die man auch anderer Ansicht sein darf als ich. Und so wurde (und wird) das Buch weithin verstanden und genutzt. Ich zähle Sie zu den Ausnahmen, die diskussionslos anzuwendende Rezepte verlangen.
    Und darum irritiert mich noch etwas anders: Ihre Kritik meines Lehrbuches entspricht einer Haltung, die mir wie die eines Schreibpolizisten vorkommt, der „links abbiegen verboten“ schreit. Für die journalistische Kunstform der Reportage gibt es keine Schreibverkehrsordnung, vielmehr Handwerk, Erfahrung, Stilsicherheit und Verantwortungsgefühl.
    Journalismus findet in der Gesellschaft statt. Und für diesen Zusammenhang hilft Ihnen vielleicht ein tieferer Blick in die Geschichte der großen Reportagen – von Charles Dickens, Emile Zola, Upton Sinclair, Nellie Cochran alias Bly, Max Winter, Ida Tarbell, Joseph Roth, Egon Erwin Kisch und so weiter – um zu erkennen, dass die Gültigkeit nicht von ein oder zwei Eddy-Typen abhängt, sondern von der Tiefenschärfe des Bildes, das die Reportage erzeugt. Ihre Mittel ändern sich, die Kriterien ebenfalls. Nur ihr Anspruch der Wahrhaftigkeit, der bleibt derselbe.

  26. @Michael Haller: Ich habe keineswegs Glauben gemacht, dass Sie Ihren Computer-Text als „Reportage“ bezeichnen. Im Gegenteil, ich habe ihn ausdrücklich als Beispiel für ein „Feature“ in die Diskussion eingeführt, für das Ihrer Meinung nach andere Regeln gelten.

    Und Sie können ja gerne auf dem Unterschied zwischen einer Reportage und einem Feature „beharren“. Das hilft aber nichts, wenn der Leser beides nicht unterscheiden kann. Und ich würde behaupten: Auch keine Chance hat, es zu unterscheiden, wenn sich ein Feature so liest wie Ihr Beispieltext. Sie beschreiben diesen „Holger Widmann“ in größter Detailfreude und authentisch. Nichts macht meiner Meinung nach für den Leser erkennbar, dass der nur ein „Typ“ ist und man nicht davon ausgehen soll, dass es dieses Individuum mit genau seinen beschriebenen Lebensumständen so nicht unbedingt gibt.

    Aber anscheinend bewerten Sie ja beide Beispiele inzwischen anders als noch in Ihrem Buch. Da müssten Sie mir gar nicht vorwerfen, ich hätte ihre Lehre bösartig entstellt.

  27. Ich habe bei Haller in Hamburg studiert. Und zum Glück aber nie dieses Lehrbuch gelesen. In meiner Zeit als Reporter war es für mich das Äußerste, wenn ich mal ein (1) Zitat einer anderen Figur einer bereits eingeführten in den Mund gelegt habe – aus Verständlichkeitsgründen. Dass dieses Mergen von Figuren und Erfinden nun sogar offensichtlich im Lehrbuch stand und steht, macht mich sprachlos und wirklich wütend. Dass der (echt nette) Haller sich jetzt auch noch verteidigt… Offensichtlich arbeitet der deutsche Journalismus auf einer ethischen Plattform, die sich vom angelsächsischen völlig entkoppelt hat. Und vom gesunden Menschenverstand. Welch eine Schande!

  28. @31 Stefan Niggemeier: Nun, ich lese in Ihrem Kommentar Nr. 19, auf den ich mich explizit beziehe, weder das Wort „Feature“ noch einen Hinweis auf die damit verbundene andere Machart (die man ja nicht lieben muss). Und auch dies: Es trifft nicht zu, dass die von Ihnen zusätzlich angeführte Spiegel-Geschichte die darin genannte Figur als Protagonisten schilderte. Meiner Einschätzung nach versteht auch der ungeschulte Leser diesen Text nicht als erlebte Geschichte eines Protagonisten, d. h. nicht als Reportage. Aber lesen Sie, wie es Ihnen gefällt.
    Ich verabschiede mich aus der Debatte, sie führt nicht weiter zu den Problemen des Handwerks, sondern wird spitzfindig.

  29. @31 Haller: „Meiner Einschätzung nach versteht auch der ungeschulte Leser diesen Text nicht als erlebte Geschichte eines Protagonisten, d. h. nicht als Reportage.“
    Lieber Herr Haller, rufe ich in die Leere: Wie Bitteschön soll denn das gehen? Da werden Figuren geschaffen, mit Namen und Attributen und der Leser soll es hinnehmen, gar erkennen, dass dies einfach erzählerische Kunstfiguren sind?

  30. @34 ein Nachklapp an den lieben Herrn Grauel: Vielleicht lesen Sie erst mal das Buch (5. Auflage), bevor Sie sich ein Urteil bilden und es verbreiten – apropos angelsächsischer Journalismus (#32).

  31. Übrigens: Ulrich Tückmantel, Chefredakteur der „Westdeutschen Zeitung“, wirft mir vor, dass ich die Eddy-Sache bei ihm geklaut hätte. In einem Artikel, den er vor einem Monat anlässlich des Relotius-Skandals über „die Wahrheit“ und den Journalismus schrieb, ging er auch auf diese Passagen aus Hallers Buch ein, und fügte hinzu:

    „Um es klar zu sagen: Nach den Maßstäben unserer Zeitung ist das weder zulässig noch richtig, sondern eine grobe Fälschung, die wir niemals dulden werden.“

    Ich kannte seinen Text bis gerade nicht, sondern bin über die Facebookseite eines ehemaligen Leipziger Journalistik-Studenten auf die Passagen in Hallers Buch und die Diskussion darüber aufmerksam geworden. (Der Kollege wollte aber nicht genannt oder verlinkt werden.) Tückmantel hält das für unwahrscheinlich.

    (Bonuspointe: Ich kann nicht von meinem eigenen Account mit Tückmantel darüber diskutieren, weil er mich geblockt hat.)

  32. Auch wenn ich den kompletten Artikel noch nicht lesen kann, bedanke ich mich dafür bei Herrn Niggemeier und Übermedien, denn allein die Diskussion hat für mich einen sehr hohen Erkenntniswert.

    Vielleicht liegt es ja an meinem Bildungsgrad, aber mir war bislang nicht bewusst, dass jenseits des Boulevards überhaupt die Möglichkeit besteht, in journalistischen Texten mehr oder minder fiktiven oder zumindest aus mehreren realen Personen kontruierten Figuren zu begegnen.

    Ich muss auch gestehen, dass ich hinter der von Herrn Haller hier angeführten (und von mir in Artikeln bereits gelesenen) Formulierung „Nennen wir ihn Holger Widmann“, niemals einen Hinweis darauf vermutet hätte, dass es sich nicht um eine einzelne real existierende Person handelt, sondern um ein Konstrukt.
    Vielmehr hätte ich dies als Anonymisierung einer realen Person verstanden.

    Ironischerweise habe ich eine solche Formulierung selbst schon genutzt, um die Anonymisierung einer Person kenntlich zu machen, was wohl auch daran liegt, dass ich niemals auf die Idee gekommen wäre, dass Journalisten solche Kunstgriffe verwenden, die dann so gekennzeichnet werden (können).

    Als Medienkonsument finde ich es erschreckend, dass ich jetzt erst das Wissen an die Hand bekomme, Reportagen und Features umfassender einordnen zu können. Als quer eingestiegener Schreiberling, der in den letzten sieben Jahren rund 80 Features und 20 Reportagen zu einem Teilbereich der Kulturszene verfasst hat, bin ich hingegen fast schon froh, nicht gewusst zu haben, dass solche Kunstgriffe verwendet werden, weil ich als ungelernter Schreiberling quasi immitiere, was ich in meinem Leben so an journalistischen Texten konsumiert habe. Unwissenheit als Garant für realitätsgetreue Abbildungen in Features und Reportagen – ich bin mir gerade noch nicht ganz einig, ob ich das komisch oder traurig finde.

    Drei Fragen bewegen mich zu diesem Thema:

    Wenn man z.B. zur Beschreibung bestimmter Milieus Personen fusioniert, um bestimmte bezeichnende Eigenarten, Verhaltensweisen oder Umstände zu veranschaulichen, läuft man dann nicht Gefahr Stereotype zu konstruieren oder zu transportieren?

    Steigt bei diesen Kunstgriffen, die der besseren Lesbarkeit oder dem besseren Verständnis dienen sollen, nicht unweigerlich die Gefahr, Texte darüber hinaus zu frisieren, sei es, um diese interessanter oder die konstruierte Person bezeichnender für das beschriebene Milieu zu gestalten?

    Wichtiger für mich jedoch: Wie hoch ist der Anteil dieser Kunstgriffe in den journalistischen Texten, die ich täglich so konsumiere?

  33. Sehr interessanter Artikel mit ebenfalls erkenntnisreicher Anschlussdiskussion.

    Als Lustigstes bleibt mir jedoch der Kommentar von Ralf Grauel (32) in Erinnerung. Sinngemäß: Ich habe genau das Gleiche gemacht, aber das das sogar so unterrichtet wurde, lässt mich sprachlos zurück. Und daß der Kritisierte die Frechheit besitzt, seine Ansichten zu erklären, kann man wohl nur als Entkopplung vom gesunden Menschenverstand betrachten.

  34. Ich reihe mich ein in die Kommentare der Branchenfremden, die einigermaßen entsetzt darüber sind, dass solche Praktiken erstens anscheinend für zulässig und normal gehalten werden (oder wurden) und über die Chuzpe, mit denen dieses Vorgehen von Haller et al. noch verteidigt wird. Ich würde mir wünschen, dass unser Entsetzen vielleicht Denkprozesse anstößt, bezweifle dies aber, wenn das Verfassen von journalistischen Texten als Kunst im eigentlichen Sinne angesehen wird, bei dem der Leser ruhig ein bisschen verarscht werden darf, solange der Text dadurch runder und gefälliger wird. Ja, nichts anderes ist die Erfindung von Protagonisten, die als singulärer Charakter in vermeintlich journalistischen Texten eingeführt werden.

    Vielen Dank an Stefan Niggemeier, diese Diskussion hier angestoßen zu haben!

  35. Noch nie vorher gehört, dass man sich in einem journalistischen Feature seine Protagonisten (die auch noch wörtlich zitiert werden) zusammenbasteln darf, aber in einer Reportage nicht.

  36. Beruhigend ist, dass wenigstens EIN Journalistik-Student auf diese Passagen angemessen reagiert hat und diesen Artikel ermöglichte.
    Danke dafür Ihnen beiden.

  37. Danke Stefan, dass du dem Thema nachgegangen bist.

    Als Alumnus der Leipziger Journalistik finde ich es überfällig, dass das nochmal diskutiert wird – zumal meine KommilitonInnen und ich inzwischen selbst einige Jahre Berufserfahrung hinter uns haben. Vielen von uns hat schon damals nicht eingeleuchtet, warum JournalistInnen nicht einfach das erzählen sollten, was /ist/ und auch von Außenstehenden nachprüfbar ist, sondern erzählen durften, was sein /könnte/, bzw. plausibel oder typisch ist.

    Einiges könnte man auch mit Transparenzhinweisen klären: „Holger Widmann gibt es nicht wirklich, aber es gibt viele junge Männer wie ihn.“ Wobei man dann sofort die Frage stellen müsste, warum Widmann dann in so vielen nebensächlichen Details beschrieben wird.

    Ich würde heute niemandem, die ich beauftrage, sagen, er/sie könne Personen zusammenmontieren. Sondern: Wenn die Person schon so viel recherchiert habe, müsse ihr doch eine echte Person begegnet sein, die besonders typisch ist, die als ProtragonistIn verwendet werden könne – und an ihr auch herausgearbeitet werden könne, was genau typisch ist und was nicht.

    Auch die Distanzierung zu Relotius leuchtet mir nicht ganz ein. Relotius hat einen Monat in Fergus Falls verbracht, dass er dann einen Bürgermeister erfindet, der nie mit einer Frau zusammen war und nie am Meer war, könnte ja eine Montur aus mehreren Personen sein, denen er begegnete und aus denen er eine für Fergus Falls „typische“ Beschreibung erstellte. Wäre in dem Fall das Problem, dass er den Mann unkenntlich gemacht hat, sondern ihm einen echten Namen und ein prominentes Amt gegeben hat?

    Auch ein syrisches Flüchtlingskind, das in der Türkei Kinderarbeit verrichtet, ist ja im Rahmen des Plausiblen. Darum geht es ja die ganze Zeit bei Relotius, dass er die Verhältnisse „gestalterisch ausgeschöpft“ hat, dabei aber die nicht operationalisierbare Grenze zwischen „ausschöpfen“ und „entstellen“ offenbar überschritten hat.

    Für eineN LeserIn ist die Unterscheidung in jedem Fall nicht nachvollziehbar, die haben ja nicht Einblick in wieviel Material im Hintergrund eines Artikels noch beschafft wurde und was wirklich plausibel und typisch ist und was einfach nur die Bestätigung des Vorurteils des Reporters ist.

    Wenn es um intersubjektiv nachprüfbare Fakten ginge, könnte man sich über die Deutung und Einordnung streiten, so eben nicht.

