Journalisten mit Migrationshintergrund

„Ich habe mich selten türkischer gefühlt als in den vergangenen Tagen“

Der Name, der am Dienstag über dem Leitartikel in der „Süddeutschen Zeitung“ stand, war ungewöhnlich. Er fiel auf, weil er dort erst einmal zuvor gestanden hatte – der Redakteur ist sonst Blattmacher; Artikel schreibt er selten. Und er fiel auf, weil es ein Name war, wie man ihn selten über Leitartikeln in deutschen Zeitungen liest: Gökalp Babayiğit.

Das Ğ traf auch die SZ-App offenbar unvorbereitet.

Babayiğit kommentierte Mesut Özils Rücktritt aus der Nationalmannschaft, seinen Vorwurf, Opfer rassistischer Angriffe geworden zu sein, und die oft empörten Reaktionen darauf. Sein Fazit über die Debatte:

Das alles bestärkt bei der deutschtürkischen Minderheit genau jenes Gefühl, das auch in Özils Erklärung anklingt: Egal wie viel Mühe du dir gibst, egal wie gut du in deinem Metier bist, wie viel du zur Gesellschaft beiträgst – am Ende liegt es nicht in deiner Hand, ob du dazugehörst, ob du respektiert wirst.

Am Ende kannst du immer auf deine oder auf die Herkunft deiner Eltern reduziert werden. Immer wird es welche geben, die dir dein Deutschsein absprechen. Selbst wenn du einer der besten Fußballer bist, die je ein deutsches Nationaltrikot getragen haben.

Man kann aus dem Pathos am Schluss eine persönliche Betroffenheit herauslesen. In Verbindung mit dem Namen des Autoren, der seine Wurzeln schon im türkischen weichen G sichtbar macht, entwickelt das eine besondere Wirkung.

„Ich will nicht abgestempelt werden als Quotentürke“

Gökalp Babayiğit Foto: Daniel Hofer

Babayiğit sagt, er habe sich selbst dafür gemeldet, den Leitartikel zu diesem Thema zu schreiben. „Auch weil ich eine Perspektive einnehmen konnte, in die ich mich schneller eindenken konnte als andere – nicht nur weil ich Türkisch kann.“ Er habe sich, wie einige seiner Kollegen mit ausländischen Wurzeln wohl auch, lange dagegen gewehrt, solche Themen zu kommentieren: „Ich will nicht abgestempelt werden als Quotentürke.“ Aber angesichts der Debatte dieser Tage habe er den Drang gespürt, sich zu äußern. „Ich habe mich selten türkischer gefühlt als in den vergangenen Tagen.“

Babayiğit ist nicht der einzige. Erstaunlich viele Journalisten mit Migrationshintergrund haben sich in den vergangenen Tagen an der Debatte, die Özil ausgelöst hat, beteiligt. Wobei: Was ist erstaunlich? Dass es inzwischen dann doch eine nennenswerte Zahl Journalisten mit Migrationshintergrund in den Redaktionen gibt? Oder dass so viele von denen offenkundig das Gefühl hatten, dass sie sich zu Wort melden sollten? Oft auch, um von persönlichen Erfahrungen zu berichten:

Gilda Sahebi beschreibt bei „Spiegel Online“, wie sie an der Supermarkt-Kasse als „Scheißkanake“ beschimpft wird. Raniah Salloum schreibt ebenfalls dort: „Özil, ich und viele andere teilen offenbar dieses Gefühl, dass wir als Deutsche mit seltsamem Namen unser Deutschsein wieder viel stärker rechtfertigen müssen.“

Bei „Zeit Online“ kommentiert Hasan Gökkaya:

Özil sollte in einer verkommenen Fußballwelt eine moralische Reinheit beweisen, die von seinen biodeutschen Mitspielern niemand verlangt. Diese Doppelstandards sind es, die viele Deutschtürken nur allzu gut kennen. Und die diesen Rücktritt zu einem Armutszeugnis für dieses Land macht, das sich als weltoffen verkauft.

Auf der Seite 1 der „Zeit“ schreibt Özlem Topcu:

Der Mi­grant ist ei­ne im­mer­wäh­ren­de Pro­jek­ti­ons­flä­che, er soll je­ner Su­per­deut­sche sein, wel­cher der Deutsch­deut­sche nicht ist und nie war. Und wenn er nicht brav ist, son­dern plötz­lich sel­ber Macht hat und auch aus­übt, wie Özil, dann spricht man ihm das Deutsch­sein ganz schnell wie­der ab. Dann ist er raus.

Der Reporter und Moderator Michel Abdollahi spricht bei Cosmo darüber, wie wütend ihn der Umgang mit der Affäre macht, und twittert:

Jagoda Marinić feiert Özils Erklärung in der „taz“ als „Befreiungsschlag“:

Özil sagt jetzt: Wer Erfolg hat, spielt das Spiel nicht mehr mit! Vive la Liberté! Wir spielen das Spiel jetzt nach unseren Regeln!

Ebenfalls in der „taz“ spricht Seyda Kurt über Diskriminierung von Deutsch-Türken mit Gülseren Ölcüm, die sagt:

Dieses Land ist mein Zuhause. Das möchte ich mir nicht nehmen lassen. Dennoch möchte ich auch nicht in solch einer Gesellschaft leben, in der ich ständig auf meinen Migrationshintergrund angesprochen werde oder auf Erdoğans nächste Amtshandlung. Manchmal möchte ich eine Isabell oder Julia sein – dazugehören, ohne aufzufallen.

Auch auf Twitter melden sich einige zu Wort:

„Gehören wir noch dazu?“

„Es scheint so zu sein, dass die Emotionen gerade bei vielen hochkochen“, sagt die Journalistin Ferda Ataman. „Unzufriedenheit und Enttäuschung brodelte schon länger – seit Sarrazin stand eigentlich die Frage im Raum: Gehören wir noch dazu?“ Die Debatte um Özil sei der Tropfen, der gerade das Fass zum Überlaufen bringt: „Ich glaube, dass Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien noch nie so sichtbar waren. Aber wir standen auch noch nie so spürbar am Abgrund des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das zeigt, wie hart das ist, was gerade passiert.“

Yassin Musharbash Foto: KiWi / Nadia Bseiso

Von einem „Herzensthema“, das wirklich alle Menschen mit Migrationshintergrund betreffe, spricht „Zeit“-Redakteur Yassin Musharbash. „Man sagt ja oft: Da wurde ein Nerv getroffen. In diesem Fall ist es genau so. Jede Journalistin, jeder Journalist mit Migrationshintergrund kennt aus eigenem Erleben, wie schwer es ist, sich eine Identität als Bindestrich-Deutscher aufzubauen. Das ist harte innere, sehr persönliche Arbeit. Und das Produkt ist fragil. Insbesondere, wenn es von Außen in Frage gestellt wird – am besten noch von Menschen, die diesen inneren Konflikt gar nicht kennen.“

In seinem Roman „Radikal“ beschreibt Musharbash die Zerrissenheit so:

Es war der Fluch. Der Fluch, der darin bestand, dass das, was für einen selbst das Innerste war, für die anderen nur das Äußere war. Der Fluch, der darin bestand, dass man ihn nicht erklären konnte. Der darin bestand, dass man nicht dazugehören wollte, wenn die anderen darauf bestanden; und zugleich darauf bestand, dazuzugehören, wenn die anderen es für eine Unmöglichkeit hielten. Der Fluch, der für jeden, der ihn kannte, ein Gefängnis und ein Zufluchtsort zugleich war, tausend Möglichkeiten und keine. Der Fluch, der darin bestand, dass man nicht wusste und nie wissen würde, wer man ist.

