Gute Zuwanderer, schlechte Zuwanderung: So unausgewogen waren die Flüchtlings-Berichte
In der Zeit der großen Flüchtlingswelle 2015/16 haben die wichtigsten deutschen Medien Zuwanderer sehr positiv dargestellt. Aber die Zuwanderung sehr negativ. Und das Bild, das diese Medien von der Zusammensetzung der Flüchtlinge aus Männern, Frauen und Kindern zeichneten, entsprach ziemlich genau dem tatsächlichen Verhältnis dieser drei Gruppen.
Das sind Ergebnisse einer Untersuchung der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität, die in der Fachzeitschrift „Publizistik“ veröffentlicht wurde. Sie widersprechen teilweise der weit verbreiteten Einschätzung, dass die Medien grob verzerrend über Flüchtlinge berichtet hätten.
Sie bestätigen aber auch nicht, dass die Berichte von „Bild“ über das Thema „ausgewogen“ waren, wie das Blatt heute stolz auf Seite 1 behauptet.
Frauen und Kinder zuerst?
Das erhebliche Misstrauen größerer Teile der Bevölkerung in die Berichterstattung über das Flüchtlings-Thema ließ sich schon im Herbst 2015 messen: Im Oktober ermittelte das Institut Allensbach, dass 47 Prozent der Befragten die Berichterstattung der Medien über die Flüchtlingssituation als einseitig empfänden, nur knapp ein Drittel als ausgewogen. Im Dezember hatte sich das Urteil ein bisschen gebessert, aber 53 Prozent gaben zum Beispiel an, dass die Medien ihrer Meinung nach kein zutreffendes Bild der Flüchtlinge zeichneten.
Bis heute wird gerade dieser Vorwurf wiederholt: Dass die Medien fast nur Frauen und Kinder gezeigt hätten, während in Wahrheit ganz überwiegend junge Männer nach Deutschland kämen.
Die Mainzer Forscher um den Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer haben die Berichterstattung von sechs Medien zwischen Mai 2015 und Januar 2016 ausgewertet: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Süddeutsche Zeitung“ und „Bild“ sowie jeweils die Hauptausgaben von „tagesschau“, „heute“ und „RTL aktuell“.
Sie haben dabei auch gezählt, wie oft bei den Zuwanderern Männer, Frauen oder Kinder in Text oder Bild erwähnt wurden. 2015 hätten Männer rund 50 Prozent der dargestellten Zuwanderer ausgemacht, Frauen knapp 20 Prozent und Kinder gut 30 Prozent. Das entspreche ziemlich exakt der tatsächlichen Zusammensetzung der Neuankömmlinge laut offizieller Asylstatistik.
Die Diskussion im Herbst 2015 über die angeblichen Verzerrungen in den Medien war ihrerseits von grob verzerrten Zahlen geprägt: Der Anteil junger Männer soll 70, 80, 85 Prozent betragen haben, hieß es damals. Auch Kai Gniffke, der Chefredakteur von ARD-aktuell, verbreitete eine solche Zahl: „80 Prozent der Flüchtlinge sind kräftig gebaute, junge Männer.“ Das sei ein großes Missverhältnis zur Darstellung in der „Tagesschau“, wo „meistens Frauen, Kinder“ gezeigt würden, wie er selbstkritisch einräumte.
Tatsächlich kamen in der „Tagesschau“, anders als in den anderen untersuchten Medien, laut der Mainzer Untersuchung Frauen und Kinder überproportional häufig vor: Sie machten 64 Prozent der verbalen Erwähnungen aus, 54 Prozent der bildlichen.
Gute Leute, schlechte Sache
Flüchtlinge wurden von den Medien in dieser Zeit außerordentlich positiv dargestellt. In der Studie heißt es:
„Bis in den Herbst 2015 wurden Zuwanderer in den von uns untersuchten Medien fast ausschließlich positiv bewertet. Nach der Entscheidung, die Grenzen nicht zu schließen, ließ die Medieneuphorie zunächst merklich nach. Zur Weihnachtszeit verbesserte sich das Bild (…) wieder deutlich, bevor die Vorfälle in der Silvesternacht die mediale Stimmung endgültig ins Negative kippen ließen.
Die einzelnen Medien unterscheiden sich aber deutlich. Über den ganzen Zeitraum gerechnet berichteten FAZ und SZ überwiegend positiv, ARD, ZDF und RTL fast ausschließlich positiv – nur bei „Bild“ hielten sich positive und negative Darstellungen etwa die Waage.
(Die Forscher nehmen als Maßeinheit den Saldo aus positiven und negativen Darstellungen und geben ihn als Prozentwert an. „Bild“ kommt so auf minus 3 Prozent; ARD und ZDF auf rund plus 74 Prozent.)
Doch die positive Darstellung der Zuwanderer, also der Personen, ist nur die halbe Geschichte. Die Wissenschaftler untersuchten auch, wie die Zuwanderung an sich dargestellt wurde: Wurde sie eher als Chance behandelt (kulturelle Bereicherung, Demographie) oder als Gefahr (Kosten, Kriminalität)?
Ihr Ergebnis: In allen untersuchten Medien „wurde die Zuwanderung bei weitem überwiegend als Gefahr dargestellt“. In der SZ war das mit einem Saldo von minus 34 Prozent noch am wenigsten der Fall. Beim ZDF lag der Wert bei minus 59 Prozent. Und niemand berichtete so einseitig negativ über Zuwanderung als Gefahr wie die „Bild“-Zeitung: der Saldo betrug hier minus 62 Prozent.