  38. Vielleicht ist da auch ein Missverständnis involviert:
    Wahrhaftigkeit vs. Wahrheit…?!
    Bei der Überlegung das jemand automtisch denkt eine wahrhaftige Story
    sei eine wahrheitsgemässe!
    Und zieht man dannn entsprechende Mischformen in Betracht,wird es interessant…
    Da( mindenstens ) ein Diskutant ein Lehrbuch geschrieben hat und Inhalte gelehrt hat,gilt das alte deutsche Reinheitsgebot:
    1.Der Lehrer hat immer RECHT.Punkt.
    2.Ist das mal nicht der Fall,tritt das 1. Gebot in Kraft!

  39. @23 & 24

    Auch eine montierte Person ist für mich (als Konsument, der nicht in einer journalistischen Echokammer lebt) eine frei erfundene. Denn eine konkrete Person setzt sich eben aus seinen einzelnen Eigenschaften und Lebensumständen zusammen.

    Durch das Mittel der Montage begibt man sich für mich schon in Richtung Framing. Um beim Beispiel des computeraffinen Jugendlichen zu bleiben:

    Durch Verschmelzung der Lebensumstände einzelner Jugendlicher soll beim Leser ja ein bestimmtes Bild geformt oder (ein Vorurteil) bedient werden. Und selbst wenn es nicht gewollt ist, wird es in zumindest Kauf genommen.

    PS Wie so einige meiner Mitkommentatoren bin ich dankbar für diesen Text und erschüttert über die „erlaubten Stilmittel“ im Journalismus. Feature, Reportage … ich lese eine journalistische Schrift und gehe von der Authentizität der enthaltenden Personen aus – es sei denn, es wird im Text deutlich darauf hingewiesen, dass dem nicht so ist.

  40. Das, was Michael Geffken in #29 kommentiert, sollte m.E. schon aus Gründen der Höflichkeit (und zur Orientierung der Leser hier) vom Blogbetreiber beantwortet werden. Mich hat der Hinweis auf Geffken und seine derzeitige Tätigkeit beim ersten Lesen auch etwas irritiert.

    Ich habe in den 80er Jahren einen Reportagekurs bei Michael Haller besucht und viel gelernt, dafür bin noch heute dankbar. Das, was hier in diesem Thread nun diskutiert wird, die „Montage“ von Protagonisten, hat damals für uns Volontäre und Jung-Redakteure keine bedeutende Rolle gespielt. Kann sein, dass wir das Thema mal gestreift haben, aber es war nicht maßgeblich – weil Michael Haller uns beigebracht hat, wie wir am besten das zu Papier bringen können, was wir wirklich erlebt haben.
    Ich schreibe das auch deswegen, weil ich den Eindruck habe, hier könnte der Ruf eines Menschen ramponiert werden. Es ist ja nicht unbedingt falsch, was Stefan Niggemeier schreibt, aber es wirkt leider auch etwas (bemüht) skandalisierend.

  41. Ich habe jetzt 24 Stunden mitgelesen und mich bemüht, die Sache als einen Streit zu betrachten, der dem Austausch von Argumenten zugänglich ist. Mir hilft das manchmal. Argument eins würde dann die Haller-These stützen, in Features ließen sich Figuren montieren, Argument zwei widerspräche. So einfach ist es ja oft. Nur hier, wie ich finde, ist es noch einfacher: Es gibt schlicht keinen Spielraum für Streit. Wer glaubt, seinem Leser in einem Feature Figuren vorsetzen zu können, die in Ihrer Detailgenauigkeit Authentizität versprechen und die dann doch nur Destillate des Erlebten sind, dem ist nicht zu helfen. Erst recht nicht, wenn er es – wie geschehen – nicht erwähnt. Ich kann nicht anders, als darin ein so erschreckendes Maß an Selbstgefälligkeit zu entdecken, dass es mich gruselt. (Über die Frage, ob in Reportagen genauso vorgegangen werden könne, fange ich nicht mal an nachzudenken). Meine Fresse, wirklich, es ist auch so unendlich fantasielos zu behaupten, es ließen sich keine Darstellungsformen finden, die Vielstimmigkeit auch ein einem Feature zuließen. Um mal Niggemeier zu zitieren: Orrrr!

  42. Vielen Dank für den Artikel! Ich habe mich schon sehr oft beim Lesen von Spiegel-Artikeln (bei denen ich mich als Konsument nicht damit auseinandergesetzt habe, ob ich eine Reportage oder Feature lese und welche unterschiedlichen Regeln dann evtl. angewendet werden) gewundert, woher die Autoren denn wohl Kenntnis der geschilderten Einzelheiten haben wollen, wenn z.B. Details von Szenen geschildert werden, bei denen sie nicht anwesend waren und die viel zu nebensächlich sind, als dass ein Dritter ihnen davon berichten würde (z.B. Auschmückungen des Spiels von Blicken und Gesten). Nun wird mir einiges klar.

    Hallers Vorwurf der Spitzfindigkeit trifft ihn selbst. Ich als jemand, der nicht in den handwerklichen Details journalistischer Formate bewandert ist, sondern beim Lesen einfach nur Realität erfassen möchte, finde es äußert spitzfindig, wie er zu relativieren versucht, dass er das Verfälschen von Realität legitimiert hat. Ich glaube, ich spreche für die überwältigende Mehrheit der Leser, wenn ich fordere, dass es im Grunde nur zwei strikt getrennte Kategorien von Texten geben darf: Fakten und Fiktion.

  43. Mich überrascht weder dieses, noch das so etwas wie beim Spiegel passiert ist.

    Die „Leute abholen“ ist eigentlich Konsens in der gesamten Medienbranche. Bücher, Filme, Spiele, Journalismus. Im Kapitalismus muss es finanziell tragbar sein. Und Fakten sind halt oft genug schlichtweg langweilig für den größten Teil der Planetenbewohner und müssen (eigentlich nicht, ist eben historisch so gewachsen) erst bearbeitet werden um Akzeptanz zu finden und dadurch Geld zu generieren. Und diese Bearbeitung hat über die Zeit viel zu viele Freiräume geschaffen.

    Die Debatte hat mich recht kalt gelassen. Die Medien-Welt funktioniert eben so. Wenn auch immer man sich mit Themen besonders gut auskennt und diese dann in der Tagespresse wiederfindet, ist es zum verzweifeln wie dilettantisch oder schlichtweg falsch und gleichzeitig unnötig emotional darüber berichtet wird.

    Das ist halt die Welt die geschaffen wurde, aber eben nicht ausschließlich auf journalistische Inhalte beschränkt, sonder auf die gesamte Medienwelt. Es muss immer passen. Es ist immer auch Unterhaltung. Und es ist immer eine Frage des Erfolges. Und genau deswegen sind solche Dinge auch in vielen Lehrtexten vertreten, sobald es darum geht wie man überhaupt Menschen erreicht.

    Ich glaube auch ehrlich gesagt nicht, dass sich dies grundsätzlich ändern wird, da die Leute einfach prinzipiell überfordert sind mit unbegrenztem Zugang zu Informationen und der größte Teil der Presse in Deutschland komplett überfordert mit dem richtigen bereitstellen von Informationen. Nicht zuletzt, weil so ziemlich alle großen Medienhäuser den Umstieg zum Digitalen komplett verbaselt haben und dadurch kaum Integrität besitzen.

  44. Es gibt Literarisches, in dem Fiktives geschildert wird, und es gibt Journalistisches, in dem Reales geschildert wird. Eine solche völlige Trennung beider Bereiche kann aber nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Dass es literarische und eben auch journalistische Genres gibt, die sich in einem Graubereich zw. beiden Polen bewegen – meinetwegen das Feature – kann nicht so falsch sein. Reales kompakt und mit erzählerischen Mitteln so darzustellen, personifiziert an einer archetypischen Figur wie dem Holger oben, finde ich legitim. Als Leser weiß ich doch schon durch die volle Namensnennung „Holger Widmann“, sofern ohne Hinweis „Name von der Red. geändert“, dass diese Figur nicht real ist. (Echte Personen so der Öffentlichkeit preiszugeben, wäre schlechter Stil.) Dass es aber ein reales, durchschnittliches Abbild ähnlicher Personen ist, das dort gezeichnet wird, ist vorauszusetzen.
    Auch Reportagen entstehen ja wesentlich aus Gedächtnisprotokollen, in denen allein schon das Gedächtnis des Reporters abstrahiert und interpoliert. (Wie weit dieser Vorgang geht, weiß jeder, der z.B. Zeugenaussagen bei Gericht bewerten muss.) Nicht jedes Gespräch, nicht jeder Eindruck kann während eines Ereignisses unmittelbar notiert werden. Allein dadurch geraten sie in einen Graubereich. Es entsteht eine Unschärfe (Hat Eddy I oder Eddy II das Zitat gesagt? Weiß ich noch den genauen Wortlaut? Wie sah dieser Eddy nochmal aus?) , die sich im fertigen Text nicht abbildet, sondern dort wieder zu einer scheinbaren Schärfe fokussiert wird und mit erzähl. Mitteln eine Scheingenauigkeit erhält, als würde unmittelbar der Bewusstseinsstrom während des Erlebens widergegeben. Das ist ein Vorgang, den man gar nicht „Fiktion“ nennen kann, sondern einfach genretypisch ist. Es muss ja auch lesbar bleiben. Wie weit dieser Vorgang der erzähl. Gestaltung geht, ist letztlich eine Gewissensentscheidung des Autors. Aber aus zwei Eddys der Einfachheit und bestimmten Zwängen halber („2 Seiten, mehr nicht!“) einen zu machen, scheint mir (als Leser) auch legitim.

  45. Hallo,
    auch mich überrascht die Legitimation der Verfälschung in einem Lehrbuch. Vielleicht liegt der Schlüssel und das Urproblem in dem Mißtrauen gegenüber der Presse gerade in diesem Satz:
    „Um nun das Geschehen nicht kompliziert und den roten Faden unübersichtlich werden zu lassen, verschmolz der Autor beim Schreiben der Reportage zwei Zocker zu dem einen Eddy“.
    Der rote Faden, der nicht unübersichtlich gemacht werden sollte, bedeutet ja, dass es eine Tendenz/Stoßrichtung der Geschichte gibt. Sie ist nicht ergebnisoffen, und der Leser soll in eine bestimmte Richtung gelenkt werden.
    Am Rande: Was genau ein „Feature“ sein soll, ist mir nicht klar und damit bin ich bestimmt nicht allein.

  46. @Chico (50): Ein Feature (bzw. eine „Magazingeschichte“) ist – wenn mich meine Erinnerung aus der Journalistenschule nicht täuscht – eine Mischung aus Reportage- und Berichtselementen. Dass es in diesem Format erlaubt sei, Tatsachen zu verfälschen, habe ich noch nie gehört. Im Gegenteil: Das Feature galt als gute Wahl, wenn der recherchierte Stoff für eine Reportage nicht „dicht“ genug war, da man hier transparent Szenenbeschreibungen, Fakten und Hintergrundinformationen aus verschiedenen Quellen kombinieren konnte – und zwar ohne (!) diese Tatsache in irgendeiner Weise zu verschleiern.

  47. Diesen Artikel finde ich ziemlich interessant. Ich – nur Medienkonsument – bin überrascht wie Journalisten (gerade unterdrücke ich mein Verlangen, das J-Wort in Anführungszeichen zu setzen) ihre Texte quasi verdichten, abrunden und in ein gut konsumierbares Format bringen. Ich hatte eigentlich erwartet, die vierte Gewalt im Lande würde an ihre Arbeit andere Ansprüche stellen. Anscheinend war ich da naiv. Ich hatte mich zwar schon öfters gefragt ob es nicht oft so ähnlich ist wie im Artikel beschrieben, hätte aber nie gedacht, dass sich solches in Lehrbüchern wiederfinden würde.
    Noch interessanter als den Artikel finde ich die Kommentare. Kann ich doch hier lesen, wie normal das für manche Journalisten ist. „Als Leser weiß ich doch schon durch […] dass diese Figur nicht real ist.“ Nun, ich als Leser wusste solches bislang nicht. Genausowenig dass Kategorien wie Bericht, Reportage, Feature… Indikatoren für den dichterischen Anteil sein können.

    @ Übermedien: danke

    @ Übermedien: so wie es für Wohnungen Übersetzungshilfen gibt („Im Orginalzustand = muss dringend renoviert werden“; gute Verkehrsanbindung = vor dem Haus braust der Verkehr“), wäre das doch auch für Journalismuskonsumenten eine prima Sache:
    – Feature = hoher dichterischer Anteil
    – Reportage = der Journalist hat sich eine Geschichte überlegt und sich dann die unterstützenden Fakten zusammengesucht um daraus eine runde gut vom Zielpublikum gut konsumierbare Story zu machen
    – Name einer Person wird genannt, aber ohne Hinweis dass der tatsächliche Name geändert wurde = die Person ist fiktiv, es gibt sie so gar nicht, stattdessen aggregiert der Journalist (schon wieder wollen meine Finger auf das Anführungszeichen) verschiedene Eindrücke in einer fiktiven Person.
    – Dieser Artikel stammt aus dem Newsfeed der xy Agentur = Artikel wurde nicht auf das vermutete Publikum angepasst; hat sich wahrscheinlich tatsächlich genau so zugetragen

  48. Einige hier wären sicherlich auch empört, wenn SN mal aufschreibt, dass es das Sandmännchen gar nicht gibt.

  49. @ ANDERER MAX „Einige hier wären sicherlich auch empört, wenn SN mal aufschreibt, dass es das Sandmännchen gar nicht gibt.“
    Wollen Sie sagen, nur ziemlich naive Zeitgenossen glauben all das was sie in Qualitätsmedien an Reportagen lesen? Gut, dann war ich einer von denen. Möglicherweise sollte ich mehr medienkritisches lesen um vernünftiger zu werden. Für Tips bin ich offen.