Halbehalbe.

Das Kapitel endet mit diesem Dialog:

„Susu, meinst du, wir können ihnen je trauen?“, sagte sie leise. „Ich meine, wenn sie sagen, dass sie uns verstehen. Was, wenn sie gar nichts verstehen, weil sie es nicht verstehen können?“

„Ich weiß es nicht, Süße. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich hoffe es.“

Ist es wirklich unmöglich für jemanden ohne Migrationshintergrund, nachzuempfinden, was es bedeutet, zwei Herzen zu haben, wie es Mesut Özil formulierte? Darauf lässt sich keine objektive Antwort finden – aber es lässt sich zumindest zur Kenntnis nehmen, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln das so empfinden.

Auch „Bild“-Reporterin Özlem Evans beschreibt das so:

Emotional war meine Reaktion, als ich dann 2010 zum ersten Mal seit acht Jahren in Istanbul wieder aus dem Flieger stieg.

Die Luft roch so, wie sie nur in der Türkei riecht – nach Sesamring und Kindheit. Und schon war ich wieder zu Hause, obwohl ich nicht zu Hause war. Mir kamen die Tränen – unerwartet.

Diese Zerrissenheit kann niemand mit nur einer Heimat nachempfinden.

Es lässt sich auch zur Kenntnis nehmen, wie viele Menschen mit Migrationshintergrund und auch Journalisten in diesen Tagen zu Protokoll geben, dass sie sich immer wieder fremd fühlen, nicht dazugehörig. Man kann sie zu Wort kommen lassen und ihnen zuhören.

„Quatsch“

Alternativ kann man solche Erfahrungen aber auch als „Quatsch“ abtun, wie „Bild“-Kolumnist Heinz Buschkowsky. In „Bild“ wird die Debatte um Özil und seine Vorwürfe als Kampf gegen Özil und seine Vorwürfe geführt.

Auffallend ist nicht nur die besondere Wucht, Gnadenlosigkeit und Einseitigkeit, sondern auch, wie sehr Kollegen ohne Migrationshintergrund die Debatte in „Bild“ dominieren.

Nikolaus Blome sieht sich berufen, das zentrale Zitat Özils – „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren“ – auseinander zu nehmen. Er nennt es einen „monströsen Vorwurf“ und „Selbstgerechtigkeit“.

Über die SPD-Politikerinnen Andrea Nahles und Katharina Barley, die die Klage ernst nahmen, als „Alarmzeichen“ bezeichneten und zu einem Kampf „für ein offenes, tolerantes Land, in dem Rassismus geächtet wird“ aufriefen, äußert er sich empört und verächtlich.

Blome sieht in Özils Klage die Gefahr, dass viele türkischstämmige Menschen in Deutschland genauso denken könnten wie er „oder jetzt damit beginnen“. Die Verantwortung dafür sieht er offenbar ausschließlich bei denen Migranten und ihren Kindern. Bevor er ihnen entsprechende Vorwürfe macht, räumt er allerdings kurz ein:

Alltags-Diskriminierung gibt es, manche Studie und Feldversuche belegen das.

Das klingt vielsagend gestelzt. Als würden Millionen Menschen nicht täglich „Feldversuche“ machen, die ihr Leben sind. Als müsste man mit ungewohnt spitzen Fingern von „mancher Studie“ reden, wenn Menschen in eindrucksvoller Zahl ihre Erfahrungen berichten.

„Verfolgungswahn“

Auch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ weiß es einer besser als die Betroffenen. „Verfolgungswahn“ ist am Dienstag die Leitglosse von Reinhard Müller auf Seite-1 betitelt. Sich zu sorgen, wenn ein großer deutscher Fußballer sich „in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt fühlt“, sei „Fehlalarm“, schreibt er. Dann zitiert er die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli, Tochter palästinensischer Flüchtlinge, die bis zu ihrem 15. Geburstag staatenlos war, und getwittert hatte:

„Dass Özil geht, ist ein Armutszeugnis für unser Land. Werden wir jemals dazugehören?“

Gehässig unterstellt er ihr, mit dieser Frage zu zeigen, dass sie längst dazu gehört:

„zur großen politischen Klasse derjenigen, die immer auf der richtigen Seite stehen und den Grund für jedwede Ungleichbehandlung gleich in der Herkunft oder gar der ‚Rasse‘ suchen. Diese Zeiten sollten vorbei sein. Wer heute leichtfertig diese Karte zieht, leidet unter Verfolgungswahn und Verantwortungslosigkeit.“

Chebli äußert ein Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens, das offenbar viele teilen, auch von denen, die es anscheinend geschafft und Karriere gemacht haben. Und Müller ruft ihnen zu, dass „die Zeiten vorbei sein sollten“, in denen sie sich darüber beklagen dürfen. Er unterstellt ihnen, „leichtfertig“ mit dem Vorwurf des Rassismus umzugehen. Er weiß es besser.

Müllers Kommentar steht prototypisch für das, was SZ-Redakteur Babayiğit in seinem Leitartikel so formuliert hatte:

Die Botschaft an die deutschtürkische Minderheit liest sich dabei […] so: In Deutschland ist es immer noch die nicht-betroffene Mehrheit, die definiert, wer Rassismus ausgesetzt ist und wer nicht.

„Plötzlich ist alles wieder sagbar“

Die „Welt“ hat stattdessen die einfache, gute Idee, junge Menschen mit Migrationshintergrund nach ihrem Blick auf die Debatte zu fragen. Sie macht daraus am Dienstag die Titelgeschichte. Unter der Überschrift „Wir Deutschen“ lässt sie unter anderem auch Kollegen aus dem eigenen Haus zu Wort kommen: Katja Belousova, die in Russland geboren wurde, Niddal Salah-Eldin, die aus dem Sudan stammt, und Ibrahim Naber, der jordanische Wurzeln hat.