Diesen Negativ-Wert lässt die „Bild“-Zeitung in ihrer heutigen Eigenjubelberichterstattung über die Studie auf den Seiten 1 und 2 komplett weg. „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt feiert sein Blatt in einem Kommentar:
Eine aufwendige Studie der Uni Mainz belegt: Als einzige der untersuchten Medienmarken hat BILD 2015 und 2016 ausgewogen über die Flüchtlingskrise berichtet. Positive wie negative Geschichten erschienen gleichermaßen in BILD, wir berichteten über Chancen und Probleme, über Erfolgsgeschichten, aber auch über Skandale und Verbrechen.
Nein, das belegt die Studie nicht. Sie attestiert „Bild“, dass das Blatt mehr als alle anderen untersuchten Medien Zuwanderung als Gefahr und nicht als Chance dargestellt hat – und das obwohl auch alle anderen Medien die Probleme in den Vordergrund stellten.
„So ist BILD“, hat Reichelt seinen Kommentar überschrieben, in dem er die Fakten so verdreht, bis sie so sind, wie er sie gerne hätte. Online trägt sein Stück den nicht erkennbar ironisch gemeinten Titel: „Für uns ist wichtig, was ist, nicht, was wir gerne hätten.“
Interessensabwägung
Als weiteren Indikator, um die Ausgewogenheit der Berichterstattung zu messen, untersuchten die Wissenschaftler, ob Beiträge explizit oder implizit den Bedürfnissen der Zuwanderer oder denen der einheimischen Bevölkerung Vorrang einräumten. Nur 15 Prozent der Beiträge waren in sich ausgewogen, legten also nahe, dass beide Interessen gleichermaßen zu berücksichtigen wären. Vor allem die FAZ räumte häufiger den Interessen der Einheimischen Vorrang ein (Saldo: minus 14 Prozent); vor allem die „Tagesschau“ häufiger den Interessen der Zuwanderer (Saldo: plus 34 Prozent).
Kriminalität
Die Arbeit untersuchte auch, wie über Kriminalität von Zuwanderern berichtet wurde. Ihr Fazit: Vor der Silvesternacht 2015/16 wurde eher unterproportional, danach eher überproportional berichtet. Im Januar 2016 explodierte die Zahl der Berichte über dieses Thema. Selbst wenn man die Beiträge abziehe, die sich direkt mit den Vorgängen in Köln befassten, so die Forscher, „berichteten die Medien in diesem Monat noch immer fast genauso häufig über andere Fälle von Flüchtlingskriminalität wie im gesamten Jahr 2015“.
Die Berichte konzentrierten sich vor allem auf Gewalt- und Sexualdelikte und ignorierten weitgehend Eigentumsdelikte, obwohl die über 70 Prozent der erfassten Delikte von Zuwanderern ausmachte. Das ist nicht erstaunlich, weil schwerere Straftaten generell die Kriminalitätsberichterstattung dominieren. Diese typische Verzerrung könnte aber auch beeinflusst haben, wie die Bevölkerung Zuwanderer wahrnimmt.
Einseitig, aber inkonsistent
„Wir haben sehr gemischte Befunde“, sagte Professor Maurer dem Evangelischen Pressedienst (epd), der am Freitag über die Studie berichtete. Im „Publizistik“-Aufsatz kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss: Die Vorwürfe weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber der Berichterstattung „trafen allenfalls teilweise zu“. Die Medien bildeten zum Beispiel relativ zutreffend ab, wer da nach Deutschland komme. Und:
Die Berichterstattung über die Zuwanderer selbst war vor allem bis zum Herbst 2015 und vor allem in den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern konsonant und einseitig positiv. Zugleich wurde die Zuwanderung als abstrakter Sachverhalt aber in denselben Medien ebenso konsonant und einseitig als Gefahr für Deutschland dargestellt. (…) Die Medien berichteten zwar einseitig, diese Einseitigkeit fielen jedoch nicht durchweg zugunsten der Zuwanderer aus.
Die Ergebnisse müssen vorsichtig interpretiert werden, wie auch die Forscher selbst einräumen. Vor allem Vergleiche der Berichterstattung mit externen Realitätsindikatoren seien generell und auch in diesem Fall mit Problemen verbunden. Sie seien dennoch „sinnvoll und nötig“ und könnten großen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen haben.
Auch die Norm der „Ausgewogenheit“ ist keineswegs eindeutig: Gilt sie auf der Ebene jedes Beitrages oder der Gesamtberichterstattung? Und ist es wirklich wünschenswert, genauso oft positiv über ein Thema oder eine Akteursgruppe zu berichten wie negativ? Ist Journalismus nicht schon dadurch regelmäßig „unausgewogen“, dass er auf Missstände aufmerksam macht und vor Problemen warnt?
Differenziertes Bild
Die Studie relativiert die Ergebnisse einer Untersuchung von Michael Haller für die Otto-Brenner-Stiftung, die die Berichterstattung als deutlich einseitiger darstellte, aber zu Missverständnissen einlud. Auf Übermedien haben wir sehr ausführlich (aber natürlich nicht wissenschaftlich) die Berichterstattung von „Tagesthemen“ und „Zeit“ zu diesem Thema ausgewertet. Es zeigte sich auch hier ein deutlich differenzierteres Bild, als der verbreitete Mythos einer von der Willkommenskultur besoffenen Medienwelt nahelegt.
Nachtrag, 14. Januar. Michael Haller formuliert in den Kommentaren Einwände gegen die Methodik der Studie.