    Darf ich noch ein Beispiel für meine endlose Naivität geben: in der Qualitätspresse fand ich ein Rezept, über das die Autorin in ich-Form schrieb, wie toll es sei. Ich meine im Print stand dass selbst Kinder, die normalerweise kein Gemüse mögen, diesen Rosenkohl mögen würden.
    https://rezept.sz-magazin.de/rezept/im-ofen-geroesteter-rosenkohl/
    Ich hab’s nachgekocht und festgestellt, dass Orangensaft auf dem Backblech karamelisiert und kaum mehr zu entfernen ist. An dem Backblech habe ich dann ne Weile herumgerubbelt und dann entsorgt.
    Leute, die beim Kochen so verständig sind wie ANDERER MAX im Journalismus lachen auch darüber, habe ich festgestellt. Hätte man sich doch denken können.
    Ich habe das Rezept auch danach ein paar mal gelesen und nicht verstanden wie es zu so einem Artikel kommen konnte: die Journalistin schien das 1:1 gekocht zu haben und musste doch hinterher die gleiche Erkenntnis gehabt haben.
    Jetzt erklärt sich mir das: sie hat das Rezept irgendwo gefunden, irgend jemand hat es angepriesen, sie hat es optimiert und in ich-Form geschrieben. Hat sie vermutlich gar nie ausprobiert, sondern einfach in ich-Form geschrieben, weil so so spannender und authentischer klingt.
    Den Hinweis von ANDERER MAX würde ich so interpretieren: bei politischen Artikeln sollte ich das gleiche unterstellen, denn so ist Journalismus.

  50. Eine Orange enthält, je nach Reifegrad, ca. 10 Gramm Zucker. Da karamelisiert nicht viel. Das sich unten sammelnde Öl, sofern hinreichend, sollte ein Anbacken verhindern.

    Darf ich annehmen, dass Sie fertigen Orangensaft genommen haben?

    Davon abgesehen empfiehlt sich die Verwendung von Backpapier natürlich immer. Gegenthese: dieser Hinweis wurde im Artikel vergessen.

    (Ich würde den Karamellisierungsschritt aber sowieso in der Pfanne oder einer Auflaufform vollziehen. )

    (PS: Kochen ist Drecksarbeit. Lehrgeld wie Ihres zahlt jeder.)

  51. Als Hörfunkjournalist verfolge ich diese Debatte unter den Textproduzenten mit Staunen. Der Schriftwechsel zwischen Niggemeier und Haller machte mich neugierig. Übers Wochenende habe ich mir Hallers Lehrbuch ausgeliehen und gelesen. Kurz: ich finde es klug, differenziert und lehrreich. Wir im Hörfunk machen seit vielen Jahren einen klaren Unterschied zwischen Feature und Reportage. Ich arbeite mit beiden Formen. Hallers Unterscheidung trifft es gut. Bei uns geht es beim Feature oft um Situationen und Szenen. Mit anonymisierten O-Tönen plus Geräuschkulisse. Haller nennt es „typische Situationen“ und zeigt mit dem „Holger Widmann“ in seinem Feature ungefähr das gleiche. Ich glaube, dass man den guten Journalismus am Themenaspekt und an der Recherchetiefe festmachen muss. Wir sammeln viele Informationen und Eindrücke, ehe wir ans „Verdichten“ gehen. Haller, glaub ich, nennt das „pars-pro-toto-Technik“. Die eine Figur steht als Typ für andere. Ich habe hier auf dem Schreibtisch die Wochenendausgaben der Süddeutschen aus den letzten Monaten liegen. Ich habe einfach in den Stoß gegriffen. Es ist die Ausgabe vom 8. Dezember. Auf Anhieb habe ich drei schöne Geschichten gefunden, die so funktionieren, wie es Haller als Featuretechnik vorschlägt. Falls jemand nachschauen will: die eine Geschichte heißt „Fremdverknallt“, die andere „Happy Hour“, die dritte „Männer“. Die ist in der Art einer Kolumne geschrieben. Auch in der aktuellen Wochenendausgabe habe ich „gefietscherte“ Geschichten entdeckt. Ich habe sie gern gelesen. Ich fand sie solide recherchiert. Und präzis formuliert. Aber das Hauptthema des Buches ist ja die Reportage. Aus Hallers Erläuterungen habe ich viel für mich mitgenommen. Der Streit um die Anzahl Eddys in einem Übungstext (!) ändert für mich daran nichts. Dass Niggemeier deswegen den Zusammenhang zum Fälscher Relotius herstellt, finde ich nach Lektüre des Handbuchs: infam.

  52. Ich stelle mir einen Journalisten vor: Er interviewt mehrere Bundestagsabgeordnete und schmilzt das Ganze zu einem Typus „Bundestagsabgeordneter Pit Müller“-Feature zusammen.
    Oder: Er recherchiert zur Journalistentätigkeit bei vielen Journalisten und macht daraus den Typus „Jounalist Bob Müller“, dem er all das zuschreibt, was ihm bei den Journalisten so typisch vorkommt.
    Ich will damit sagen, dass diese Methode gegenüber den betroffenen Interviewten, die ja nicht wissen, dass sie Stoff für eine Typisierung sind, zumindest entwürdigend finde. Wird das den Betroffenen eigentlich mitgeteilt? Wohl kaum.

  53. @TON AB (56)
    „Auf Anhieb habe ich drei schöne Geschichten gefunden, die so funktionieren, wie es Haller als Featuretechnik vorschlägt. “ – Aber viele Konsumenten wollen/erwarten WAHRE Geschichten in Zeitungen. Für schöne Geschichten gibt es doch auch die Genres Kurzgeschichte, Erzählung, Essay, Novelle, Märchen, Hörspiele etc.

    Mich persönlich haben die Zeitungen und Nachrichten schon 2015 verloren, aber wenn den noch treuen Konsumenten jetzt sinngemäß gesagt wird: „Ja, was bist Du blöd, dass Du das so geglaubt hast. Das war doch ein ‚Feature‘, Du Doofie“. Dann lautet mein Fazit: Selbst schuld und bitte nicht jammern.

  54. @Michael Haller #33:
    „Meiner Einschätzung nach versteht auch der ungeschulte Leser diesen Text nicht als erlebte Geschichte eines Protagonisten, d. h. nicht als Reportage. Aber lesen Sie, wie es Ihnen gefällt.“
    Ich zähle mich zu den ungeschulten Lesern. Ich habe mal den Selbsttest gemacht und Ihren Text auch gelesen. Dieser Selbsttest ist natürlich dadurch eingeschränkt, dass ich bereits um die Nicht-Existenz des Holger Widmann weiß.
    Als Protagonisten habe ich Holger Widmann nicht wirklich wahrgenommen – hat @SN aber auch nicht behauptet. Ich empfand ihn eher als Aufhänger für die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Thema. Ändert aber nichts daran, dass für mich die Nicht-Existenz dieses einen Holger Widmann nicht zu erkennen war. Zumal ja noch andere Personen in Ihrem Text vorkommen. Sind das alles reale Personen? Oder teilweise auch Holger Widmanns? Wenn ja, welche davon? Für mich als Laien wirklich nicht zu erkennen. Da hilft dann auch die Unterscheidung Reportage/Feature nicht, insofern irrelevant.

    „Ich verabschiede mich aus der Debatte, sie führt nicht weiter zu den Problemen des Handwerks, sondern wird spitzfindig.“
    Schade. Spitzfindig fand ich das Ganze nicht, im Gegenteil.

    Wie @Jakob Eich in #27 schrieb:
    „Eddy existiert zwar nicht, aber seine Figur ähnelt der von verschiedenen Menschen an der Rennbahn.“
    Sinngemäß auf Widmann anwenden. In einem Satz abgebacken. Roter Faden ist da. Problem gelöst. Oder nicht?

  55. #57: „Ich stelle mir einen Journalisten vor: Er interviewt mehrere Bundestagsabgeordnete und schmilzt das Ganze zu einem Typus „Bundestagsabgeordneter Pit Müller“-Feature zusammen.“ Nein, es geht nicht um Protagonisten. Die müssen authentisch sein. Das ist in Hallers Lehrbuch klar und eindeutig. Es geht um Stimmungsbilder. Und Muster für typisches Verhalten. Solche Beschreibungen darf man sich nicht ausdenken. Die müssen recherchiert sein. Darüber sind wir uns doch einig.
    #58: Warum sollen meine Beispiele aus der Süddeutschen keine wahren Geschichten sein? Dass sie schön zu lesen sind, macht sie nicht unwahr. Oder sind nur schlecht geschriebene wahr? Als Redakteur der Süddeutschen würde ich mir Ihre Unterstellung nicht gefallen lassen.
    #59: Vielleicht lesen Sie den von Ihnen genannten Wiki-Eintrag komplett, auch: The main sub-types are the news feature and the human-interest story. Da steht, was auch Haller sagt. Beispiel aus meinem Metier: Wenn ich auf dem Bahnhof (Hintergrundgeräusch) die Stimmung unter Reisenden einfange, die auf den verspäteten ICE warten, und zwei O-Töne schneide, also den Satz von B hinter den von A setze und aus dem Off ihren Reisegrund, aber keine Namen nenne, d. h. beide anonym und insofern als austauschbar erscheinen: Ist das dann fiction? Niemals!
    #60: Auch ich lese den Aufhänger, die Eröffnungspassage mit Holger Widmann als recherchierte Fallbeschreibung. Ich glaube dem Autor Haller, dass es damals in vielen Familien so zuging. Mehr sagt er auch nicht. Aus dem Fall wird kein Individuum. Holger kommt gar nicht mehr vor. Für mich ist das der entscheidende Unterschied zur Reportage. Die braucht Individuen aus Fleisch und Blut.
    Ich kenne Herrn Haller nicht. Und sein Lehrbuch erst seit vier Tagen. Vieles wird in dieser Debatte ins Blaue behauptet, was ich im Buch nicht wiedergefunden habe. Für mich gehört es zur Fairness, ihn bzw. dieses Lehrbuch gegen die Unterstellungen in Schutz zu nehmen.

  56. @TON AB
    Es ist ein ungeschriebenes Gesetz im Kommentarbereich von Übermedien, sowohl in die Artikel der Autoren als auch in die Beiträge von Mitkommentatoren Aussagen hineinzuinterpretieren, die dort gar nicht stehen aber das eigene Narrativ bedienen.
    Diese Kommentare fangen üblicherweise mit: „Sie wollen also sagen…“ oder „Wenn ich Sie richtig verstehe…“ an.

  57. Die Aussage, dass aus „Holger Widmann“ kein Indidivuum wird, finde ich gewagt. Wir kennen

    – seinen Namen
    – sein Alter
    – die Beschriftung seiner Zimmertür
    – den Stadtteil, in dem er wohnt
    – Art und Größe des Hauses, in dem er wohnt
    – den Namen eines Freundes (sowie dessen Alter und Abschneiden in der Schule)
    – die Sorgen der Mutter
    – den Beruf des Vaters
    – seinen Herbstferien-Job
    – dessen Verdienst
    – das genaue Modell des Computers, das er zu Weihnachten bekam

    Was fehlte da noch, um ihn zu einem „Individuum“ zu machen? Die Beschreibung seiner Locken?

  58. #63: Ja, das sind viele Merkmale, das stimmt. Ich versuche mal, diese Angaben im Sinne der Hallerschen Theorie zu deuten, Leitspruch: in dubio pro reo. Ihre lange Liste nennt praktisch nur äußerliche Merkmale (Ausnahme: das Zitat der Mutter; irritiert mich auch). Das ist nicht Reportage. In meinen Reportagen jedenfalls soll man die Individuen kennenlernen. Wie sie denken. Wie sie fühlen. Was sie wollen. Kurz: Warum sie (in diesem Themenzusammenhang) so eigenartig sind. Das ist etwas anderes. Gestatten Sie die Frage: Haben Sie in Ihrem Journalistenleben schon Reportagen geschrieben?
    Als Journalist mag ich das Spekulieren nicht wirklich. Ich recherchiere lieber. Leider hat sich ja Herr Haller aus der Diskussion verabschiedet. Ich habe seine Uni-Mailadresse gefunden. Jetzt werde ich ihn fragen, ob er auch nach drei Jahrzehnten noch weiß, wie die Sache mit Holger Widmann zustande kam. Vielleicht kann er etwas zur Aufklärung beitragen.

  59. Es ist erfreulich, dass sich hier auch einige der Kritisierten gemeldet haben, was immer man von ihren Entgegnungen halten mag.