Die zehn haben eine ähnliche Perspektive auf das Thema, aber sehr unterschiedliche Positionen und Temperamente. Dadurch wird auch deutlich, dass es natürlich nicht eine Migranten-Meinung zu dem Thema (oder zu irgendeinem Thema) gibt. Das klingt banal, hat aber einen echten Effekt – vor allem im Gegensatz zur klassischen medialen Logik, einen Talkgast mit Migrationshintergrund einzuladen, der dann stellvertretend für 23 Prozent der Menschen in Deutschland sprechen soll.

Naber kritisiert Özil dafür, „sich als Opfer zu inszenieren, ohne das eigene Handeln kritisch zu reflektieren, ohne die Kritiker überhaupt verstehen zu wollen. Diese Haltung stört mich nicht nur bei ihm, sondern auch bei anderen Migrantenkindern“.

Salah-Eldin schreibt:

Traurig, aber wahr: Nicht-Herkunftsdeutsche mit deutschem Pass sind und bleiben Deutsche auf Bewährung. Wer abliefert und Regeln befolgt, wird akzeptiert, bei Kaiserwetter auch mal bejubelt. Sobald jedoch Zweifel an Leistung oder Loyalität aufkommen, kann die Zugehörigkeit zu Deutschland per Ferndiagnose einfach aberkannt werden. Der leiseste Zweifel ist dafür bereits ausreichend. Plötzlich stehen Teile deiner Identität zum kollektiven Abschuss bereit, plötzlich ist alles wieder sagbar. Von der kleinen Mikroaggression bis zur wüsten rassistischen Beleidigung. Die ewige Zerrissenheit, das ernüchternde Gefühl im Herkunftsland ein Deutscher, in Deutschland aber ein Deutscher auf Bewährung zu sein, ich kenne es nur zu gut und teile es mit einigen Freunden und Bekannten, in diesen Tagen mehr als sonst.

Die Moderatorin Wana Limar, geboren in Afghanistan, schreibt, „dass ich immer unterbewusst das Gefühl hatte, nicht dazuzugehören“. Und der Komiker Oliver Polak, der russische Wurzeln hat, zieht das bittere Fazit: „Wie soll man sich mit diesem Land identifizieren, wenn es einem immer wieder signalisiert, dass man nur Deutscher auf Bewährung ist? Das Sommermärchen war nur ein Sommermärchen.“

Gerade weil die Stimmen – auch von den Kolleginnen und Kollegen in den Redaktionen – oft so bitter klingen, ist es gut, dass sie zu hören sind.

Aber ist es problematisch, wenn Betroffene über „ihr“ Thema schreiben? Yassin Musharbash sieht das nicht: „Sie sind Experten. Andersherum wird ein Schuh draus: Es wäre blöd, wenn nur ‘Betroffene‘ sich damit publizistisch beschäftigen.“ Ferda Ataman sagt: „Es geht darum, dass alle diskutieren und die Deutungshoheit nicht nur bei Nur-Deutschen, sondern in vielen Händen liegt.“ Und: „Die Trennlinie verläuft ja nicht zwischen Deutschen und Migranten, sondern zwischen Menschen mit einem republikanischen Verständnis und denen, die Migranten am liebsten loswerden wollen.“

„Danke, wir haben doch schon eine Migrantin“

Wie viele Menschen mit Migrationshintergrund in den Medien arbeiten, darüber gibt es kaum aktuelle belastbare Daten. Von 2009 stammt die Zahl, dass in 84 Prozent aller Tageszeitungsredaktionen herkunftsdeutsche Journalistinnen und Journalisten unter sich seien. Von 2015 gibt es eine Schätzung, die von 4 bis 5 Prozent Journalistinnen und Journalisten mit Migrationshintergrund ausgeht. Zum Vergleich: Insgesamt haben den rund 23 Prozent der Menschen in Deutschland.

Ferda Ataman Foto: Thomas Lobenwein

Vor zehn Jahren hat Ferda Ataman die „Neuen deutschen Medienmacher“ mitgegründet, ein Zusammenschluss von Medienschaffenden mit unterschiedlichen Wurzeln, der sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzt. Seit damals sei sehr viel passiert, sagt sie. Der Verein habe inzwischen knapp 300 Mitglieder, das Netzwerk sei 1600 Leute groß. Die Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund in den Redaktionen sei deutlich gestiegen. Aber in vielen Lokalredaktionen, vermutet sie, gebe es immer noch keine Medienschaffenden aus Einwandererfamilien. Und: „In vielen Redaktionen sind es noch immer nur einzelne. Die allermeisten Redaktionen sind noch weit davon entfernt, die Vielfalt in der Gesellschaft widerzuspiegeln.“ Es sei noch nicht so lange her, berichtet sie, „dass Kolleginnen auf eine Bewerbung gehört haben: Danke, wir haben schon eine Migrantin.“

Redaktionen werden sich allmählich daran gewöhnen, dass es vielleicht sogar zwei Özlems bei ihnen gibt. Und Leser daran, dass Namen mit weichen türkischen Gs über den Leitartikeln stehen.

Viele Journalisten schildern immer noch und immer wieder heftige Erfahrungen von Lesern, wenn sie es trotz ihres Migrationshintergrundes wagen, Themen zu kommentieren. Gökalp Babayiğit findet, dass das bei seinen Leserbriefen besser geworden ist – jedenfalls seien die Reaktionen auf seinen Leitartikel in dieser Woche „erfreulich“ gewesen: Er habe zwar viel Widerspruch in der Sache bekommen, aber relativ wenig Anfeindungen, was seine Person betrifft.

PS: Auf die Frage, wie viele Redakteure mit Migrationshintergrund sie habe und ob es besondere Versuche gibt, sie zu rekrutieren oder auszubilden, teilt die FAZ mit:

Wir haben bei der F.A.Z. in allen Ressorts einige Redakteurinnen und Redakteure mit Migrationshintergrund.

Ausschlaggebend für die F.A.Z. ist die journalistische Kompetenz, nicht die Herkunft.

83 Kommentare

  1. Ich dachte mir immer:
    Wenn dich jemand auf die nichtdeutsche Herkunft reduzieren willst, stichst du die Deutschen einfach durch bessere Leistungen aus.
    Das ist nicht fair, stopft aber mal im Vorbeigehen das ein oder andere Mäulchen.

    Ich habe auch den Eindruck, dass man es früher erduldet hatte und stärker dagegen arbeitete, wenn man aufgrund der Herkunft negativ diskriminiert wurde.
    Diese Einstellung ist zwar unfair – denn warum darf man nicht so sein wie die Mehrheit, zum Beispiel faul oder laut – aber stärkt den Rücken, wenn man es schafft. Andere schaffen es leider nicht und auch das ist dann Ursache für eine statistisch verhältnismäßig höhere Quote bei den negativen Zahlen (Kriminalität, mangelnde Bildung, Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug).
    Aber diese Einstellung funktionierte bei mir und meinen meisten Freunden (wirklich wenig Bio-Deutsche dabei), um sich durchzusetzen.