Entschuldigung, aber die Kritik an dieser Studie geht mir hier einfach nicht weit genug.
1.) Die Beiträge in den diversen Medien wurden eben NICHT auf ihren journalistischen Inhalt hin ausgewertet, sondern letztlich stumpf gezählt. Das kann man mit erbsen, Autounfällen oder Wetterphänomenen machen, aber nicht mit Journalismus, der deutlich komplexer, vielschichtiger ausfällt.
2.) Das Zeigen von fliehenden Kindern und ihren Eltern mit statistischer Häufung dieser Gruppe an der Gesamtzahl der Flüchtlinge als „zu oft“ oder „zu selten“ zu bewerten entbehrt jeglicher Kenntnis über die Priorisierung journalistischer Berichterstattung. Wenn auf der Balkanroute Kleinkinder frieren oder im Mittelmeer Säuglinge ertrinken, zähle ich doch nicht vorher durch, wie oft das auch erwachsenen Männern passiert.
3.) Weil es sich offenbar nicht einmal in der vermeintlichen „Elite“ der deutschen Bildungslandschaft herumgesprochen hat: Die Tagesschau ist NICHT repräsentativ für die gesamte ARD oder gar die gesamten öffentlich-rechtlichen Medien! Damit ist eine Gleichsetzung dieser 15-minütigen Sendung mit dem gesamten Informationsangebot der ARD unzulässig und grob unwissenschaftlich. Man kann das übrigens auch anteilig sehen – und DAS sollten Statistiker doch können, oder? Schließlich bewerten sie ja offenbar auch das Schicksal von Kindern entsprechend.
„In der Zeit der großen Flüchtlingswelle 2015/16 haben die wichtigsten deutschen Medien Zuwanderer sehr positiv dargestellt.“
Vielleicht ist ja genau diese Diskrepanz einer der Gründe, wieso so viele Ressentiments gegen die „Flüchtlingspolitik“ aufkamen und wieso so viele Leute sich von den Medien verschaukelt gefühlt haben. Sie haben vielleicht gemerkt, dass da was nicht zusammenpasst?
@Sebastian Schöbel. Das ist keine statistische (quantitative) Studie, sondern eine qualitative Untersuchung, eine Inhaltsanalyse. Eine solche Analyse erhebt auch keinen allgemeinen Repräsentativitätsanspruch.
Welche Diskrepanz?
#1 Sebastian Ströbel:
Wobei die Studie doch sehr klar aussagt, und Übermedien das auch so rezipiert, dass lediglich die großen Nachrichten-Flaggschiffe von ARD und ZFD untersucht wurden (20Uhr-Tagesschau und 19Uhr-heute). Das dürfte angesichts der um ein vielfaches höheren Breitenwirkung dieser Formate gegenüber sonstigen öffentlich-rechtlichen Angeboten auch sehr gut vertretbar sein im Rahmen einer solchen Studie. Was genau meinen Sie denn mit Gleichsetzung?
Inwieweit die Studie die Prominenz der jeweiligen Berichterstattung berücksichtigt hat, ist aber sicher eine wichtige Frage. Für eine Aussage über die Ausgewogenheit der Berichterstattung reicht es natürlich nicht, einfach Artikel zu zählen, sondern es kommt entscheidend auf die Prominenz der Darstellung an. Auch die Studienmacher scheinen diese Probleme im oben zitierten Interview ja zu sehen.
Die Studie verallgemeinert sehr wohl was das Programm der ARD angeht, denn es wird von der Tagesschau auf „die öffentlich-rechtlichen“ Programme übertragen. Und sorry, aber es gibt dann doch noch ein paar mehr Sender/Sendungen/Ausspielwege als dieses eine Nachrichtensendung.
Was die inhaltliche Analyse angeht: Die ist eben nicht qualitativ sondern quantitativ. Denn es wird lediglich zwischen positiv und negativ unterschieden, aber das ist angesichts der vielen unterschiedlichen Formate kaum sinnvoll. Zudem bilde ich es mir sicherlich nicht nur ein, wenn ich meine, dass die etlichen Berichte über Migration auch 2015/16 in den ÖR deutlich differenzierter waren als „positiv“ und „negativ“.
Warum hat Übermedien die oben erwähnte Haller-Studie (entgegen der ersten Ankündigung: „wir lesen sie noch“) nie so im Detail besprochen wie jetzt diese neue Studie, von der jene „relativiert“ wird?
@C.Fischenich:
Falsch, es verhält sich genau andersrum: Es ist eben keine qualitative, sondern eine quantitative Inhaltsanalyse, die auch Anspruch auf eine gewisse Repräsentativität hat. Geht so auch aus dem Abstract hervor: https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs11616-018-00466-y
Ein erster Blick auf die Mainzer Studie zeigt, dass sie – anders als Stefan Niggemeier schreibt – die Ergebnisse der 2017 publizierten Studie der Otto-Brenner-Stiftung („Haller-Studie“) keineswegs „relativiert“. Ich will dies kurz erläutern.
Die Mainzer Untersuchung ging mit einer anderen Fragestellung (Wiedergabe von Fakten) und anderen Instrumenten (Kategorien) an einen anders definierten Untersuchungsgegenstand heran – und kam zu entsprechend anderen Ergebnissen. Ich will es mit einem Sinnbild verdeutlichen: Angenommen, die Welt der Ereignisse (Realität) wäre wie ein Supermarkt, randvoll mit den verschiedensten Lebensmitteln und Nonfood-Produkten, ganz nach dem Motto: für jeden, auch für Vegetarier und Veganer, gibt’s hier etwas. Die journalistischen Medienmacher greifen nun das heraus legen es in ihren Warenkorb, was sie für spektakulär und für ihre Lieben daheim für attraktiv halten (darunter leider auch sehr viele Pommes-Chips, Bier und Cola-Getränke).