    Es ist m.E. anzunehmen, dass die allermeisten Leser davon ausgehen, dass ein journalistischer Text im Hinblick auf die Schilderung von Tatsachen auch im Detail akkurat ist (oder das jedenfalls zu beanspruchen vorgibt) und nur beinhaltet, was tatsächlich der Fall ist – und nicht das, was gut der Fall sein könnte. Fiktive Elemente – auch wenn sie an sich harmlos sind – sollten daher höchstens dann eingebracht werden, wenn die Leser darauf hingewiesen werden.

    Die grundsätzliche Kritik von Herrn Niggemeier halte ich also für berechtigt. Dass die beschriebenen Praktiken bei vielen hier auf so harte Kritik stoßen, hat aber wohl wirklich einiges mit dem Fall Relotius zu tun. Ohne ihn würde die Kritik wahrscheinlich milder ausfallen, denn die kritisierten Praktiken sind zwar problematisch, wären für sich genommen – wenn sonst alles glatt liefe – kein Grund, am Journalismus zu verzweufeln

    @ Ton Ab:

    Aus dem Kontext könnte man halt leicht den Eindruck gewinnen, dass die Beispiele aus der Süddeutschen unterstreichen sollen, dass man schöne Geschichten schreiben kann, ohne entscheidend wäre, ob alles im Detail wahr ist. Denn darum ging es ja – und nicht darum, wie gut Hallers Feature-Konzept im Allgemeinen ist.

  60. Andreas Wolfers, Leiter der Henri-Nannen-Journalistenschule, hat in der „Zeit“ einen Artikel darüber geschrieben, wie die Reportage sein darf und soll und wie sie sich vielleicht verändern muss. Darin nimmt er offenbar auch Bezug auf die Debatte hier:

    Es ist betrüblich, aktuell aber notwendig, dabei auf eine Selbstverständlichkeit hinzuweisen: Nichts, aber auch gar nichts rechtfertigt es, im Rahmen einer Reportage etwas zu erfinden, und sei das Detail noch so stimmig und auch noch so belanglos. Ein Reporter ist kein Romancier. Entweder – oder. Es ist, veralteten Handbüchern zum Trotz, einfach nicht zulässig, zwei Personen zu einer verschmelzen zu lassen. Oder ein knackiges Zitat, das leider jemand anderes gesagt hat, meiner Hauptperson in den Mund zu legen, auch wenn sie es genau so hätte sagen können.

  61. Auf meine Anfrage hat Haller soeben sehr ausführlich geantwortet. Hier nur das, was sich direkt auf den Fall „Holger Widmann“ bezieht (hat er hierfür freigegeben):
    „Damals war es beim Spiegel Usus, dass wir unser gesamtes Recherchematerial der Spiegel-Dokumentation übergaben, auch Protokolle, Mitschriften, Tonbandaufzeichnungen. Die Szenen mussten abgesichert sein, sonst wäre die Geschichte nicht freigegeben worden – damals. Weil ich praktisch zeitgleich das Reportage-Buch schrieb, machte ich mir Notizen und ein paar Kopien von einigen für diese Szene wichtigen Belegen. Die helfen mir jetzt als Gedächtnisstütze, denn ich hatte im Zuge dieser Recherchen mit vielen Leuten Kontakt. Zunächst wollte ich über den damals grassierenden Chippie-Hype unter Jugendlichen und den Umgang mit den weithin unbekannten „Home-Computern“ schreiben. Um den Hype zu verstehen, nahm ich zu drei Schulen Kontakt auf, zwei in Hamburg (in sozial unterschiedlichen Milieus) und eine in Freiburg i.Br. Über die Lehrer fand ich Zugang zu „computerspielebesessenen“ Jugendlichen und deren Cliquen. Nach und nach (so viel Zeit hatten wir damals!) konnte ich mit ihnen quatschen und sie beobachten, ich meine, es waren insg. ca. 15 Teens. Bei dreien entstand auch Kontakt zu ihren Familien (inkl. Freundeskreisen); die habe ich quasi als Vertreter des hierfür typischen Milieus kennengelernt. Eine davon war die von Holger (sein Name ist echt). Anfangs wollte ich die ganze Geschichte eher als Reportage entlang dieser drei Familien (Jungs mit ihren Eltern & Freunden) erzählen, sah dann aber, dass das nicht funktioniert. Immer wichtiger wurde für mich das Hintergrundthema, die stürmisch beginnende „Computerisierung“ der Alltagswelt, also das, was wir heute im Rückblick den Aufbruch in die digitalisierte Gesellschaft begreifen. Das war nicht nur groß, sondern auch abstrakt und komplex und sollte aus der Historie der binären Logik, der techn. Computerentwicklung und des Consumer-Marktes aufgerollt werden – also ganz klar ein Feature-Thema oder Report (es wurde ja auch eine Serie daraus). Die materialreich besichtigte Welt der Peers schrumpfte jetzt zum damals aktuellen Stimmungsbild und wurde so zum Einstieg in den zweiten Serienteil. Und dafür passte der Holger recht gut. Aber es gab dann mehrere „besondere Umstände“ in dieser Familie, die nichts mit dem Thema zutun hatten (wenn ich mich recht entsinne, war es ein Unglücksfall). Die Familie wollte jetzt anonym bleiben. In Abstimmung mit Holger und seinen Freunden haben wir mehrere Merkmale aus der Jungensgruppe als „typisch“ ausgewählt und zusammengebunden. Holger und Holgers Mutter bekamen die betreffenden Absätze vorab zum Gegenlesen (inklusive Ersatz-Nachname Widmann). Das Ergebnis kann man in der Ausgabe 12/1987 auf S. 106 nachlesen.
    Zu Ihrer zweiten Frage: Rückblickend finde ich, dass auch mir widerfahren ist, was manchem Reporter passiert: Man war intensiv dabei und dicht dran – und findet vor dem Schreiben nicht den nötigen Abstand. M. a. W.: Für den typisierend gedachten Feature-Einstieg hätte ich noch weiter verkürzen und verdichten sollen. Sie haben Recht mit Ihrer Frage wegen des Zitats der Mutter. Das hätte besser nicht im O-Ton, sondern als Sorge von Müttern dieser Teens formuliert werden sollen, also mehr Distanz und nicht zuschreibbar. Und auch den Herbstferienjob (5. Absatz) hätte ich von Holger ablösen können, denn die machten den Job zu dritt: drei Jungs.
    Und noch etwas. Solche Montagen aus realem Recherchematerial haben wir zur Unterscheidung von „authentischen Szenen“ der Reportage damals ohne Bedenken „fiktive Szenen“ genannt, obwohl alle Aussagen real sind. Das würde ich nicht mehr so nennen wollen, weil manche Leute diese Bezeichnung missverstehen und glauben könnten, laut Haller dürfe man erfinden – was blanker Unsinn ist.“

    Ich habe Herrn Haller ermuntert, diese Entstehungsgeschichte seines Features in der nächsten Auflage des Buches doch zu erzählen. Das könnte Fehldeutungen vorbeugen.

  62. Die Ansicht, dass derartige „Verdichtungen“ generell nicht in den Kontext von Reportage oder Doku gehören, ist auch eine interessante Brücke zwischen Ethos und Pragmatismus.
    Wenn man einen imaginären Stellverteter für eine bestimmte Gruppe kreiert und das in Teilbereichen für zulässig hält, wird es immer Meinungsverschiedenheiten geben, an welcher Stelle das nicht mehr in Ordnung ist. Niemand hat am Ende die abschließende Kompetenz oder Autorität die verbindliche Linie zu ziehen, bis wohin das vertretbar ist.
    Man hätte also immer wieder Diskussionen am Einzelfall. Wer nun überhaupt nicht in dieser kreativen Form „verdichtet“ setzt den Gegenstand einer derartigen Diskussion über seine Arbeit gar nicht erst in die Welt.

  63. Noch mal ein Kommentar eines staunenden Nichtjournalisten:

    Auch ich bin über den freimütigen Umgang mit „Verdichtungen“ nach Lehrbuch verblüfft. Vor allem deshalb, weil ich als Leser doch wirklich nicht wissen kann, ob „Holger Widmann“ nun eine fiktive Person ist, die eine irgendwie recherchierte und analysierte Personengruppe repräsentiert, oder ob der Autor einfach seine schon längst vorhandenen Klischees in ein aus seiner Sicht passendes Bild gegossen hat.

    Was spricht denn dagegen, wenn man nun schon „verdichten“ will, das auch transparent zu machen? So etwa „Nehmen wir als Beispiel einen fiktiven Nerd namens Holger Widmann, der reperäsentativ für die Szene steht“? Natürlich, dann würden die ganzen Details zum Holger („dessen Familie in Hamburg-Billstedt ein kleines Einfamilienhaus bewohnt“) natürlich fragwürdig wirken, aber das sind sie ja auch.

    Insgesamt wäre ich froh, mit so etwas wie den hier definierten „Features“ verschont zu werden. Man könnte diese ja wenigstens irgendwie kennzeichnen, dann müsste ich mich als Leser nicht mehr fragen, ob ich jetzt Fakten vorgesetzt bekomme oder verdichtete und geglättete Prosa.

  64. Die Diskussion neigt sich ja dem Ende zu, man könnte es mit einem Schlusswort versuchen, zum Beispiel diesem:

    „Die Montage gibt dem Thema eine Verstehenstiefe, die dem Literarischen eigen ist. Und da möchte man nicht weiter nachfragen, ob auch alles faktisch genau stimmt, was erzählt wird.“

    Michael Haller, Die Reportage, Seite 174

    https://books.google.de/books?id=D_5PDwAAQBAJ&pg=PA314&dq=haller+reportage&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjQs5TtypvgAhVJjqQKHTkECc8Q6AEIKDAA#v=snippet&q=montage&f=false

  65. @ 68 Ton ab
    mir gefällt, dass Sie vorurteilsfrei als Journalist denken und einfach nachgefragt haben. Es hat sich gelohnt. Die Darlegungen von Haller, die Sie zitieren, lese ich eine gute Beschreibung, wie man zu einem soliden Feature kommt: viel Arbeit! Sie stellt die Kirche, die hier in der Debatte weit weg getragen wurde, wieder zurück ins Dorf.

  66. @ 71 Name
    Liebe Uebermedien-Kollegen, man sollte fairerweise den Kontext von Zitaten mitlesen. Ich habe nachgeschaut. Das Zitat steht in Hallers Abschnitt über Kolportagenjournalismus. Und gehört zu seiner Kritik an einem montierten Reportagentext von Erwin Koch. Dem stellt er „Authentisches Erzählen“ gegenüber: „Das Gegenstück zur Kolportage sind Erlebnisse und Eindrücke, die der Reporter vor Ort selbst erfahren und die kein anderer so erlebt hat wie er.“ Flunkern sei nicht erlaubt, alle Fakten müssten stimmen (S.180). Und er diskutiert als gelungenes Beispiel ein „Reportagenporträt“ von Alexander Osang über das „Eiserne Mädchen“ Angela Merkel vom Frühjahr 2000. Ich wiederhole mich (#61): Ich lese als erfahrener Journalist dieses Lehrbuch mit großem Gewinn.
    Das ist mein Schlusssatz zu dieser Debatte.

  67. Ich muss sagen, dass der Titel dieses Beitrags „Manipulationen nach Lehrbuch“ doch eigentlich von vornherein eine sehr unschöne Stoßrichtung vorgegeben hat.

  68. @77 Niggemeier: Definition Von Manipulation (Wikipedia): „Der Begriff Manipulation (latein. Zusammensetzung aus manus ‚Hand‘ und plere ‚füllen‘; wörtlich ‚eine Handvoll (haben), etwas in der Hand haben‘, übertragen: Handgriff, Kunstgriff) bedeutet im eigentlichen Sinne „Handhabung“ und wird in der Technik auch so verwendet.“
    Für mein Gefühl argumentieren Sie eher fundamentalistisch. Ich bin für Differenzierung. Und manchmal für das Mehrdeutige. Haller unterscheidet verschiedene journalistische Herangehensweisen. Auch zwischen Feature und Reportage (die Eddy-Geschichte haken wir mal ab). Ich weiß aus eigener Erfahrung: Treffende Strukturbilder zu liefern, das ist anspruchsvoll. Da muss ich als Journalist gestalten (manus) und das Wesentliche aufzeigen (plere). Um mit Haller und noch älteren Kollegen zu reden: „Verdichten, aber nicht erdichten“.
    Oder sind wir Journalisten so dumm, dass wir nicht wissen, was wir tun dürfen, und darum einen Vormund brauchen? Nein. Aber indem diese Probleme mit dem Fälschen (Relotius) verknüpft werden, fühle ich mich dümmer gemacht als ich es schon bin.

  69. @Holger: Haller benutzt die Formulierung von den „ähnlichen Manipulationen“, die auch in den anderen Übungstexten vorgenommen worden seien, unmittelbar nach seinem Eddy-Beispiel.

  70. Zunächst Danke allen Beteiligten für diese überaus aufschlussreiche Diskussion! Herr Haller ist seit vielen Tagen raus, zumindest direkt – schade, v.a. wegen der unzutreffenden Begründung für seinen Abgang. Das Thema ist wesentlich für unsere gesamte Gesellschaft, deshalb eine ausführlichere Stellungnahme und Klarstellung meiner Sicht auch jetzt noch:

    Spitzfindig? – Ein echter Hammer, die ganze Diskussion. Insbesondere wg. der Einblicke in das Selbstverständnis von Journalisten (auch ich kann da kaum die Anführungszeichen weglassen) wie Herrn Haller.