    Heute sehe ich es so – vielleicht auch der Blick mit höheren Alter auf diese jungen Leute – dass man sich gerne lauter beschwert, obwohl vieles einfacher ist.
    Oder und das ist wahrscheinlich der Grund für diese Wortmeldungen, die das eigene Migrationsgefühl ausdrücken: Es hat sich einiges aufgestaut.

    Daher, trotz vieler prominenter Türken und Ausländer vor dir, Danke Mesut Özil. Du bist zwar unendlich unkritisch mit dir selbst und hast wahrscheinlich dank deiner schlechten Berater gerafft, was um dich geschieht, aber vielleicht war es gut, es mal anzusprechen, dass auch in Deutschland gilt: Du bist ein Bürger, wenn du besser oder gleich gut bist; du bist der Fremde, wenn du was schlechtes tust oder genauso schlecht bist.

  2. „Wenn dich jemand auf die nichtdeutsche Herkunft reduzieren willst, stichst du die Deutschen einfach durch bessere Leistungen aus.“

    Mein Vater war gerade Professor geworden und ihm wurde trotzdem das Mieten eines Hauses mit der Begründung verwehrt „sie würden nicht in die Gegend passen“ nachdem er auf die Nachfrage woher denn der Name käme in perfekten Deutsch mit „aus der Türkei“ geantwortet hat. Selbst mit mehr Leistung bleibt halt nur der 2. Rang. An dem Tag ist was in ihm zerbrochen.

  3. @2 Das ist der Unterschied, ein Unterschied, der eigentlich keine BEdeutung haben darf:
    Einige zerbrechen, andere nicht.

    Bei Mesut Özil ist offenbar etwas zerbrochen.

  4. Das Gefühl, dass der Lebensmittelpunkt in einem anderen Land liegt als die Wurzeln, kenne ich nicht aus eigener Erfahrung, aber von meinem Großvater. Ist nicht dasselbe wie bei Özil, weil er in der BRD nicht als Ausländer wahrgenommen wurde, aber dass er seinen Bruder nicht einfach mal zum Geburtstag besuchen konnte oder umgekehrt ihn einladen, war schon nicht schön. Und diese Zerrissenheit, die so oft beschrieben wird, ist ja nicht die alleinige Schuld der hiesigen Rassisten. Wenn morgen alle Rassisten tot umkippen, hört ja niemand plötzlich auf, den türkischen Sesamgeruch aus Kindheitszeiten zu vermissen.
    Opa hätte sich also in Özil mit seinen zwei Herzen hineinversetzen können. So viel zum latenten Vorwurf, Deutschdeutsche wären generell empathielos.

    Punkt ist aber, dass der Rassismus in Deutschland jetzt kein Blankofreibrief ist. Nur weil man Wurzeln in der Türkei hat, braucht man sich nicht mit Erdogan (weiches G ist mitgedacht) treffen. Klose und Podolski haben sich nicht polnischen Nationalisten getroffen. Deutschdeutsche Nationalspieler treffen sich nicht mit Gauland. (Soweit ich weiß, jedenfalls, vllt. tun sie das ja heimlich.)

  5. @Mycroft:

    Nur weil man Wurzeln in der Türkei hat, braucht man sich nicht mit Erdogan (weiches G ist mitgedacht) treffen.

    Wer behauptet denn das? Das ist doch Schattenboxen.

  6. @Niggemeier:
    Özil? Jedenfalls interpretiere ich das hier: „Für mich ging es bei einem Foto mit Präsident Erdogan nicht um Politik oder um Wahlen, sondern darum, das höchste Amt des Landes meiner Familie zu respektieren.“ so.

    Wenn man als Deutscher mit türkischen Wurzeln genervt ist, ständig auf das Tun und Lassen der türkischen Regierung angesprochen zu werden, kann ich diese Genervtheit ansonsten absolut nachvollziehen.

  7. Gute Zusammenfassung. Wir sollten uns aber auch der Kraft der lebendigen deutschen Sprache bewußter werden und diese regelmäßig hinterfragen. Denn alleine der unglückliche Wortgebrauch „Migrationshintergrund“ ist ein Narrativ. Das ist Begriffsgebastel. Eine Wortschöpfung von Menschen die andere Menschen ausgrenzen wollen. Das sollte man nicht, auch wenn es für den Texter noch so bequem ist, einfach so von anderen Kollegen übernehmen. Mit der deutschen Sprache kann man auch sehr viel Schaden anrichten. Für mich gibt es nur Deutsche und Nichtdeutsche.

  8. @J. Böhler: Der Begriff ist sperrig, aber nötig, um Deutsche zu beschrieben, die ausländische Wurzeln haben. Wie würden Sie die Gruppe von Menschen bezeichnen, von denen dieser Text handelt?

  9. Der Mechanismus ähnelt dem bei Claudia Neumann.
    Da vermischt sich tendenziell sachliche Kritik an den Leistungen mit dem Langzeit-Hass der -einerseits- Abendlandchauvinisten resp. Genderchauvinisten.
    Und die jeweilige schreiende Minderheit der Wasauchimmer-Hater hat endlich mal wieder einen Hebel in die Mitte herein und rührt die Trommel besonders intensiv, solange das Eisen noch heiß ist.
    Womit sie dann auch erfolgreich bei den entsprechenden Medien landet und die üblichen weiteren Mechanismen triggert.
    Schlecky Silberstein hat das vorgestern schön zusammengefasst.

    Mir fallen da als…
    a) äußerlich unauffälliger Migrahintergrunzler mit Bezug zu 3 Nationen/Kulturen
    b) notorischer Mainstreamtroll
    … zwei Dinge auf:

    a) wie überfordert doch viele Nurdeutsche sind, wenn es darum geht, den Bezug auf mehr als eine exklusive Kultur auch nur irgendwie realistisch einzuordnen und verstehen. Sobald auch nur irgendeine emotionale Bindung an die Ursprungsheimat erkennbar wird, wittert man sofort einen Mangel an Bekenntnis, vergleichbar mit einem Landesverrat. Nahe an der Ketzerei gegen das Prinzip „Du darfst sollst nur einen Gott haben“.
    Das ist nicht in allen europäischen Ländern derart auffällig. Eher ein deutscher Sonderweg, vielleicht begründet in der Tradition des Blutsorientierten Bürgerrechts. Oder halt bereits schon typisch osteuropäisch? Ich selbst fische da noch im Trüben, das ist irgendwie so typisch deutsch wie der Wald, die Wurst und die Selbstüberschätzung.
    Man vergleiche das nur mal mit den erheblich weniger hysterischen Folgen, die die „patriotische Aktion“ der Schweizer Albaner nach sich zog.
    Was das betrifft, hätte der aktuelle Anlass eine Gelegenheit geboten, das auch medial mal etwas besser zu vermitteln, in der Hinsicht war das eine vergeudete Chance.