Die Mainzer Kollegen sind nun der Meinung, in dem Warenkorb der Medien sollte das Gesamtangebot des Supermarktes repräsentativ abgebildet werden. Natürlich geht das nicht. Und darum haben sie sich auf eine Merkmals-Stichprobe (etwa: Herkunft, Geschlecht und Alter der Migranten, Polizeistatistiken) – in unserem Bild: auf Blumenkohl, Äpfel und Waschpulver – beschränkt. Ihre Auszählung ergab, dass im Vergleich mit dem Warenkorb der Forscher in dem der Medienmacher vielleicht etwas zu viel Waschpulver steckt, aber die Proportionen im Großen und Ganzen stimmen. Man hätte genauso gut auch Kürbisse, Kartoffeln und Buttermilch auswählen können. Oder auch den hygienischen Zustand der Wursttheke und das Verfallsdatum der Waren in der Tiefkühltruhe überprüfen können – usw. Mit anderen Worten: Der Vergleich zwischen den Merkmalen ist interessant, doch deren Auswahl generiert in Bezug auf die gesellschaftliche Funktion der Medien keinen tieferen Sinn (es wurden vermutlich solche gewählt, für die es Vergleichsdaten in den Bundesstatistiken gibt).
Wir sind für unsere Erhebung mit einem anderen Ansatz in den Supermarkt gegangen. Wir haben uns zuvor gefragt, was in den Warenkorb gehört, wenn wir nach Maßgabe des Wissensstandes über gesunde Ernährung unsere vielköpfige Familie daheim gesund ernähren wollen. Daraus entstand eine Einkaufsliste – und mit dieser sind wir durch den Markt gelaufen und haben Umfang und Qualität der Produkte, die auf dieser Liste stehen, im Warenkorb der Medien mit Messinstrumenten geprüft und bewertet, darin ähnlich dem Konzept der Stiftung Warentest. Übrigens haben wir für diese Liste – um im Bild zu bleiben – den Rat mehrerer Ernährungswissenschaftler eingeholt und dann auch die Liste von ihnen überprüfen lassen. Dasselbe in der Sprache der Medienwissenschaft: Wir haben einen demokratietheoretisch gut fundierten normativen Forschungsansatz (hier: sachaufklärender, diskursiv operierender Journalismus) mit entsprechenden Kriterien gewählt – und kamen notabene zu etwas anderen Befunden als die Mainzer Kollegen mit ihrem Warenkorb und ihrem Abgleichverfahren. Wir glauben, dass unsere Ergebnisse wegen des anderen Ansatzes einen anderen, vielleicht mehr Sinn ergeben.
Michael Haller
@ Sebastian Schöbel: Ich sehe die Studie tatsächlich nicht so kritisch. Natürlich ist die Verallgemeinerung von 20-Uhr-„Tagesschau“ auf ARD-Berichterstattung insgesamt unzulässig. Ich hatte das Gefühl, dass die Studie diese Verallgemeinerung auch nicht macht, von der Beschriftung der Diagramme abgesehen. Aber in der Diskussion und Berichterstattung verrutscht es dann schon manchmal. Ich glaube aber, dass man das der Studie nicht anlasten kann und halte es schon für legitim, sich einfach 3 Hauptnachrichtensendungen herauszupicken und zu untersuchen.
Ich habe auch nicht das Gefühl, dass die Forscher so menschenverachtend vorgehen, wie Sie nahelegen. Natürlich sind die Daten interpretationsbedürftig. Aber es sind immerhin ein paar Daten, die eine Grundlage für Interpretationen und Diskussionen bieten.
Das problematischste an der Untersuchung finde ich nicht die Daten, sondern dass der Begriff der „Ausgewogenheit“ so wenig problematisiert wird. Implizit suggeriert die Art, positive und negative Wertungen gegeneinander aufzurechnen, dass da im Idealfall „null“ herauskommen sollte und das dann guter, ausgewogener Journalismus wäre. Ich habe das im Artikel oben schon angedeutet, dass ich glaube, dass das nicht stimmt, zum Beispiel weil Journalismus von Natur aus sich überdurchschnittlich stark mit Missständen befasst.
Umgekehrt kann man natürlich auch sagen, dass es überhaupt keinen Grund gibt, dass irgendwelche Gruppen (hier: Flüchtlinge/Zuwanderer) genau so oft positiv wie negativ dargestellt werden sollen. Guter Journalismus zeichnet sich nach meinem Verständnis dadurch aus, dass er verschiedene Perspektiven und Meinungen abbildet.