    Warum?
    1. Spitzfindig sind einzig die Grenzen, die Herr Haller – für ihn klar, für Herrn Relotius wahrscheinlich auch, sonst hätte er ja nichts zugeben müssen; wir normalen Menschen fragen uns die ganze Zeit „ja warum denn nicht einfach schreiben, wie es ist??“ = die Grenzen sind völlig undurchschaubar, und zwar für jeden einzelnen Leser! – zieht zwischen verschiedenen Arten von Fällen, in denen Unwahres schreiben (nicht) OK ist.

    2. Für alle anderen Menschen ist zumindest diese Grenze klar definiert. Ohne Spitzfindigkeiten. Ohne ZigZagging darum herum, worum es eigentlich geht – klare Kante für „echten“, also ganz normalen Journalismus:
    Wenn der Journalist WEISS, dass es nicht stimmt, oder dass es so nicht stimmt, dann ist es gelogen = unzulässig = die Grenze überschritten. – Nicht zuletzt (Sie scheinen dies gern zu übersehen, Herr Haller) hat der Journalist ja die Möglichkeit und im eigentlichen Sinn sogar die Aufgabe (das ist sein Beruf!), es so zu schreiben, dass es stimmt. Auch und trotz und wegen entsprechender Darstellung auch von Kunstfiguren, fiktiven Charakteren, Klischees oder Typen; man benutzt und schreibt entsprechend, und dokumentiert im Text gefälligst, wenn die Wahrheit entstellende „Kunstgriffe“ enthalten sind; ob man genau sagt, welche, wie und wo – das mag in Grenzbereichen liegen, aber doch nicht: Dass!?!

    3. Formulierungen wie „die journalistische Kunstform der Reportage“ bringen die völlige Abgehobenheit der (Selbst) Wahrnehmung besser auf den Punkt, als Herr Haller es wohl wahr haben mag: Der Herr Journalist hält sich für einen Künstler der scharfen Feder bzw. des iPencils. Einen Erschaffer. Erbauer, ja Schöpfer. Durch handwerkliche Fähigkeiten (auch durch Lehrbuch und folgende Diskussion) ermöglichte und von der Muse (wahlweise bis zu fünf) geküsste Gestalter der Realität, wie die Leser sie wahrnehmen sollen – nach Gusto des Schöpfers eben.

  71. Wie die Leser Ihre Schöpfungen dann am Ende tatsächlich wahrnehmen?

    Jetzt kommt erst der richtige Hammer(!):
    4. Das interessiert Sie nicht, Herr Haller. Gar nicht. Niente, nada. – Sie finden es frech das zu behaupten? Ich (und glücklicherweise einige andere Leser hier) finde es frech, dass Sie völlig abgehoben an uns vorbei schreiben. Dass Sie hier wieder und wieder und wieder gelesen haben von unserer Enttäuschung, davon dass wir schockiert sind – weil wir nach vielen Jahrzehnten der Blauäugigkeit (Vertrauen in Ihre Zunft, Herr Haller!) erfahren, dass Sie vorsätzlich an uns vorbei schreiben, dass Sie bewusst täuschen, dass Sie Ihre eigene Vorstellung von irgendeinem abstrus zusammen geschusterten „Gesamtbild“ für eine Form der Wahrheit halten, der sich Fakten entweder unterordnen oder in der sie einfach nach Gutdünken keine Rolle zu spielen haben, und dass Sie keinerlei Bereitschaft zeigen, sich mit dem Ergebnis auseinander zu setzen.

    Dem Ergebnis, dass Sie uns haben Falsches wahrnehmen lassen. Dass Sie sich völlig vertan haben – weil uns nicht egal ist, was Sie für unwichtig erachten; weil wir glaubten, was Sie uns als Wahrheit verkaufen (s. auch oben, „Gesamtbild“, und aber auch, welche Details Sie dafür erfanden). Übrigens: Verkaufen! Sie schreiben und wir bezahlen Sie dafür – nur dadurch wird Ihre Profession zu Ihrem Beruf, zu Ihrem Broterwerb! Und wir bezahlen Sie für Erfassen, Recherchieren und Wiedergeben! Wenn wir kunstvolle Fiktion möchten, wenden wir uns Entsprechendem zu, und kaufen dafür nicht einen „Spiegel“ – der uns, wie wir nun erfahren, durch kunstvolle Fiktion informieren wollte. Noch dazu über Entwicklungen, die in Augen des Autors gesellschaftsrelevant und was „Großes“ für die Zukunft bedeuten! Und das checkt der auch 2019 noch immer nicht: Dichtung wird auch nicht Wahrheit, wenn sie (immerhin) mit Holger, seinen Kumpels und Eltern abgesprochen ist. Dass Sie, Herr Haller, genau dies aber denken, spricht wiederum Bände.

    Sie haben völlig vergessen, dass Sie nicht für uns beschließen können, was wir für wichtig halten an dem, was wir für zumindest richtig hielten. Und dass Falsches nicht richtig wird weil es dem richtigem Zweck dient!

    Sie (über)lesen mehrere, sehr deutlich und überaus respektvoll geschriebene Ausdrücke von Entsetzen über Ihre Sichtweise, vom Gefühl des über Jahrzehnte sich getäuscht fühlen, jetzt, im Nachhinein. Aber: Das einzige, was Sie interessiert, sind vermeintliche Richtigstellungen, Zurechtweisungen, und sonstige Fingerzeige auf völlig Andere/s – kein Bezug, kein Feedback, keine Überraschung und kein Bedauern. Obwohl Sie gerade erfahren haben, dass Sie – ich unterstelle hier: ohne dass Sie dies beabsichtigten; ist das dann nicht umso bedauerlicher und wichtiger, wenn Sie dessen gewahr werden, dass Sie ganz Anderes als beabsichtigt bewirk(t)en? – Ihre Leser und Studenten enttäuscht, weil (wie gesagt: wahrscheinlich unbeabsichtigt, aber eben trotzdem:) getäuscht.
    Weil und einzig und allein weil Sie eben nicht schrieben und schreiben, wie es ist.
    Eben weil Sie meinen, die Wirklichkeit besser darstellen zu können – damit wir am Ende erst wirklich verstehen, wie es in echt ist (oder warum / wofür auch immer im Einzelfall..).

    Und das ist offensichtlich Ihr Ernst. Hammer!

  72. Aber nach all dem nun fühlen Sie, ausgerechnet Sie, Herr Haller, sich missverstanden? Sie fühlen sich, als wäre Ihr Werk entstellt? Sie sind sogar in der Lage, zweifelsfrei dargestellte Zusammenhänge – exakt in Ihrem Sinne, wie Sie dann nochmal unterstrichen – nur deshalb völlig zu übergehen und gar zu behaupten, sie wären nicht existent, weil .. (Achtung, jetzt kommt’s!): weil sie im Kommentar #19, auf den „Sie sich explizit beziehen“ nicht wiederholt werden / als Feature gekennzeichnet..? Also, spätestens das ist jetzt auch intellektuell, äh, sagen wir: völlig überfordert; ein Leader einer School of Media weiß beim Kommentieren eines Artikels schon nicht mehr, was drin stand?

    Sie sind gekränkt. Sie fühlen Ihr Buch nicht in seiner Gutartigkeit gewürdigt – obwohl es seit Jahrzehnten von Generationen Journalistik-Studenten gewürdigt, genutzt, verinnerlicht wird – ist jetzt echt mal gut.

    Nachdem nun dies abgehakt ist: Stehen Sie der Einfachheit halber zu Ihren Worten und schauen Sie mal ernsthaft nach, was sie – in echt und unser aller Wirklichkeit – zu bedeuten haben, was daraus resultiert, und was Sie bei ernsthafter Betrachtung heute wie genau (anders) für richtig halten! Denn:

    Das hier* ist ein Manifest der journalistischen Beliebigkeit!

    * ich meine sowohl die entsprechenden Passagen in Ihrem Buch (die sich nicht dadurch relativieren, dass auch Richtiges im Buch steht), als auch die aus meiner Sicht extrem verschlimmernden Aussagen von Ihnen hier in der Diskussion

  73. PS: @ Ton Ab – Sie haben hehre Ansprüche und setzen Ihr Handwerk solide um, so wie ich es lese. Aber Sie vermischen, was nicht zusammen gehört: Sobald Sie anfangen, die Originaltöne nicht mehr nur als Stimmungsbild in beliebiger Reihenfolge aneinander zu reihen – sondern tun, was in den Beispielen von den Journalisten-Kollegen getan wurde* – dann erst würde es vergleichbar! Und ich gehe fest davon aus, dass Sie (im Gegensatz zu Herrn Haller und seinen Fürsprechern aus der Zunft; uns Leser vollkommen perplex hinterlassend über solch chuzpastische Selbstherrlichkeit) derlei niemals in Erwägung zögen. Und genau deshalb hinkt Ihr Vergleich m.E. Finden Sie nicht?

    * Der Vergleich würde stimmen, wenn: Sie Zitate, wie Sie sie gehört haben, nachsprechen lassen, diese ergänzen um Zitate, wie Sie sie gehört haben könnten / wie sie typisch wären, und wenn diese Audiodateien dann mit dem Bahnhofsgewimmel so vermischen würden, dass der Eindruck entsteht, Sie hätten diese Aussprüche vor Ort aufgenommen, an dem Sie im Zweifel nichtmal waren. Das ist jetzt sehr scharf formuliert, ich weiß, und klingt deshalb haarsträubend, nehme ich an. Dennoch. Oder wieso nicht?

    Danke übrigens für’s Nachhaken bei Herrn Haller! Zu dessen Feedback: Sorry, aber aus meiner Sicht beschämend – beruflich und, mit Verlaub, anscheinend charakterlich –, dass Herr Haller meint, diese Verdeutlichungen seit Jahrzehnten in seinem Buch und nach all seinen Anwürfen in dieser Diskussion auch hier für entbehrlich, unwichtig, irrelevant zu halten. Im Gegenteil: Es wäre für den Leser sehr interessant und teils erhellend gewesen, es so zu erfahren, wie er es recherchiert und in seinem Feedback dargestellt hat!
    Überdies: Durch’s Weglassen wird’s falsch! Mindestens zwei Kommentare bezogen sich auf den Verdienst von Holger in seinem Buch-Beispiel; ich habe zu dieser Zeit verschiedenste Jobs ausgeübt und hätte zumindest von einem solchen, wenn für mich vielleicht unerreichbaren Jab gehört – das, was ich kannte, ermöglichte in 2 Wochen keinesfalls 1.300 DM. Ich hab’s während des Lesens nachgerechnet! Warum? Weil ich immer noch geglaubt habe, dass doch dann ein solches Detail zumindest stimmt.. Vorsätzlich: Pustekuchen. Herr Haller lässt mich wie alle Anderen auf dem Holzweg – ihm zu glauben, wie abwegig, oder was?? Dabei so einfach: Aber wenn 3 Jungs gearbeitet haben, wird nicht nur ein Schuh draus. Es wird gleichzeitig auch .. wahr.

    Tolle Sache das mit der Wahrheit, bzw. besser gesagt mit der Wahrhaftigkeit: Man braucht nix weiter zu tun, einfach nur bei ihr bleiben.

    ALLES andere ist gelogen. Ja, auch wenn es die Wahrheit deutlicher machen soll – dann wurde halt „für den guten Zweck“ gelogen.
    Ob nun der Zweck die Mittel heiligt – DARÜBER können wir gern diskutieren. Und wo da dann Graubereiche entstehen usw. usf.
    Aber nicht darüber, ob zusammen-Phantasiertes nun real ist oder nicht.

    Aus Herrn Hallers Reaktion wird deutlich, dass er sich seinen Lesern weiterhin in feinster Weise verpflichtet sieht. Weiterhin: Kein Interesse an Erschrecken und Enttäuschung oder gar längst Hoffnungslosigkeit seiner Leserschaft! Oder zumindest keine Freigabe, diese indirekt durch Sie, Ton Ab, äußern zu lassen..
    Immerhin scheint er sich klar geworden zu sein, dass trotzdem was nicht ganz kosher ist; selbstverständlich nur an seinem eigenen Anspruch und Verständnis seiner Taten gemessen – Kritik von außen ist ihm bis heute keinerlei Würdigung wert!

    Mein Rechtsempfinden sehnt sich danach, dass derlei Lug und Trug, Abgehobenheit und Desinteresse, Messen lassen nur am eigenen Maß und Missachtung des gesunden Menschenverstandes WÄHREND der Berufsausübung seriösen Journalismusses – während die Öffentlichkeit „informiert“ wird! – justitiabel ist.
    Genau wie jede andere Form von Egozentrik und Egoismus zum Schaden Anderer, in dem Fall gar (potenziell): Aller!

    PPS: Danke für Aufmerksamkeit und sorry für die Länge aller 4 Kommentare. Aber wie gesagt halte ich genau dieses Thema für gesellschaftsrelevant, -beeinflussend und -verändernd. Damit es nicht gesellschaftszersetzend wird/bleibt, steht offensichtlich an, einen allgemein gültigen Konsens zu finden – ob und wann es OK Falsches wie Richtiges zu verbreiten.