    b) Özil und Gündogan haben mit diesen Fotos da unbestritten einen Anlass für Kritik geboten. Insbesondere Gündogan mit seiner Widmung.
    Aber: Wie bei Trump oder Putin gilt für Erdogan, dass die mediale Mainstream-Darstellung jeweils in jeder Hinsicht derart eindeutig die eigene Haltung und Positionierung als Monstranz der Selbstinszenierung voranzutragen hat, dass jede Differenzierung und Nichtmaximale Kategorisierung bereits als Feindaktivität zu gelten hat („Russenversteher“ zähle ich bspw. dazu).
    Und dementsprechend wird/wurde das Erdo-Foto hier also auch und gerade in den Mainstreammedien nicht zum Anlass für eine differenzierte kritische Diskussion genommen. Zwischen Mahatma Gandhi und gewaltherrschenden Diktatoren der Kategorie Adolf ist noch eine Menge Raum für Grauschattierungen. Es gehört sich aber nun zum guten Medienton, bei den beiden Ostpotentaten KEINEN Unterschied mehr zu machen zur Kategorie Adolf. So sehr das auch ebenjenen verharmlost.
    Man kann sich dafür selbst so wunderbar heroisch fühlen wie die neue weiße Rose. Und wie das aussieht, wenn man sich in sowas kollektiv reinsteigert, war auch hier wieder bestens zu beobachten.

    Fazit: Ich stimme jenen zu, die enttäuscht feststellen, dass sie überschätzt hatten, wie weit Deutschland mittlerweile bei der Ambiguitätsakzeptanz ist. Dabei war meine Erwartungshaltung ohnehin nicht besonders hoch.

    PS: Sollte ich irgendwas aus dem Artikel dümmlich wiedergekäut/ignoriert haben … meiner geht halt nur bis Hasan’s Kommentar bei Zeit Online

  10. Fehler eins: Irgend jemand stellt die Mannschaft wenn Sie Gewinnt ist er gut wenn Sie verliert ist er Schuld. Basta.
    Einzelne Spieler an Pranger zu stellen zeugt von schlechter fairnes.
    Die deutschen (dazu gehöre ich auch) Glauben Sie können alles besser. Nein mit verlaub. Kroatien und Frankreich sind derzeit besser als wir und Frankreich zu recht Weltmeister. Wir müssen uns fragen was wir falsch gemacht haben aber nein. Wir deutsche ziehen uns unsere alte Klischee an und suchen in uns den schwächsten(wie die Juden)damals. Hört bitte damit auf. Özil wurde zur WM mitgenommen und wer das veranlasst hat,trägt die Schuld ( wären wir jetzt Weltmeister wäre alles gut).Herr Özil hat versucht zu kämpfen für Deutschland aber unter einer Hetzjagt wie diese und ohne Schutz vom DFB kann nur so eine Leistung erbracht werden. Bitte in einem Spieler wie Özil sich hinein versetzen.

  11. Artikel und Kommentare, diejenigen hier und diejenigen Allerorten, gehen doch am eigentlichen Thema vorbei: Wir stehen an der Schwelle, ein Selbstverständnis als Einwandererland entwickeln zu müssen. Dem stehen überkommene – kulturelle – Sichtweisen und Gefühle entgegen. Die ganze Debatte geht am Ziel vorbei, ist dabei aber natürlicher Ausdruck eines Selbstfindungsprozesses. Auf beiden Seiten. Die Deutschen müssen in ihr Empfinden aufnehmen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, die Einwanderer und ihre Abkommen, dass sie Einwanderer sind. Einwanderer, die in einem Land mit einer ganz eigenen, nicht einfachen und ziemlich komplexen Geschichte leben – in welches sie ihre komplexe Geschichte hineintragen. Wer akzeptiert, dass keine Gesellschaft ohne Veränderungen auskommt, seit jeher ob der Zeitläufte, wird vielleicht ruhiger und erkennt die Özil-Debatte als nötig, aber banal. Und lenkt den Fokus auf eigene Akzeptanz und eigene Forderungen an eine Gesellschaft, nicht an einzelne, vermeintliche Gruppen. „Jeder hat sein Leben ganz zu leben“ (Rudi Dutschke).

  12. @12 Alam
    Özils Statistiken sind beim letzten Turnier überdurchschnittlich im Vergleich zum Durchschnitt der Nationalmannschaft – natürlich zu wenig für einen Spielmacher, aber die Torchancen waren zu Genüge da

  13. @ Mycroft:

    Es wäre natürlich ein Zeichen gewesen, wenn Özil Erdogan den Handschlag oder wenigstens das Foto verweigert häte. Aber seien wir ehrlich: Das wäre schon ein ziemlicher Affront, und die meisten Leute würden sich in einer vergleichbaren Situation auch nicht entziehen, egal, was ihre politischen Einstellungen sein mögen. Was allerdings ungeschickt von Özil war, das war das lange Schweigen.

  14. Das, was Herr Özil im Wahlkampf gemacht hat, ist schwer zu verteidigen. Entweder weißt er nicht von ermordeten Kurden und Oppositionellen, oder es ist ihm egal.
    Migrationshintergrund. Das Wort ist entstanden, weil es die Menschen brauchten, um eine Eigenschaft zu beschreiben. Die zu verteufeln, ist für mich genauso albern, wie die Verbannung von bestimmten Buchstaben auf Autokennzeichen.
    Den Versuch, die Realität mit der Sprache zu verzaubern, finde ich kontraproduktiv. Die Realität bleibt wie sie ist, nur die Sprache wird verstellt.

  15. Wo steht geschrieben, dass eine deutschsprachige Zeitung für das hauptsächlich deutschstämmige Bildungsbürgertum Redakteure beschäftigen muss, die diesem Milieu nicht angehören?

  16. @LLL:
    Jaaa, vllt. ist Erdogan ein weiterer Politiker, der berühmte Sportler stalkt und sie notfalls bis in die Umkleide verfolgt, um ihnen die Hand zu schütteln, wenn die nur mit einem Handtuch um aus der Dusche kommen und nicht einfach weglaufen können (Danke, Merkel), aber im konkreten Fall ist _ein Termin_ gemacht worden. Da hätte man auch einfach sagen können, dass man im fraglichen Zeitfenster leider, leider keine Zeit habe. Özils Respekt für die Türkei, ihre Kultur und ihre Institutionen wird dadurch ja nicht gemindert, dass er nicht stramm steht, wenn Erdogan was haben will. (Amtsinhaber =! Amt)

    @Böhler:
    So gesehen ist JEDE Bezeichnung für Menschen ausgrenzend. Weil eine Bezeichnung, die eine bestimmte Gruppe bezeichnet, alle Nichtgruppenglieder als Nichtgruppenmitglieder bezeichnet.