Das lässt sich durch diese Art der Auszählung nicht überprüfen. Dennoch finde ich diese Auszählung aufschlussreich, weil sie von häufig formulierten Kritikpunkten an der Berichterstattung ausgeht (irreführend/einseitig) – und die dann doch deutlich relativiert. Die Tatsache etwa, dass trotz der behaupteten und teilweise auch nachvollziehbaren Willkommenskultur-Euphorie ein größerer Teil der Berichte vor den Gefahren der großen Zahl von Flüchtlingen warnte, finde ich interessant und relevant. Und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Medien, die besonderen Ausprägungen bei
ARD und ZDF„Tagesschau“ und „heute“ sind auch bemerkenswert.@Andreas Müller: Ich habe es schlicht nicht geschafft. Ich habe das alles durchgearbeitet, das ganze Heft mit der Studie ist voller Anmerkungen und Markierungen. Aber es ist mir nicht gelungen, das zu durchdringen bzw. am Ende aufzuschreiben. Das wäre auch mein Hauptkritik an der Studie von Haller: Dass sie so ambitioniert ist, mit so vielen verschiedenen Ebenen und immer neu zusammengestellten Stichproben und Grundgesamtheiten, dass sie eher Verwirrung stiftet als Klarheit.
Das ist aber vielleicht gar keine Kritik an der Studie, sondern an mir. Jedenfalls habe ich es nicht geschafft, die versprochene und geplante ausführliche Diskussion dieser Arbeit aufzuschreiben.
@Michael Haller: Teilweise teile ich Ihre Bedenken (und habe Sie oben in meinem Kommentar #10 auch schon aufgegriffen), vor allem was die zweifelhafte Norm der Ausgewogenheit angeht. Auch der Vergleich zwischen Journalismus und Realität ist knifflig: Medien berichten viel mehr über Mord & Totschlag, obwohl in der Realität Diebstähle viel häufiger sind. Spricht das für eine Fehlfunktion des Journalismus? Oder ist das genau das Wesen von Journalismus, das Spektakuläre, Ungewöhnliche herauszugreifen?
Natürlich letzteres – und trotzdem ist die Frage berechtigt, ob damit nicht auch unser Bild von der Welt verzerrt wird. Das mag im Alltag weniger problematisch sein als bei einer besonderen Situation wie der Flüchtlingskrise, wenn die Fixierung auf Gewalt- und Sexualdelikte im Zusammenhang mit Flüchtlingen vielleicht auch das Bild der Bevölkerung von Flüchtlingen besonders prägt.
Also: Ich sehe einige Probleme mit der Methode sehr wohl. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass einige Erkenntnisse wichtige Bereicherungen der Diskussion sind.
Im „Publizistik“-Aufsatz heißt es: „Unsere Befunde zeichnen folglich ein deutlich differenzierteres Bild als die Studie der Otto-Brenner-Stiftung zum selben Thema (…), die den Medien eine einheitlich positive Flüchtlingsberichterstattung unterstellt.“ Das Wort „differenzierter“ kann man natürlich anmaßend finden angesichts des Aufwands, den Sie betrieben haben und der deutlich komplexer war. Man kann aber auch sagen, dass es zu einem differenzierteren Bild beiträgt. So meine ich das, wenn ich schreibe, die Mainzer Studie „relativiert“ Ihre Ergebnisse.
Zuerst einmal ganz herzlichen Dank für die sehr gelungene Darstellung unserer Studie. Wirklich mit Abstand das beste, was ich in den letzten Tagen dazu gelesen habe.
Vielleicht kann ich das ein oder andere hier noch aufklären:
1. Natürlich verallgemeinern wir nicht von der Tagesschau auf die gesamte ARD. Das mag durch die Zusammensetzung der Textpassagen hier so wirken, aber wenn man den ganzen Text liest, wird das klarer.
2. Warum machen wir diese Studie so, wie wir sie machen? Wir greifen nicht wahllos ins Supermarktregal (um mal in der Terminologie von Herrn Haller zu bleiben), sondern setzen jeweils exakt an einer prominent veröffentlichten und viel diskutierten Bevölkerungsumfrage an. Große Teile der Bevölkerung waren nach diesen Umfragen der Ansicht, dass die Berichterstattung der Medien a) nicht ausgewogen war, b) zu positiv war, dass c) Alter und Geschlecht nicht richtig widergegeben wurde usw. Wir wollen einfach wissen, ob das stimmt. Haben die Menschen recht mit dem, was sie wahrnehmen? Das untersuchen wir, indem wir uns die entsprechenden Fragen anschauen und bei jeder einzelnen versuchen, sie so gut wie möglich mit Inhaltsanalysen zu überprüfen. Dazu brauchen wir manchmal Vergleiche mit Realitätsindikatoren, ein anderes Mal reichen uns – ähnlich wie bei Haller – Inhaltsanalysedaten alleine. Mir liegt es völlig fern, Journalisten vorzuschreiben, wie sie berichten sollen.
3. Der Satz, unsere Studie liefere ein differenzierteres Bild als die Haller-Studie bezieht sich natürlich auf die Befunde, nicht auf die Studie selbst. Soweit ich die Haller-Studie verstanden habe, wird dort ermittelt, dass die deutschen Medien durchweg positiv über Flüchtlinge berichtet und die negativen Folgen der Zuwanderung komplett ausgeblendet haben. Unsere Befunde fallen differenzierter (weniger einheitlich) aus, weil wir je nachdem, welchen Indikator wir betrachten, andere Ergebnisse erhalten. Das ist nun wirklich nicht anmaßend, weil es absolut keine Bewertung der Studie oder des darin getriebenen Aufwands ist. Davon abgesehen bin ich aber natürlich für eine methodische Diskussion über den Sinn der ein oder anderen Vorgehensweise jederzeit zu haben.
Zu #11 (Stefan Niggemeier): Ich finde es großartig, dass Sie das so sagen, wie es ist. Dass Sie der Versuchung widerstanden haben, OBWOHL Sie irre Arbeit investiert haben, eine halbgare Analyse der Studie zu schreiben. Und das auch klar benennen. Das zeigt Ihre Ernsthaftigkeit und Transparenz.