    Herr Haller und Co. sind in der entsprechenden Diskussion willkommen, solange sie nicht (weiter) meinen, uns nach aller „Kunst“ verar.. bevormunden zu dürfen – denn dann sind sie fehl am Platze und dann müssten wir für uns selbst entscheiden, gfs.:
    Solche wollen wir nicht und sowas bezahlen wir nicht weiter!

    Vielleicht hören sie dann auch wieder zu, wenn sie für ihre Kunst nicht mehr bezahlt werden: Was wir von Journalisten erwarten und wofür wir sie bezahlen wollen = wann sie ihre Berufsbezeichnung und unser Geld verdienen.

  74. @68
    Wie eine Antwort auf meine Frage in @57 liest sich Hallers Zitatausschnitt bei Ton Ab :“In Abstimmung mit Holger und seinen Freunden haben wir mehrere Merkmale aus der Jungensgruppe als „typisch“ ausgewählt und zusammengebunden. Holger und Holgers Mutter bekamen die betreffenden Absätze vorab zum Gegenlesen (inklusive Ersatz-Nachname).“
    Die Verantwortung der „Typisierung“ liegt nun mehrheitlich bei der Jungensgruppe samt Mutter, das ist seltsam, da von diesem Verfahren zuvor nicht die Rede und Veröffentlichung war.

  75. Die Diskussion, die hier geführt wird, ist richtig und wichtig. Und meiner Meinung nach – und ich kenne in meinem Umfeld keinen Journalistenkollegen, der anderes sagt – ist es ein absolutes No Go, dem Leser Dinge vorzugaukeln, die so nicht existieren. Und eine aus mehreren Personen zusammengesetzte Figur ist genau so eine Sache, die einfach nicht geht.
    Gleichzeitig schimmert in den Kommentaren derer, die nicht aus der Medienbranche kommen, ein Eindruck durch, den man so nicht stehen lassen kann: Was Haller (be)schreibt, isz keineswegs gängige Praxis. Ich arbeite seit 15 Jahren als Journalist, und mich hat nie jemand aufgefordert, so zu arbeiten. Hallers Buch ist zwar ein Standardwerk, das bedeutet aber nicht, dass besonders viele Journalisten es jemals gelesen haben. Journalismus ist ein freier Beruf ohne vorgeschriebenen Ausbildungsweg, die wenigsten Journalisten haben tatsächlich Journalismus oder ähnliches studiert. Deswegen spielt auch ein Standardwerk keine so große Rolle, wie es in vielen anderen Fächern sein mag. Ich habe zwar tatsächlich Journalistik studiert, Hallers Buch aber auch nicht gelesen – meine Professoren empfahlen andere Literatur.
    Will sagen: Wir sollten aus seltsamen Empfehlungen in einem Lehrbuch nicht den Eindruck ableiten, dass in der Branche überwiegend so gearbeitet wird.

  76. #80-84. Leute, was ist denn da los? So viele Unterstellungen und Beschimpfungen! Merkt Ihr nicht, dass Ihr darauf aus seid, Haller, egal was er sagt, immer als Feind auszurufen, im Glauben, darin Niggemeiers Ansicht zu akkommodieren? Nur ein Beispiel #84: Die publizistische Verantwortung liegt noch immer bei uns Journalisten (und den Medieninhabern). Haller schrieb, dass er sein Milieubild mit den Beteiligten abgestimmt habe (=gegenlesen). Das ist solides Arbeiten. Punkt. Sie wollen sich aber unbedingt über Haller empören. Also wird der Sinn seiner Aussage auf den Kopf gestellt: Verantwortung abgegeben! Auch der Wortschwall von Jens mit seinen Unterstellungen ließe sich dekonstruieren. Aber es bringt nichts. Ihr wollt Euch unbedingt empören. Noch zwei weitere Kommentare, und Ihr fordert, dass man Haller….. Ich dachte, die Kommentarspalte bei Übermedien führte nicht in die Echokammer-Welt.
    #85 Sebastian Weßling: Ihre Versachlichung finde ich wohltuend. Falls Sie der Sportjournalist der Funke-Mediengruppe sind: Als Ruhrpott-Vertriebener lese ich ihre Spielberichte gern (auch wenn Sie die Trennung zwischen Bericht und Kommentar nicht so ernst nehmen). Eine Reportage habe ich von Ihnen leider noch nie lesen können. Hier dreht sich die Kontroverse nicht ums Berichten. Sondern nur um diese Stilform.
    Apropos Reportage: Gestern in der taz fand ich dieses Interview. Da ich Schwarzweißmalerei befremdlich und das Farbenspektrum erhellender finde, las ich es mit Gewinn. Zu finden unter: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5568567&s=Haller&SuchRahmen=Print/

  77. Hä, #86, was’n für Unterstellungen oder gar „Beschimpfungen“??
    Und was interessiert mich denn n’Niggemeier (schließe mich übrigens dem einen entsprechenden Kommentar an: Übermedien, ich glaube inkl. Stefan Niggemeier, sind mir oft zu selbstgefällig und dabei die Dinge dann aber auch aus recht verengtem Blickwinkel betrachtend)?
    Frechheit: Ich rufe sicherlich nicht irgendwen „als Feind aus“, auch Herrn Haller nicht. Auch nicht, wenn sein Verhalten durchaus feindselig wirkt: Falsches behaupten, Richtiges missachten, nichts Einstecken können aber ordentlich austeilen, schlussendlich ein erheblich Teil seiner Leser- und Studentenschaft ignorieren, Diskussion schlitzohrig als spitzfindig = sinnlos diskreditieren und abhauen. (wofür soll das wohl gut sein?)

    Also bitte: Nennen Sie, wenn Sie derlei behaupten, mal eine Unterstellung/Beschimpfung/Feindausrufung in #80-#83! – Oder bedeutet „als Feind ausrufen“ das Beharren auf (unangenehmen) Fakten und Zusammenhängen? Das sollte ein Journalist(ikprofessor) schon abkönnen, eigentlich sogar heiß drauf sein, finden Sie (etwa) nicht?

  78. Der Link #86 / das Interview ist sehr interessant. Herr Haller spricht bei Reportagen eben nicht von handwerklich gutem, möglichst wahrhaftigem Berichten, sondern von „einer anspruchsvollen journalistischen Kunstform“. In der Kunst ist alles erlaubt. Und alles (!) ist natürlich immer irgendwie gut und richtig, wenn es so ein Guter macht, wie man selbst – und dieses „alles“ ist aber empörend und zu verdammen, wenn Andere was machen, was nachvollziehbarerweise Viele für empörend halten.. (tststs, für was für Verhaltensweisen wir Menschen uns immer wieder nicht schämen.. besser wär das.. auch wenn’s echt keinen Spaß macht – sich schämen zu müssen –, aber immer noch besser, als schlimmstenfalls weiter beschämend zu handeln, oder nicht?)

    In diesem Sinne ist es der Sache wohl zuträglich, dass Herr Haller hier nicht mehr mit diskutiert: Es macht keinen Sinn einen intellektuell überlegenen Freigeist und Kunstschöpfer an irgendeine Verantwortung zu erinnern – schon gar nicht gegenüber sowas Abstraktem wie .. Lesern, der Gesellschaft, naja, eben echten Menschen. Interessant sind: Protagonisten, wie sie in Szene gesetzt werden, und was der Autor damit sagen mag – aber doch nicht, wie es ankommt und was es wirklich bewirkt.
    Das ist ein auf-den-Kopf-stellen dessen, was ich für richtig halte.
    Deshalb ist Herr Haller aber doch nicht mein Feind.(?!) Ich bin nichtmal wütend, obwohl Selbstgefälligkeit in verantwortungsvoller Position ein vergleichsweise guter Grund wäre. Ich mag nur, wenn zu Sinnen gekommen wird! Ich und Andere sind zu Sinnen gekommen (wir wissen jetzt, was vielfach vorsätzlich gemacht und gar propagiert wird, u.a. durch Herrn Haller), Herr Haller noch nicht (u.a. weil ihm schlicht egal ist, was Leser wie wahrnehmen, wollen und bereit sind zu bezahlen sowie von Journalisten erwarten).

    Also, Holger, nach Ihrem Bashing meiner ellenlangen Kommentare nun Butter bei die Fische – wir müssen uns ja nicht mögen, aber wenn wir diskutieren, doch bitte mit Substanz –, Danke!

    PS: Herr Haller sagt zwischendurch sicher auch gute und richtige Sachen (bin noch nicht durch). Das will ich gar nicht in Abrede stellen. Und ich will ihn ja (trotz vermeintlicher aktueller charakterlichen Schwächen) nicht als Mensch verdammen o.ä.
    Es bleibt jedoch wesentlich, dass er sich in grundlegenden Aspekten m.E. völlig daneben benimmt (und eben auch keinen Anlass zu kritischer Selbstreflexion sieht, obwohl er allein in diesem Thread einiges Erschrecken und Enttäuschungen ausgelöst hat). Ist dies nun auch eine Beschimpfung, Holger, und wenn ja: wodurch?

  79. (bzgl. Interview Herr Haller: Hmm, nun sind Reportagen für den Experten verdichtet zu „subjektiven Erzähltexten“, die erst „durch ein etwas anderes Realitätsverständnis“ „ihre Aussagekraft“ „gewinnen“. Wobei eben dieses Realitätsverständnis an sich vorsätzlich so subjektiv und spitzfindig oder für mich zu hochintellektuell ist, dass es weder konkret definiert werden kann, noch sinnvoll begründet, warum es mal falsch und bei seinen Beispielen aber irgendwie richtig ist, die Grenzen zur Realität bewusst zu verwaschen – kein Wunder, dass ich nicht verstehe, wie er das genau meint, was dann dabei rauskommt / rauskommen soll / keinesfalls passieren darf in Anbetracht solchen .. „Realitätsverständnisses“.
    Z.B. hier verstehe ich gar nichts mehr, insbes. wenn ich an seine vorherigen Beispiele denke: „Ich produziere keine Lügengeschichte, wenn ich Verhaltensmuster durch Verdichtung herausarbeite. Ich würde aber lügen, wenn ich aus zwei oder drei Protagonisten meines Themas ein Subjekt machte, sie quasi aufeinanderlegte. Das wäre Fiktion. Man muss unterscheiden können zwischen Kulisse und Bühne.“)

  80. @83 und 87 Jens: „Also bitte: Nennen Sie, wenn Sie derlei behaupten, mal eine Unterstellung/Beschimpfung/Feindausrufung in #80-#83!“
    Bitteschön, hier eine Auswahl:
    Zu Ihren Beschimpfungen in #83: „chuzpastische Selbstherrlichkeit“, „beschämend ( …) anscheinend charakterlich“ (empfinde ich als ziemlich abgefeimt), „derlei Lug und Trug, Abgehobenheit und Desinteresse“: Für mein Geschmack machen Sie hier beides, Unterstellung und Beschimpfung. Und: „Egozentrik und Egoismus“ und „aktuelle charakterliche Schwächen“. Da frage ich mich: Rasten Sie deshalb so aus, weil sich Haller mit Ihnen nicht streiten will? Haller wolle „uns nach aller ‚Kunst‘ verar.. bevormunden“. Ich glaube, Sie sollten sich selbst fragen, warum Sie sich durch Argumente bevormundet fühlen.
    Dann in 88: „Selbstgefälligkeit“: Ist selbstgefällig, wer Ihren Vorhaltungen nicht folgt?
    Jetzt ein paar Ihrer Unterstellungen: „dass Herr Haller meint, diese Verdeutlichungen seit Jahrzehnten in seinem Buch und nach all seinen Anwürfen in dieser Diskussion auch hier für entbehrlich, unwichtig, irrelevant zu halten.“ Auf was stützen Sie was? Zur Freiheit des Individuums gehört u. a., sich von Diskussionen zu verabschieden, wann es will und warum es will. Oder ist nur in Ihrem Sinne „wertvoll“, wer sich mit Ihnen herumbalgt? Komisch. #88: „weil ihm schlicht egal ist, was Leser wie wahrnehmen“. Woher wissen Sie das? Markworts Focus-Leitspruch „und immer an die Leser denken“ hat dort zu keinen guten Reportagen geführt.
    Und Ihr „Vorsätzlich: Pustekuchen“: Haben Sie damals (ich denke: 1987 oder 88) denselben Job in derselben Intensität am gleichen Ort gemacht wie „Holger“? Sie treten als Verfechter der Faktentreue auf. Wenn Sie das sind, dürften Sie nur konstatieren: Ich habe damals keinen vergleichbaren Job gehabt/gefunden. Schluss.
    „Alles andere ist gelogen“: was ist bei Ihnen „alles andere“? Oder „zusammen-Phantasiertes“: Was genau wurde ‚phantasiert‘? Dass die Holger-Szene nicht phantasiert wurde, ist doch offenkundig.
    Ihre Kritik am Vergleich von [Ton ab] (#83): Nach meinem Verständnis stimmt die von [Ton ab] genannte Parallele. Was im Radio O-Ton ist, ist im Text das wörtliche Zitat. Das Nachsprechen wäre im Text das indirekte Zitat. Haller schreibt, dass die Zitate echt sind, also O-Ton.
    Zu #88: Sie erfinden eine These (Kunst darf alles) und schieben sie dann Hallers Argumentation unter: „dieses ‚alles‘ ist aber empörend und zu verdammen, wenn Andere was machen, was nachvollziehbarerweise Viele für empörend halten.“ Soweit ich sehe, hat Haller sowas nirgendwo gesagt.
    Beispiel leere Polemik: „Freigeist und Kunstschöpfer“. Absolut nichts in diese Richtung finde ich in Hallers Lehrbuch.