    Ganz allgemein, angenommen, der deutsch-deutsche deutsche Nationalspieler Michel Deutschländer aus Deutschhausen träfe sich mit einem hochrangigen AfD-Politiker, der zufällig aus demselben Ort kommt, für einen Fototermin. Es ist gerade Wahlkampf. Deutschländer beteuert, dass das natürlich nichts mit Politik und/oder Wahlkampf zu tun gehabt hätte. Wer würde ihm das abkaufen? Würde das nicht auch einen Shitstorm auslösen? Und weiter gefragt, würde man ihn dann nicht aus der Nationalmannschaft werfen, um die „politische Neutralität“ aufrechtzuerhalten? Ich hoffe, doch.

  17. @mycroft

    Hoffen Sie wirklich, dass man Leute aus der Nationalmannschaft wirft wenn diese sich mit Politikern treffen? Also generell?
    Was ist mit treffen mit Merkel, Steinmeier etc.? Wo macht man da den Unterschied?
    Nicht dass wir uns falsch verstehen: ich fände es auch sehr befremdlich wenn sich einer mit afd Funktionären treffen würde, aber wir haben hier immer noch Meinungsfreiheit. Da gehört das dazu. Und jemanden deswegen rauszuwerfen fände ich kontraproduktiv. (und es würde sicher eher der afd helfen. Wegen Opfer und so)
    Vor allem, weil das mit seiner sportlichen Leistung — und um die geht es ja in der Nationalmannschaft — nix zu tun hat.

    @Stefan Niggemeier
    Vielen Dank für den Artikel! Leider sind diese Töne bisher an mir vorbei gegangen. Aber umso besser, dass es sie gibt.

  18. @Ichbinich:
    Klar haben wir Meinungsfreiheit. Offenbar gibt es trotzdem selten Wahlkampfunterstützung von Fußballspielern für bestimmte Parteien oder Politiker.
    Wenn dann der eine Fußballspieler, der dann doch Partei ergreift, ausgerechnet die Partei ergreifen würde, die mit so tollen sportlichen Idealen wie „Völkerverständigung“, „Respekt“ und „Toleranz“ am wenigsten zu tun hat, würde es diesbezügliche Ansprüche des DFB doch schon ad absurdum führen. Ok, Sie haben Recht, vllt. wäre es daher besser, ein AfD-Spieler bliebe im Kader. *g*g

    Ansonsten, ersetzen Sie meinethalben die AfD in meinem Beispiel mit der Reichsbürgerbewegung, dann haben Sie das Szenario, als Xavier Naidoo nicht beim ESC auftrat. Ging nicht um die künstlerische Leistung, soviel ist mal klar.

  19. @16 LLL
    „… und die meisten Leute würden sich in einer vergleichbaren Situation auch nicht entziehen, egal, was ihre politischen Einstellungen sein mögen. …“

    Ja – z. B., als der junge Engländer, Richard „Dick“ Seaman, (indirekt) angestellt in „reichssportlichen“ Diensten, den rechten Arm hob.
    Die Briten haben ihm das wohl verziehen; seine Mutter vermutlich nie.
    Vgl.: theguardian.com/observer/osm/story/0,6903,782811,00.html

  20. @Mycroft und andere:
    Was mich wirklich stört an der Debatte: kein Mensch hat was gegen inhaltliche Kritik, die man Özils Verhalten entgegenstellt (okay, er selbst vielleicht schon ;-) aber das muss er natürlich aushalten).
    Nur würde das beim „Reichsbürger-AfD-Fußballer-Treffen“ vom superdeutschen Superfußballer eben genau das mit sich bringen (scharfe Kritik an seinen Handlungen und ein Verdacht, dass er dem Herrn politisch nahe steht), dem migrantischen Fußballer passiert neben dieser Kritik auch noch zusätzlich folgendes:
    1) man empfiehlt ihm, Deutschland doch lieber „in Richtung seiner Heimat“ zu verlassen
    2) man unterscheidet plötzlich in Schlagzeilen und jedem Nebensatz feinsäuberlich zwischen den „deutschen“ Nationalspielern und den „deutsch-türkischen“ oder den „Deutschen“ und den „Deutschtürken“
    3) man fragt sich, ob er denn für die „deutsche“ Nationalmannschaft spielen könnte, wo er doch offensichtlich „im Herzen“ kein „Deutscher“ sei
    4) man bebildert jeden Artikel, in dem man über das schlechte Abschneiden der deutschen Mannschaft in Russland berichtet, mit einem Bild von ihm (gerne unter Schlagzeilen wie „das Versagen der Mannschaft“)

    Das alles würde halt dem „deutsch-deutschen“ nicht passieren. Man würde ihn kritisieren, aber ihm nicht seine Staatsbürgerschaft, seine Zugehörigkeit zu diesem Land, seine Identität absprechen. Und man würde nicht plötzlich so tun als ob die Mannschaft seinetwegen verloren hätte.

  21. @Helena:
    Wieso würde man nicht tun, als hätte die Mannschaft seinetwegen verloren? Ein Sündenbock ist so gut wie der andere.

    Man würde nicht „vllt.“ vermuten, dass er den Reichbürgern oder wem „nahesteht“, wenn er sich mit ihnen für Werbefotos trifft, man würde ihn für einen halten. Seine Staatsbürgerschaft würde man ihm nicht absprechen müssen, weil er sie selber als Reichsbürger in Frage stellt.
    Ich persönlich (aber nicht nur) würde definitiv die Frage stellen, ob er für die Nationalmannschaft auflaufen, er kann ja mit seinen Kumpeln gerne eine Reichsmannschaft aufstellen, wenn er genug zusammen kriegt. (Wenn Sie jetzt darauf abstellen, dass „ich“ nicht „man“ bin, haben Sie leider recht.)

    Und joah, in der dt. Gesellschaft gibt’s Rassismus, und im Fußball eher überproportional mehr, vermute ich, weil man da Flaggen schwingen darf, ohne komisch angekuckt zu werden. Dass man darüber jetzt diskutiert, finde ich gut, nur schade, dass ausgerechnet DAS der Anlass ist.