@Stefan Niggemeier
Ihr Satz: „Guter Journalismus zeichnet sich nach meinem Verständnis dadurch aus, dass er verschiedene Perspektiven und Meinungen abbildet“ kommt unserem Forschungsansatz sehr nahe; wenn Sie ihn operationalisieren, landen Sie bei unseren Untersuchungsfragen. (Auch) darin unterscheiden wir uns von der aktuellen Mainzer Studie. Nun haben Sie aber, wie Sie schreiben, Mühe, unsere Studie zu verstehen. Ich kann Ihnen beispringen und auf Wunsch gern eine Linkliste verständiger Besprechungen (sorry: auch in der FAZ) zur Verfügung stellen.
@Marcus Maurer
Soweit ich sehe, haben Sie mit einer ganz anderen Fragestellung etwas anderes untersucht als wir (zu unserem Corpus gehörten u. a. 85 Lokal-/Regionalzeitungen mit 17.000 Texten) und kommen folgerichtig zu anderen Ergebnissen. Auch deshalb kann ich Ihnen nicht folgen, wenn ihre Befunde im Vergleich zu unseren ein „deutlich differenzierteres Bild“ abgeheben sollen. Darum schlage ich vor, auf diese Überbietungsrhetorik zu verzichten und uns sachorientiert auszutauschen. Vielleicht ergänzen sich ja die beiden Studien.
Die Kommentare zu diesem Artikel sind ein leuchtendes Beispiel dafür, wie Kommmentardiskussionen aussehen sollten und einen echten Mehrwert stiften. Danke dafür, Herr Haller, Niggemeier und Maurer!
Hochinteressant. Von mir aus könnten Sie noch tiefer in die Methodik-Diskussion einsteigen.
@Jens #14 @Jochen #16
Volle Zustimmung.
Auch von mir ein Danke für den Artikel und auch für die Kommentare! Sehr erhellend! Dafür alleine lohnt sich das Abo!
Ich halte vor allem die Auswahl der Medien für die Studie für fragwürdig. SPIEGEL ONLINE ist neben bild.de die meistgenutzte Nachrichtenseite in Deutschland. Entsprechend prägt deren Darstellung auch wesentlich die „gefühlte Meinung“, die ja der Ausgangspunkt der Studie war. Daher halte ich das Auslassen ausgerechnet von SPON für einen großen Fehler.
„Gute Zuwanderer, schlechte Zuwanderung: So unausgewogen waren die Flüchtlings-Berichte“
Stefan Niggemeier setzt die Begriffe „Zuwanderer“ und „Flüchtlinge“ gleich. Das trägt dazu bei, dass uns für die Diskussion über Flucht und Migration noch mehr die eindeutigen Wörter zur Differenzierung fehlen. Schon beim Wort Flüchtling ist nicht klar, ob jeder gemeint ist, der einen Asylantrag gestellt hat, oder Flüchtlinge nach Genfer Konvention. Rechte tun manchmal so, als seinen nur Flüchtende gemeint, die sich auf das deutsche Grundgesetz berufen können (Verwirrung stiften, eben).
Zuwanderer ist ein Überbegriff für alle Menschen, die herkommen und bleiben möchten, egal ob wegen Verfolgung, berufl. Chancen, der Liebe oder sonstwas.
@ Wonko, 4:
„Welche Diskrepanz?“
Upps, da habe ich unvollständig zitiert. Ich meinte die Diskrepanz in der Berichterstattung Flüchtlinge positiv war, die Berichterstattung über die Folgen der Flüchtlinge aber sehr negativ.
Dies könnte, so meine These, zu den Ressentiments gegen Flüchtlinge und den Vertrauensverlust in die Medien mit beigetragen haben.
@ Wonko, 4:
Zitat Wonko:
„Welche Diskrepanz?“
Upps, da hatte ich mich unvollständig ausgedrückt. Ich meinte mit Diskrepanz, dass die Medien positiv über Flüchtlige, aber negativ über die Folgen des Zuzugs von Flüchtlingen gesprochen habe. Meine These ist, dass genau dieser Kontrast dazu beigetragen haben könnte, dass so viele Ressentiments gegen Flüchtlinge entstanden und den Medien so misstraut wurde.
Meine Hauptkritik an der Berichterstattung der meisten Medien zu dem Thema ist eine ständige Vermischung mit einer vorgegebenen Meinung.
Das war bis Ende 2015 grösstenteils keine Berichterstattung, sondern ein Nanny-Journalismus, ja gerdazu eine Stimmungsmnache für die Willkommenskultur und bereichernde Flüchtlinge.
Aufgabe der Medien ist aber nicht Volkserziehung, oder Meinungsmache, sondern sollte eine objektive Berichterstattung und Analyse sein.
Hätte diese stattgefunden, und hätte man der Regierung genauso kritisch auf die Finger gesehen wie der ausserparlamentarischen Opposition, dann hätte man schon 2015 die absehbaren Probleme einer ungesteuerten und unkontrollierten Massenzuwanderung benennen können.
Ein Komplettversagen der meisten Mainstreammedien!
Herr Weller, herzlichen Glückwunsch: Sie haben im Alleingang (und mit reichlich Verspätung) die Quote für rechtspopulistischen Unsinn in den Kommentaren hier erfüllt. Bitte vergessen Sie nicht, einen Screenshot Ihres „Beitrags“ abzuspeichern (auf das Datum achten!), um ihn an der Kasse der Partei Ihres Vertrauens (*zwinker) vorzuzeigen, für die Entlohnung in D-Mark.