    #88. Sie schrieben: „Also, Holger, nach Ihrem Bashing meiner ellenlangen Kommentare nun Butter bei die Fische –wir müssen uns ja nicht mögen, aber wenn wir diskutieren, doch bitte mit Substanz“.
    Finden Sie wirklich, dass Ihre Beschimpfungen die von Ihnen erwünschte Substanz ausmachen?

    Unter #89 empfinde ich Sie ehrlicher und sachlicher. Da schreiben Sie über Hallers Darlegung zum Realitätsverständnis: „hier verstehe ich gar nichts mehr.“ Okay. Aber seien Sie jetzt nicht beleidigt, wenn ich Ihnen einen Tipp gebe: nachlesen. Ich habe die Beiträge der unstrittig exzellenten Reporter in Hallers Buch gelesen. Zum Beispiel Jürgen Leinemann. Er redet u. a. über die „Ausschnitts¬vergrößerung der Wirklichkeit“ und nennt „als Ideal (…) eine plötzliche, symbolträchtige Verdichtung des Geschehens“ (S.249). Sibylle Krause-Burger sagt, was die „Kunst (!) der Reportage“ ausmache. Nämlich „Sinn für die Wahrheit, die sich hinter (!) dem Phänomen verbirgt“ (S. 262). Oder Cord Schnibben: „Die Reportage ist immer eine Inszenierung. Eine Inszenierung, in der zwar nicht die Wirklichkeit nachgestellt, aber durch die Auswahl von Orten und Personen bestimmt wird.“ (S. 274) Für ihn wichtig sei, „…das richtige Wort zu finden für das, was man gesehen, gedacht und empfunden hat“ (S. 280). Empfindungen kann niemand überprüfen. Und Jana Simon erklärt, wie sie einen Ablaufplan am Schreibtisch entwirft (S.269). Usw. Solche Sachen spricht Haller im taz-Interview an und nennt sie das andere Realitätsverständnis der Reportage. Ich kann das nachvollziehen.
    Wahrscheinlich beschimpfen Sie jetzt mich. Trotzdem: Aus meiner Sicht sagt er völlig Richtiges.

  81. #90: Zunächst einmal Danke, dass Sie sich tatsächlich die Mühe gemacht haben!

    Inhaltlich: Ich hoffe, nach dem ersten Satz geht es substantieller weiter. Denn es geht ja nicht darum, ob ich Herrn Haller bzw. sein Tun angenehm beschrieben habe (sicher nicht) oder gar gelobt. Sondern darum, ob das, was scharf und für ihn sicher (und ja auch Sie) unangenehm zu lesen ist, aus der Luft gegriffen oder untermauert ist.
    Denn nur das Eine wäre Beschimpfung, das Andere ist – erschreckenderweise nicht einmal allzu überspitzte – Beschreibung!
    Richtig?

    Und natürlich ist ein herausragender Vertreter eines ganzen Berufsstandes selbstherrlich, wenn er einerseits dafür bezahlt wird, die Gesellschaft zu informieren – andererseits aber sich nichtmal dann für eben diese Gesellschaft interessiert, wenn er feststellt, dass sich diese (rückblickend seit Jahrzehnten) aber gar nicht informiert fühlt (und ja auch nur über des journalistischen Künstlers Tiefenverständnis in subjektiven Verdichtungen informiert werden soll, seiner Meinung nach, anstatt dass möglichst genau und meinetwegen auch stilistisch gewieft über Geschehnisse und Zusammenhänge berichtet wird). Und, wenn er daran scheinbar ohne Selbstprüfung dann auch noch nur alle denkbaren Anderen außer ihm schuld sein sollen. – Falls das nicht „selbstherrlich“ ist, geht’s hier um spitzfindige Wortdefinitionen; dann sagen Sie mir bitte, wie Ihr Verständnis von Selbstherrlichkeit aussieht.

    Dies in aller Öffentlichkeit einfach weiter durchzuziehen, ohne deren Feedbacks ernsthaft in Betracht zu ziehen, zeugt von Chuzpe.

    Was ich für beschämend halte (sowas!) ist nicht von Ihnen zu beurteilen, Holger.

    Wenn sich ein Verhalten durch Jahrzehnte zieht, lässt es Rückschlüsse auf den Charakter zu, denken Sie nicht – und wenn nein: wieso nicht?

    Ich denke, auch im Weiteren mache ich Beides: Die Dinge klar benennen, wie ich sie verstehe, und belegen, wie ich zu dieser Ansicht komme.
    Auch zu „Lug und Trug“. – Ich habe Herrn Haller aber nie unterstellt, dass er lügt und betrügt, UM zu desinformieren – verwechseln Sie das nicht! Nein, der Herr .. geht seiner „Kunst“ nach!?!

    Das wiederum ist abgehoben (von uns, den Lesern, und von seiner Berufsbeschreibung!).

    Und es, sowie o.g., zeugt von seinem gänzlichen Desinteresse.

    Können Sie mir bitte mal etwas aufführen, was nicht nur irgendein Gefühl in Ihnen weckt, weil Sie den Herrn so gern mögen oder mich so doof finden oder warumauchimmer? Können Sie bitte mal etwas ausführen WARUM etwas, das ich schreibe, FALSCH ist?
    Denn, dass es Ihnen echt voll nicht passt, hätten Sie einfach in 1 Satz schreiben können.

    Nun hoffe ich im Weiteren auf mehr Interesse an einer sachlichen Auseinandersetzung – das Treffen der anonym entrüsteten Medien-Fanboys ist nur 1x im Monat freitags (hehehe). Im Ernst jetzt!

    Ups, da sehe ich gerade noch eine Frage – Danke, fragen macht Sinn!
    Nein, „selbstgefällig“ ist z.B., wer sich selbst gefällt – und auch dann, wenn ihm Kritisches von vielen Seiten um die Ohren gebratzt wird (wie hier im Thread), partout für besser / wissender hält, und trotz allem Kritikwürdiges nur bei allen möglichen Anderen sehen will. Dies selbst dann, wenn ihm was einfällt, wie er sich in Zukunft noch besser verhalten kann (nächste Auflage des Buches, welches in Auszügen viele hier inkl. Herrn Niggemeier und mir völlig vor den Kopf stößt; nach dieser Diskussion hier noch mehr – eben weil Herr Haller so selbstgefällig schreibt, auch hier!). Schuld und doof sind immer die Anderen, Weisheit mit Löffeln gefressen, gänzliche Missachtung auch gut belegter und teils sehr einfühlsam und nachvollziehbar formulierter Kritik bzw. der guten Gründe, zu dieser Sicht zu kommen, bzw. aller der Menschen, die diesen Standpunkt äußern.
    Das IST Selbstgefälligkeit. Das zeugt sogar noch von weitaus tiefgreifenderen Schwächen, die ihn von unserem Verständnis seines Berufes disqualifizieren (genau: weitreichendere Kritik ist kaum vorstellbar) – alles ziemlich ernstzunehmend, denke ich. Für Sie aber einfach nur unangenehm klingende und dadurch (?) unangemessene „Beschimpfung“. Nichts, das einer sachlichen Auseinandersetzung wert ist.

    Bisher zumindest. Ich will Ihnen, und schon gar nicht Ihrer Person oder Ihnen im Ganzen, an den Karren fahren – aber ich weiß, dass ein Austausch von Befindlichkeiten und entsprechende Schuldzuweisungen keinen Sinn ergibt, weil er keine Aussicht auf Klärung hat; wir kennen uns ja nichtmal, Holger, und was haben Sie mit meinen oder ich mit Ihren Befindlichkeiten zu tun?

    Aber es macht Sinn, über grundsätzliche Wertvorstellungen und Verhaltenskodi eines für unser aller Demokratie WESENTLICHEN Berufsstandes zu diskutieren. Das möchte ich gern, auch und besonders mit Ihnen. Also: Bis bald!

  82. #90 [einige weitere Ihrer Anwürfe könnte ich wie die davor beantworten – ist uns aber vielleicht beiden die Zeit zu schade für..]

    Auf was ich dies stütze? Auf seine Aussagen im Buch und Thread, also auch auf seinen (Nicht-) Umgang mit Kritik und darauf: Er macht es nicht! (verdeutlichen) Also: Ich sehe, er hält es für entbehrlich – denn was er für unentbehrlich / wichtig / relevant hält (v.a. Zurechtweisungen Anderer, u.a. Herrn Niggemeier), das tut er auch.
    Nur: Worauf stützen Sie Ihre totale Ablehnung meiner Aussagen, Holger? Auf Ihre Interpretation (dass ich ausrasten würde, was für Gründe ich dafür dann haben könnte, und dass deshalb.. was ich in echt gar nicht mache, nicht als Grund habe und nicht tue, z.B. ausrasten. Mit Verlaub: Wie frech von Ihnen!)? Auf Ihren „Geschmack“?
    Gut, darüber lässt sich nicht streiten. Also: Worum streiten wir hier?
    Ich streite um sachdienliche Hinweise auf etwas Unrichtiges, das ich geschrieben haben könnte, und warte bisher vergeblich.

    Ähem, kurz und chronologisch (ab „nur wertvoll, wer sich mit Ihnen herumbalgt?“): Nein. — Weil keinen Bezug dazu herstellt. — Ich interessiere mich nicht für Lorbeeren der 80er, sondern für die Sicht 2019, Holger. — Alles andere ist das, was vom Beschriebenen maßgeblich abweicht. — Phantasiert wurde, was unabhängig vom tatsächlich Stattgefundenen beschrieben wird (Haller-Sprech: „Verdichtungen“, „Zusammenfassungen“, Tiefenverständnis und unkommentierte Abstimmungen mit von Verfälschungen Betroffener, immerhin, sowie künstlerische Freiheit, die allgemein besteht – wenn auch nur im Rahmen dessen, was Herr Haller in den 80ern, seitdem oder wahlweise heute für legitim hält. Nach konkreten, nachvollziehbaren Regeln oder Maßgaben hierfür bin ich, inzwischen hoffnungslos, auf der Suche, u.a. mittels meiner unendlich langen Kommentare!); dies sogar im Kleide von Berichtetem. Das weiß Herr Haller ja längst: Dass wir Leser dachten, er bzw. in solcher Art würde berichtet, was tatsächlich geschah. Auch wenn und besonders dann, wenn es „Reportage“ heißt. Ich weiß bisher nur: Herr Haller sieht genau dies völlig anders! Dies trotz der Tatsache, dass er allgemein ein Augenmerk auf Ethik an sich und auch seine Verantwortung hat; macht genau dies meine Fragestellung nicht umso interessanter? Worauf stützen sich Herrn Hallers so unterschiedliche Einordnungen von Statthaftigkeit und dem generellen Auftrag von Journalisten? Wieso frönt er Künsten, wo ich, andere Leser und sogar einige seiner Kollegen Handwerk und Wirklichkeitstreue erwarten? — Ja, ich finde wirklich, dass ich substantielle Gründe für meine Sicht habe, diese möglichst transparent zu machen suche (deshalb isses ja immer so lang) und dies alles durchaus Möglichkeit bietet, sinnvollen Bezug herzustellen, anstatt mir lange Beschwerden über mich durchlesen zu müssen. Und darüber, was ich wohl für Gründe habe, bisher Unwiderlegtes zu schreiben – fangen Sie doch einfach mal damit an: Zeigen Sie auf, was nicht stimmt. Gern mittels Darlegungen, warum es nicht stimmt.

  83. Zuletzt (übrigens merke: Tipps kommen v.a. gut an, wenn man in ihnen nicht einen Vorwurf von Unehrlichkeit unterbringt, den ich bittesehr dann auch belegt haben will! Und: Die Sache – außer vielleicht für Sie!?? – bin gar nicht ich. Sondern die Haltung zum Journalismus. Auch von Einem, der genau dies lehrt!):
    Mir fehlt die Grundlage – nämlich ein Verständnis wie mich ein Fremder beleidigen könnte, wenn er sich etwas über mich ausdenkt, und sei es noch so schlimm oder von Dummheit zeugend, was dabei herauskommt. Kurz, Danke: Bin nicht beleidigt. Sie? Wollte ich nicht.

    Und: Ihr Tipp geht ins Leere. Denn mein Unverständnis Haller’s & Co. ergeht eben genau aus der Tatsache, dass ich alles, worauf sich bezogen wurde (zumindest von mir) bereits gelesen habe! Dass möglicherweise irgendwer irgendwo anders irgendetwas geschrieben hat, was in diesem oder ähnlichem Zusammenhang auch interessant sein könnte: Geschenkt.
    Zudem: Ich schreibe sehr deutlich, worauf genau ich mich jeweils beziehe. Das ist nicht sein (ganzes) Buch. Auch wenn Sie es gelesen haben. Und: Es geht übrigens auch nicht um Sie.

    Aber es geht (auch) um das, was Sie beizutragen haben zu dem, worum es geht: Haltung zum Journalismus und dem, was hierzu im Artikel und nachfolgenden Thread u.a. von Herrn Haller aufgezeigt wurde, bzw. eben unbeantwortet bleibt.
    Ich bitte Sie, im Weiteren eher darauf Bezug zu nehmen als auf mich und insbesondere auf meine vermeintlich fiesen und/oder dämlichen Beweggründe sowie intellektuellen Kapazitäten. Danke für Ihren Respekt!