  22. @9, 10
    „Migrationshintergrund“ wird vor allem nach der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts (2000) benutzt. Bis dahin haben wir meistens von Ausländern gesprochen. Nachdem aber immer mehr von ihnen Deutsche wurden, fielen sie eben aus der Statistik. Und in manchen Fällen braucht es einfach Begriffe, die eine bestimmte Gruppe präzise benennen. Einfach von Einwanderern oder Migranten zu sprechen ist genauso falsch, ein Großteil der Migrationshintergründler ist selbst nie migriert.
    Es ist trotzdem möglich Wörter zur nutzen, die zutreffen, aber weniger sperrig und aseptisch klingen. Wer das nicht schafft, ist im Journalismus vielleicht nicht so gut aufgehoben oder hat sich eben nie Gedanken drüber gemacht.
    Wir (ich bin Geschäftsführerin der Neuen deutschen Medienmacher) schlagen deshalb in einem Glossar für die Berichterstattung im Einwanderungsland zig brauchbare Alternativen vor, z.B. Menschen aus Einwandererfamilien – wird inzwischen öfter benutzt –, Menschen mit internationaler Geschichte, Einwanderer und ihre Nachkommen etc. Alles ziemlich lang, aber leichter verständlich und weniger abstrakt als Mihigru.

    Und, nein, wir wollen niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu berichten hat. Wir finden es nur richtig gut, wenn unsere Kolleginnen und Kollegen eine informierte Entscheidung für oder gegen eine Formulierung in ihrer Berichterstattung treffen.

    Das Glossar ist als Impuls gedacht. Für alle, die gern wissen würden, wie all diese Begriffe rund um Migration und Integration, wohl bei denen ankommen, die damit gemeint sind.
    https://glossar.neuemedienmacher.de

  23. @ Mycroft:

    „Da hätte man auch einfach sagen können, dass man im fraglichen Zeitfenster leider, leider keine Zeit habe.“

    Das schon, aber ich glaube einfach, dass das psychologisch schwieriger ist und mehr Courage erfordert, als es von außen den Anschein hat.

    Ich glaube, dass Menschen ganz allgemein die Schwierigkeit unterschätzen, in bestimmten sozialen Situationen sich dem Erwartungsdruck zu entziehen (siehe z.B. Stannford-Prison- und Milgram-Experiment – auch wenn das natürlich wesentlich anders gelagerte Fälle sind).
    Gutheißen tue ich Özils Verhalten aber dennoch nicht.

    Özils eigene Erklärungen könnte übrigens auch eine nachträgliche Rationalisierung dafür sein, dass er nicht aus der ihm zugedachten sozialen Rolle ausgebrochen ist – ist aber natürlich Spekulation.

    @ B. Hellwig: Danke für den Link.

  24. Auch wenn das nur am Rande zum Thema gehört: Ich habe außerdem das Gefühl, dass im Hinblick auf Erdogan eine ziemliche Doppelmoral herrscht, was nun eben auch Özil zum Schaden gereicht.

    Ich kann Erdogan überhaupt nicht leiden und bin der Meinung, dass es gut wäre, wenn Özil und Gündogan ihm aus Protest – am besten publikumswirksam – den Handschlag verweigert hätten. Beispielsweise berichtet SPON gerade, dass die mongolische Regierung offenbar die Entführung eines Gülen-Anhängers aus ihrem Land verhindert habe. Mutmaßlich steckt die türkische Regierung hinter der versuchten Entführung. In dem Artikel heißt es:
    „In den vergangenen Monaten holte der türkische Geheimdienst bei umstrittenen Einsätzen mehrere mutmaßliche Gülen-Anhänger aus dem Ausland.“
    http://www.spiegel.de/politik/ausland/mongolei-verhindert-offenbar-entfuehrung-von-guelen-anhaenger-a-1220616.html

    Ungeheuerlich, möchte man meinen: Ein Staat, der einfach mal so Menschen entführt, ist eine verbrecherische Organisation, und seine Repräsentanten gehören dementsprechend wie Gangster behandelt (das heißt hier, sie sollten vor ein internationales Gericht gestellt und mit langjährigen Freiheitsstrafen bestraft werden).

    Dazu fällt mir aber ein, dass beispielsweise auch die USA etliche Menschen – darunter auch komplett unschuldige – entführt und gefoltert haben, und zwar auch aus europäischen Ländern, die sicherlich zu einer rechtsstaatlichen Verfolgung bei entsprechenden Indizien bereit gewesen wäre.
    Kein Mensch käme aber doch deswegen auf die Idee, es einem Fußballspieler mit amerikanischen Wurzeln zu verübeln, wenn er eine Einladung eines amerikanischen Präsidenten einnimmt.

    Jetzt mag man sagen, dass die Türkei unter Erdogan schlimmer seien als die USA. Das kann man so sehen, aber auch anders: Zwar ist es etwa um die Meinungsfreiheit in den USA besser bestellt als in der Türkei, dafür führen die USA aber wesentlich mehr illegale Kriege. Allein mit dem jeweiligen „Sündenregister“ ist die angesprochene Doppelmoral jedenfalls schwer zu erklären.

    Ich würde auch bezweifeln, dass ein Fußballspieler mit saudi-arabischen Wurzeln, der etwa eine Einladung des saudi-arabischen Kronprinzen annimmt, ebenso hart kritisiert würde wie Özil – obwohl die Zustände in der Türkei noch wesentlich besser sind als die in Saudi-Arabien.

    Bestimmte Politiker gelten als Schurken, deren Namen man nur mit Widerwillen ausspricht, und andere nicht – und das hat nicht immer nur sachliche Gründe.

  25. Um die Debatte zu erwürgen sollte man sie auf jeden Fall auf Ösil zurückführen und die ganzen anderen Erfahrungsberichte ignorieren. Und dann abschießen mit dem Hinweis, dass Erdogans in England arbeitender Jugendfreund und Saufkumpan nun wirklich nicht das Recht hat sich zu beschweren, des fussballerischen Leistungen noch schlechter sind.

  26. @Heinz Schnabel 18
    Wo steht geschrieben, dass Journalisten mit türkischem Namen nicht deutschstämmiges Bildungsbürgertum sind?

    @Mycroft 24
    Schade ja. Aber besser DER Anlass als gar kein Anlass?

  27. @Konstantina Vassiliou-Enz

    Vielen Dank für den Glossar-Link. Schon ein bisschen Stöbern hat mir mal wieder meine eigenen Formulierungsunbedachtheiten aufgezeigt.

    Copyright-Deutsche integriere ich sofort in meinen Wortschatz. Bei den „Neuen Deutschen“ zb hab ich ein bisschen Bedenken wg Begriffskaperung von rechts.

  28. @LLL:
    Welcher „soziale“ Druck? Der der latent rassistischen dt. Mehrheitsgesellschaft doch wohl nicht.
    Wenn ein Fußballer mit saudi-arabischen Wurzeln einem saudischen Prinzen die Hand schüttelt, ohne dass das ähnlich hart kritisiert wird, wäre der Fehler die fehlende Kritik. Diskutieren wir weiter, wenn das Szenario eintritt, ja?

    @Muffelin:
    Wenn das der einzige Fall von Rassismus im Fußball oder sonstwo wäre, wäre das eine bessere Welt. Aber Anlässe gibt’s leider „genug“, also viel zu viele. Fazit: Rassismus gegen Millionäre muss diskutiert werden, weil grade Millionäre am schlimmsten unter Rassismus leiden.