#25 Sebastian Schöbel:
Ihre Reaktion würde ich jetzt auch nicht unbedingt ein leutendes Beispiel für Diskussionskultur nennen. Ich würde #24 in dieser Pauschalität ja auch widersprechen wollen, aber dass es Journalisten gibt, die ganz explizit dafür einstehen Haltungsjournalismus zu betreiben, und das auch für richtig erachten, ist nun wirklich kein Geheimnis (Restle, Hajali, überhaupt gar nicht so wenige öffentlich-rechtlich angestellten Journalisten). „Rechtspopulistischer Unsinn“ ist ein ebenso simples Schlagwort wie „Lügenpresse“.
Dunja Hayali natürlich. ;-)
@Illen: Hier scheint es ein grundsätzliches Missverständnis zu geben: Herr Weller spricht Journalisten das Recht auf „Meinung“ ja explizit ab. Jedenfalls dann, wenn deren Meinung nicht die seine ist.
Und dass „Lügenpresse“ nicht die gleiche Qualität hat wie „rechtspopulistischer Unsinn“, sollte sich mit einer einfachen Suche nach der Geschichte des Wortes klären. Denn ersteres haben auch die Nazis gesagt.
@ Sebastian Schöbel:
Nur am Rande:
„Denn ersteres haben auch die Nazis gesagt.“
Der Hinweis, dass „Lügenpresse“ (auch) von den Nazis gesagt wurde, (vermutlich) aber nicht „rechtspopulistischer Unsinn“, könnte doch höchstes ein Argument dafür sein, dass der erste Ausdruck „kontamierter“ ist als der zweite.
Keinesfalls aber ist dieser Hinweis geeignet, Illens Kritik zu widerlegen, dass nämlich der erste Ausdruck „ein ebenso simples Schlagwort“ darstellt wie der erste.
Ganz abgesehen davon haben die Nazis viel gesagt. Der Begriff „Lügenpresse“ ist längst vor den Nazis aufgetaucht.
Und es ist auch nicht ersichtlich, dass dieser Begriff in besonderer Weise den nationalsozialistischen Ungeist atmen würde (wie etwa der Ausdruck „Untermensch“) oder im allgemeinen Bewusstsein in besonderer Weise mit den Nazis assoziiert würde (wie etwa der Slogan „Arbeit macht frei“).
Man sollte den Ausdruck „Lügenpresse“ daher inhaltlich anstatt mit Argumenten, die einer „Reductio ad Hitlerum“ nahekommen, kritisieren:
https://de.wikipedia.org/wiki/Reductio_ad_Hitlerum
#28 Sebastian Schöbel:
Herr Weller spricht in #24 nicht Journalisten ein Recht auf Meinung ab, sondern sagt, diese Meinung habe in der Berichterstattung nichts verloren. Ich selbst sprach nicht von insgesamt gleicher Qualität zweier Begriffe, sondern von vergleichbar simplen Schlagwörtern. Sie müssen die Dinge bitte so lesen, wie sie dastehen. Ich hoffe im Übrigen wirklich, dass „das haben auch die Nazis gesagt“ für Sie nicht ein Argument in sich selbst ist; LLL hat dazu denke ich alles nötige gesagt.
Herr Wellers Wortwahl sowie die Aussage, es habe ausschließlich Willkommenskultur geherrscht, mache ich mir, ich sage es noch einmal, nicht zu eigen. Damit will ich es auch gut sein lassen. Es war mir nur wichtig darauf hinzuweisen, dass eine Rhetorik wie Sie sie angeschlagen haben genauso wenig zu irgendetwas führt wie das, was Sie der anderen Seite vorwerfen.
Natürlich braucht man keine Nazi-Keule. Auch nicht für das Wort „Lügenpresse“… es sei denn, es wird einem ernsthaft das Argument vorgehalten, es sei inhaltlich nicht schlimmer als „rechtspopulistischer Unsinn“.
Aber gut.
Man kann Aussagen wie „ständige Vermischung mit einer vorgegebenen Meinung“, „Nanny-Journalismus“ , „Stimmungsmnache [sic] für die Willkommenskultur und bereichernde Flüchtlinge“, „Volkserziehung“ oder „Meinungsmache“ natürlich auch ganz rational auseinandernehmen. Aber nicht bei Leuten, die den „Mainstreammedien“ ein „Komplettversagen“ vorwerfen. Die stehen nämlich inzwischen (zumindest in Berlin) gerne mal mittendrin, wenn sogenannte „Patrioten“ durch die Straßen marschieren und den Systemwechsel herbeibrüllen wollen. natürlich nur als „besorgte Bürger“.
Dort hört man dann übrigens auch Dinge, die i.d.T. schlimmer sind als „Lügenpresse“.
Aber die „Reductio ad Hitlerum“ kann man dann natürlich auch da noch ins Feld führen. Latein gilt ja jetzt auch wieder als „in“ unter Gesellschaftskritikern.
Ich weiß nicht, was mich mehr stört: Wenn allen (nicht genehmen) Journalisten ihre Meinung direkt abgesprochen wird, oder sie nur auf ein paar wenige, prominente „Meinungsjournalisten“ begrenzt wird, oder sie Journalisten quasi nur privat, nicht aber beruflich zugestanden wird.