    PS: Kunst. Herr Haller widerlegt Sie im Thread und im dort verlinkten Interview von 2019. Sie sich selbst tendenziell durch Krause-Burger. „Kunst darf alles“ wie auch „in der Kunst und in der Liebe ist alles erlaubt“ und „künstlerische Freiheit“ sind geflügelte Wörter bzw. humanistische Kernpunkte, und somit keineswegs Dinge, die ich mir ausdenke oder auf die es unstatthaft wäre, sich zu beziehen. Was soll denn derlei?
    Lassen Sie uns doch bitte in der Sache (s.o.) versuchen, voran zu kommen. Danke.

    „Wahrheit“ ist nicht etwas, das man einfach erfasst und zusammenfassen kann, weil man einen „Sinn dafür“ hat; schon gar nicht, wenn es ich dabei „hinter Phänomenen verbirgt“(?). Wahrheit ist etwas, das man suchen muss, um dann bestenfalls eine Annäherung an diese zu finden, obwohl sie immer im Auge des Betrachters (also sowohl des Journalisten, als auch des Lesers) bleibt. Wenn man und weil man „Wahrheit“ für wichtig genug hält. – Man kann höchstens das Gefühl haben, das man „Wahrheit“ auch anders erlangen kann; aus einem selbst heraus, z.B. aufgrund überlegener Position oder vorauseilend tiefenscharfer Inszenierung (sorry, Ihrem ganzen letzten Absatz kann und mag ich nicht folgen; das ist für mich realitätsfernes Geschwafel von Bevormunderinnen – nichts, was den man an sich oder den Leser im Besonderen tatsächlich ernst nimmt, sich selbst aber und wasimmer man tut gar sehr.. Ehrlich gesagt hat es satirische Elemente, wenn zu in diesem Zusammenhang ausgerechnet solche Zitate vortragen). Dabei schwebt man in ständiger Gefahr, dass man als Wahrheit akzeptiert, was man selbst grad warumauchimmer für „wahr“ halten mag. und deshalb nicht weiter zu suchen, zu belegen, wie stattgefunden darzustellen braucht. Wie Herr Relotius. Wie Herr Haller, wenn auch anders. Vorsätzlich uneinschätzbar für den Leser, wie ich diesem Thread entnehme bisher.

    Um Ihre Worte aufzugreifen: Wahrscheinlich fühlen Sie sich – u.a. dadurch, dass ich jede einzelne Ihrer Fragen nach bestem Wissen und Gewissen möglichst deutlich beantwortet habe, bzw. natürlich wie und mit welchen Intentionen ich dies tat! – beschimpft.
    Trotzdem geht es mir weiterhin einzig um o.g. und bisher kaum referenzierte Sache – Journalismus und Haltung, v.a. 2019!

    Bis zu Ihrem Bezug zu nämlichem ernsthaft (ich meine die Dinge wirklich so, wie ich sie schreibe – und nicht etwas, das ich damit auszudrücken versucht haben könnte, anstatt es zu schreiben; das macht nämlich keinen Sinn aus meiner Sicht und verkompliziert die Dinge ungemein. Auch meinen Dank an Sie, Holger, und auch das Folgende) sowie herzlich: Alles Gute!

  84. Hallo,
    als bisher unbeteiligter, nicht „journalistisch“ tätiger Leser blieb bei mir bei dem Fall Relotius und den Aussagen Herrn Hallers nur ein Eindruck hängen.
    Realität spielt für den Spiegel und auch andere „namhafte“ Medienhäuser genau so wenig eine Rolle wie bei Axel-Springer Produkten.
    Ich bitte Herrn Haller schon mal um Entschuldigung, aber als interessiertem Leser mehrerer Zeitungen war mir bisher nicht klar dass Journalismus offensichtlich daraus besteht ein Bild „stimmig“ zu machen, den Vorurteilen des Schreibenden zu folgen und sich eine Realität zurecht zu zimmern.

    Das schlimme ist, dass in meinem Freundeskreis bisher nur die Bild als das Drecksblatt bekannt war.

    Nach dem Fall Relotius und Herrn Niggemeiers Artikel setzt sich in meinem sozialen Umfeld die“ Erkenntnis“ durch „die lügen doch eh alle“, da kann ich auch gleich die Bild kaufen.

    Ich denke durch freies Erfinden von Figuren, Überzeichnen von Situationen und „herumlabern“ um Sachen die so nicht sein können, oder die ein Reporter nicht wissen kann, aber gut zur Stimmung passen würden haben der Spiegel und andere Medienhäuser dem Journalismus insgesamt einen Bärendienst erwiesen.

    Dazu kommt noch, dass ich nicht bereit bin für Belletristik Geld auszugeben, wenn ich eine Zeitung kaufe. Die kaufe ich für Informationen und nicht „Gelaber“

  85. Herr Sterz, wenn Sie – zu Recht – von Journalisten erwarten, dass sie genau arbeiten und nicht unzulässig vereinfachen oder Aussagen verdrehen oder „stimmig“ machen, sollten Sie sich aber auch die Mühe machen, Artikel genau zu lesen und Ihrerseits nicht unzulässig zu vereinfachen oder zu verdrehen. Ich habe das Gefühl, dass Sie da sehr pauschal und ungerecht urteilen.

  86. Hallo Herr Niggemeier,
    Sie haben Recht dass ein pauschales Urteil nicht allen gerecht wird.

    Für mich als Zeitungskonsument ist jedoch dass Problem nach Relotius (immerhin einem „ausgezeichneten“ Journalisten) und Ihrem Artikel mitsamt der nachfolgenden Diskussion dass ich mitnehme das eine „Verdichtung“ und eventuell auch ein Erfinden von Akteuren (wie mit dem Amerikaner der auf einem Schiff in der UDSSR unterwegs gewesen sein hätte können) von einigen Journalisten als legitim angesehen wird, so das ich keinerlei Vertrauen mehr in die Produkte „journalistischer“ Kunst haben kann.
    Das wiederum ärgert mich, weil es letztendlich dazu führt dass ich auch bei Nachrichtenquellen die ich bisher als vertrauenswürdig eingestuft hatte, zukünftig einfach davon ausgehen muss dass die Hälfte erfunden ist und die andere Hälfte zurechtgebogen.

    Dazu kommt noch, dass offensichtlich weder beim Spiegel noch bei den Preisverleihenden Institutionen irgendeine Art des Faktenprüfens stattgefunden hat.
    Im Endeffekt führt das dazu dass ich zukünftig einfach an jeden Artikel, nicht nur an Reportagen mit dem Wissen herangehen muss: Fakten werden wenn überhaupt nur rudimentär überprüft und wenn der Journalist eine Geschichte braucht ist es legitim Personen zu „kumulieren“ oder zu erfinden.
    Wer sagt mir denn dass Fakten in anderen Bereichen korrekter dargestellt oder auch nur recherchiert werden?

    Und diese Frage die sich mir, auch, durch Ihren Artikel stellt führt bei mir zu echter Verärgerung und hat dazu geführt dass der Spiegel an mir einen Kunden verloren hat. Dazu kommt noch ein Gefühl des „für dumm verkauft werden“, belügen lassen kann ich mich auch von Axel-Springer-Produkten.

  87. #83 ff und #91ff.: Irgendwie schade. Ich wollte ein paar Argumente gegen den Mainstream hier („den Journalisten wurde erlaubt zu phantasieren“ und so Zeugs) vorbringen. Ich hab mich auf eine Diskussion gefreut. Jetzt lese ich in Jens‘ Schwall nix Neues (mag an mir liegen), stattdessen: more oft he same (aus Quantität wird nicht Qualität). Und viele hier wollen gleich den Journalismus in die Tonne treten. Warum? Sie wollen an die fotografisch genaue Abbildung der Realität glauben. Wie Kinder, die hinter den Spiegel greifen. Solche Abbilder gibt es nicht. Selbst der Fotograf wird geleitet von seiner Intention. Und seinem Blick. Seiner Kamera. Seinem Bildbearbeitungsprogramm. Usw. Das unterscheidet ihn vom Automaten. Haben Sie sich, lieber Jens, mal dafür interessiert, wie der weltberühmte Dokumentar(!)fotograf Nachtwey seine Fotos bearbeitet? Da wackeln Ihnen die Ohren. Sinngemäß, so versteh ich Haller, arbeitet auch der Reportagenschreiber (anders der Polizei- oder Sportreporter. Die berichten). Andersherum: Mit welchen Mitteln kann der Reporter den Lesern das vermitteln, was Sie (#93) „Wahrheit“ nennen? Polizeimeldungen und Fußballberichte bringen Fakten. Aber keine Wahrheit. Jedenfalls nicht für mich.
    Ich hab hier viele Ansichten und meistens dieselbe Meinung kennengelernt. Für mich ist die Schlüsselfrage so offen wie zuvor: Wie weit kann, soll, darf eine Reportage gehen, wenn sie einen Blick auf Wahrheiten in (oder sagen wir: hinter) der Wirklichkeit geben soll? Schon Niggemeier ist dieser Schlüsselfrage aus dem Weg gegangen. Entsprechend hat er der Debatte die Stoßrichtung gegeben. Ich sag‘s mal so: Niggemeier hat sich an Hallers „Holger“ und „Eddy“ abgearbeitet (okay), aber an seinem Schlüsselthema „Wahrheit der Reportage“ vorbeigemogelt. Aus und vorbei. Mir kommt jetzt der altschöne Abschiedsspruch in den Sinn: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“.

  88. „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen“. Holger. #97. Nicht eine einzige, von mir an Sie, aufgrund Ihrer Einlassungen zu meinem Geschreibsel und ziemlich umfangreich erläuterte sowie direkt an Sie gerichtete Frage halten Sie für wert zu beantworten. – Das ist schade, denn dann drehen zumindest Sie sich tatsächlich weiter einfach in Ihrem Gedanken-Universum, und es gibt keinerlei Möglichkeit zur Diskussion, Austausch, Auseinandersetzung, Entwicklung. – Dies nachdem ich auch die vermessendsten Ihrer Fragen sämtlich beantwortete. Wofürinallerwelt mag eine solche Art des Umgans „miteinander“ (einseitig am anderen völlig vorbei) gut sein aus Ihrer Sicht?

    Dass Sie stattdessen über mich persönlich und nicht weiter benannte Mit-Kommentatoren wiederum meinen herum-fabulieren zu müssen („Sie wollen…“), ist nicht konstruktiver. Zudem es natürlich Humbug ist, natürlich will ich / wollen diese nicht („… an die fotografisch genaue Abbildung der Realität glauben“). Das ist Ihnen auch klar, denn Sie sprechen offensichtlich nicht mit Kleinkindern. Aber: Sie wollen es trotzdem so darstellen. (woher ich das weiß? Sie schreiben es so.). Das geht an uns, an dem was wir schrieben, an dessen Bezug zum und am eigentlichen Thema vorbei.

    Nun bitte ich Sie, die genannten Fragen an Sie zu beantworten, Danke im Vorhinein. Wenn Sie partout nicht möchten, unterlassen Sie zumindest öffentliches, recht zusammenhanglos wirkendes Spekulieren über Intentionen anderer Menschen, uns, mir – das sagt viel mehr über Sie aus als über mich/uns. – Als Anregung beantworte ich auch Ihre neueste Frage an mich: Nein, ich habe mich bis jetzt nicht dafür interessiert, aus vielen Gründen. Und: Das über „Wahrheit“ lesen Sie besser nochmal, Holger; so ist Ihre Frage nicht beantwortbar, weil es am Basisverständnis fehlt.
    Ich denke aber, eine Diskussionsebene wird sich automatisch ergeben, wenn Sie sich nach Ihren sehr konkreten Ausführungen nun auf eine solche einlassen, ergo: nicht nur meine Antworten auf Ihre Fragen lesen, sondern meine Fragen an Sie beantworten..

    Ich finde übrigens nicht, dass sich Herr Niggemeier um die Frage bzw. das Thema „Wahrheit der Reportage“ herummogelt; er hat sie für mich aufgeworfen und hier zu höchst konträrer Diskussion gestellt. Möglicherweise habe ich auch nicht verstanden, wie Sie das meinen. Oder auch, was aus und vorbei ist; scheinbar liest Herr Niggemeier mit und kommentiert gfs.
    Apropos Meinung: Ich habe noch immer nicht verstanden, was Sie für eine Meinung / Sicht zu irgendwas mit eben dieser „Wahrheit der Reportage“ in Zusammenhang Stehendem haben – nur einige widersprüchlich wirkende Statements, und eben die Darlegung Ihrer Sicht von Unzulänglichkeiten von vielen von uns, inklusive des Artikelautors.
    Ist aus Ihrer Sicht Herrn Haller’s Lehrbuch-, zwischenzeitlich zu diskutierender und inzwischen aus all dem entwickelter Meinung zu Fakten-und Wahrheitstreue das, was man von Journalisten erwartet bzw. erwarten können sollte – und wenn nein, wie differiert Ihre Sicht zu Herrn Haller’s & Co., bzw. zu mir und zahlreichen anderen erschreckten/enttäuschten Lesern?

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