Vielleicht bin ich es aber auch einfach nicht mehr gewohnt, in einigermaßen zivilisierten Kommentarspalten wie hier unterwegs zu sein. Das hier ist argumentativ i.d.T. nicht der Nahkampf, der anderswo tobt. Von daher: Sorry, wenn ich hier zu schnell die rhetorischen Schlagringe ausgepackt habe.
Wer der deutschen Presse eine „vorgegebene Meinung“ attestiert, hat den Aluhut sturmfest auf dem Kopf. Das darf man ann auch mal Blödsinn nennen, wenn man es denn beachten möchte.
Die Frage ist doch vor allem : Wo zieht man die Grenze zwischen Meinung und Haltung? Zwischen Politik und Wertesystem? Ist man als Verfechter*in von Humanismus und Menschenrechten automatisch links und wem gestehen wir zu, darüber zu entscheiden? Ist es nicht vielleicht die größte Gefahr für unsere Gesellschaft, dass wir uns haben überzeugen lassen, dass wir ein politisches, ein rechts-links-Problem haben, wo wir tatsächlich in einer ethischen Krise stecken, wenn das Kategorisieren und Diffamieren von Bevölkerungsgruppen an der Tagesordnung ist und das tägliche Ertrinken von Menschen mit uns nichts zu tun hat? Ausgewogenheit- heißt das inzwischen nicht oft: Wer für Geflüchtete eintritt oder nix gegen Kopftücher hat ist links, und wenn ich „Rechte“ kritisiere muss ich sofort auch „Linke“ kritisieren, sonst bin ich nicht ausgewogen. Es ist höchste Zeit für uns alle, aber besonders für die Medien, die rechts-links-Kategorisierung hinter sich zu lassen und wieder und wieder und nimmermüde darauf hinzuweisen, wenn über Menschenrechte und die Werte gesprochen wird, auf denen unsere Gesellschaft beruht, und dass es hier nicht um philosophisches oder ideologisches Trallala geht, sondern um den Boden, auf dem wir alle stehen.
Journalisten das recht auf Meinung abzusprechen, ist eine ganz olle Kamelle.
Meinungsfreiheit gilt selbstverständlich auch für Journalisten.
Und wer Meinungsfreiheit abschaffen will ist …
Thema Deutsche Welle, Steffen Seibert und tatsächlichem „Staatsfunk“ hatte übermedien auch schon mal.
Und wie Sascha Lobo schon sagt:
„Zwischen „Leute ertrinken lassen“ und „Leute nicht ertrinken lassen“ gibt es keine ausgewogene, vernünftige Haltung.“
Humanismus ist ein weiter Oberbegriff. Man muss nicht links sein, um als Humanist zu gelten, oder umgekehrt nicht Humanist, um links zu sein.
Aber Fragestellungen wie „Ertrinken lassen – pro oder contra?“ ist etwas, was ich vllt. im Postillon lesen wollte, aber nicht in der Zeit.
Es war der Spiegel / SPON.
Der zitierte Satz von mir in #34 ist auch schon Alles, was dort zu „Ertrinkende Flüchtlinge im Mittelmeer“ steht.
Der Artikel selbst läuft unter dem Thema: „Verantwortung des Journalismus“.
Dort wird nicht diskurtiert, ob man irgendwen im Mittelmeer ertrinken lässt. Vielmehr diente dies als Beispiel eines nicht vorhanden „Mittelweges“, der gerne von rechts propagiert wird. Man hätte auch schreiben können „ein bisschen schwanger gibt es nicht“.
Jetzt verstanden?
@anderer Max:
Wenn ich raten müsste, bezieht Lobo sich hierauf:
https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra
Und als Satire scheint der Zeitartikel nicht gemeint zu sein. Aber was weiß ich schon?
Ah, gut zu wissen. Wenn Sie den Link schon in #35 mitgeliefert hätten …
Denn Lobo bezieht sich nicht explizit darauf in seiner Kolumne. Aber ja, das ist schon offensichtlich. Ich hatte den ZEIT-Artikel nicht mehr im Hinterkopf.
Zu den Aussagen von Herrn Maurer #13
2. Warum machen wir diese Studie so, wie wir sie machen? Wir greifen nicht wahllos ins Supermarktregal (um mal in der Terminologie von Herrn Haller zu bleiben), sondern setzen jeweils exakt an einer prominent veröffentlichten und viel diskutierten Bevölkerungsumfrage an. Große Teile der Bevölkerung waren nach diesen Umfragen der Ansicht, dass die Berichterstattung der Medien a) nicht ausgewogen war, b) zu positiv war, dass c) Alter und Geschlecht nicht richtig widergegeben wurde usw. Wir wollen einfach wissen, ob das stimmt. Haben die Menschen recht mit dem, was sie wahrnehmen? Das untersuchen wir, indem wir uns die entsprechenden Fragen anschauen und bei jeder einzelnen versuchen, sie so gut wie möglich mit Inhaltsanalysen zu überprüfen.
Wenn ich das richtig sehe, wurde das aber nicht anhand der Medien die die Menschen in der Umfrage lesen überpüft, sondern anhand eines selbstgewählter Medienquerschnitt.
Ob und wie weit dadurch eine Diskrepnz entsteht weiss ich nicht. Die Frage wäre ob die ausgewählten Medien von der befragten Gruppe konsumiert wurde. Andernfalls ist es nicht die wahrgenommene Berichterstattung, sondern die, die jemand wahrnimmt, der alle Medien konsumiert. Und dann müsste man noch mal diese Leute befragen, wie deren Bild über die Berichterstattung ist.