    @Mirco: Ich würge die Debatte nicht ab, ich beteilige mich an ihr. Kann ja sein, dass Grindel ein Rassist ist, weil er Özil benachteiligt, aber was ist dann Erdogan, der ethnische und religiöse Minderheiten rund um die Uhr benachteiligt?

  29. @Mycroft
    Wer sagt wo, dass Millionäre am schlimmsten unter Rassismus leiden?
    Die Debatte um Özil hat Metwo ausgelöst.

  30. @Muffelin:
    Das sollte Sarkasmus sein.
    Natürlich leiden ärmere Leute eher unter Rassismus, weil da das Machtgefälle größer ist.

  31. @Muffelin
    Wie schön, Danke fürs Lob!
    Gibts auch als gedruckte Broschüre für Medienschaffende umsonst bei uns zu bestellen, prima Klolektüre, von wegen Stöbern.

    „Neue Deutsche“ ist auch bei uns umstritten. Die Definition hat sich, seit Veröffentlichung der ersten Auflage 2014, auch einige Mal verändert. Und die AfD hat sich längst bedient: vor der Bundestagswahl haben die eine schwangere Frau plakatiert zum Slogan „Neue Deutsche machen wir selber“.

    Aber Sprache verändert sich eben und die Konnotation von Begriffen ist so vielen Einflüssen unterworfen, dass wir uns nicht einbilden, das selbst in der Hand zu haben. Umso spannender, es in so einem Glossar abzubilden.

    Und „Migrationshintergrund“ war auch mal ein ziemlich positives Wort, als es den „Ausländer“ ablöste.

  32. @Mycroft
    Hatte ich auch als Sarkasmus verstanden. Klingt halt mitunter so, als sei eine Rassismusdebatte obsolet, bloß weils halt in diesem Fall um einen privilegierten Millionär geht. Meine jetzt nicht Sie. Irgendwer rief hier neulich „Kontext“.

    @Konstantina Vassiliou-Enz
    Bei uns aufm Dorf damals wurde die einzige dunkelhäutige Familie als „feuerfest“ bezeichnet und es wurde auch noch „geschuftet bis zur Vergasung“. War gar nicht so zynisch gemeint, wie es unbedarft aus den Mündern kam.

    Prima, dass Sie dran bleiben. Und umstreiten. Und neu auflegen.

    ( Ich schaffe gar keine Medien, bloß meine Mitmenschen :) )

  33. Wichtige Artikel zu relevanten gesellschaftlichen Themen sollten grundlegend hinter Paywalls versteckt werden. Sehr gut, weiter so.

  34. @ Mycroft:

    „Welcher ’soziale‘ Druck?“

    Özil und Erdogan haben sich bereits in der Vergangenheit getroffen. Nun ein Treffen abzulehnen, würde von der türkische Regierung vermutlich als erhebliche Brüskierung empfunden werden. Und wenn es keine gute Ausrede gibt, würden vermutlich viele Türken und türkischstämmige Personen dies ebenfalls kritikwürdig finden.

  35. Wichtige Artikel zu relevanten gesellschaftlichen Themen sollten grundlegend hinter Paywalls versteckt werden. Sehr gut, weiter so.

    Unglaublich, dass Journalisten für ihre Arbeit bezahlt werden möchten. Sie sind da einem echten Skandal auf der Spur!

  36. @LLL:
    Okeee, Özil leidet unter sozialem Druck _durch_ Türken. Gleichzeitig beklagt er die soziale Benachteiligung _von_ Türken. Es kommt mir nicht ganz schlüssig vor, dass ausgerechnet Özil ganz unten in der Hackordnung stehen sollte.

    Was die vorigen Treffen betrifft, haben Sie aber natürlich Recht. Da der DFB das in der Vergangenheit anscheinend nie beanstandet hatte, durfte Özil davon ausgehen, dass man ihm daraus DFB-seitig keinen Strick dreht.
    Andrerseits, wenn er gesagt hätte: „Bitte, DFB, ich will mich nicht schon wieder mit Erdogan treffen!“, hätte man vllt. eine Lösung gefunden, bei der er nicht als der „Böse“ dagestanden hätte.
    Vermutlich hätte Erdogan zwar einen Bluttest gefordert, ob Özil wirklich ein echter Türke sei. Wie von Özdemir. Weil deutsche Bundestagsabgeordnete und deutsche Nationalspieler vor allem reinrassige Türken sein müssen, um was zu taugen. Für Erdogan jedenfalls.
    Aber der DFB hätte Haltung zeigen können. (Alternativ hätte er auch einfach sagen können, dass das Ausscheiden nichts mit individuellen Fehlleistungen zu tun gehabt hatte, sondern ein gemeinschaftliches Versagen ist, und beim nä. Mal würde man aus den Fehlern gelernt haben und so. Aber neee…)

  37. Für das Problem mit dem Wort „Deutscher“ sind die SPD und v.a. die Grünen verantwortlich. Der Begriff „deutsch“ ist wohldefiniert und nun verkünsteln sich manche, um den Begriff der (neuen) Gesetze und der eigentlichen Bedeutung in Deckung zu bringen.

    In diesem Sinne wünsche ich allen Andersdenkenden noch viel Spaß, ein Unwesen mit der deutschen Sprache zu treiben. Wir werden noch viel mehr Spaß haben, wenn die Verhältnisse wie in dem Einwanderungsland USA offenbar werden. Vielleicht sollten wir jetzt schon unsere Gesetzgebung der Gesetzgebung Texas anpassen, damit sich der Bürger selbst schützen kann.

  38. @ Mycroft:

    „Okeee, Özil leidet unter sozialem Druck _durch_ Türken. Gleichzeitig beklagt er die soziale Benachteiligung _von_ Türken. Es kommt mir nicht ganz schlüssig vor, dass ausgerechnet Özil ganz unten in der Hackordnung stehen sollte.“

    Man muss nicht unten in der Hackordnung stehen, um „sozialem Druck“ ausgesetzt zu sein – man kann auch ganz oben stehen. Gerade dort kann der soziale Druck sogar besonders hoch sein, weil man sich dort im Fokus der Aufmerksamkeit befindet und die Erwartungen besonders hoch sind.
    Auch und erst recht ein Erdogan könnte es sich beispielsweise schlecht erlauben, beispielsweise als „unpatriotisch“ zu erscheinen. (Und in einem gewissen Sinne – wenn auch sicher milder in der Form – gilt das selbst für den deutschen Bundespräsidenten.) Eher könnte sich so etwas – oder auch vieles andere – im Zweifelsfall ein „Normalbürger“ erlauben, der „hierarchisch“ weit „unten“ steht.

    Der soziale Druck muss auch nicht „aktiv“ ausgeübt werden. Er kann in der Situation selbst liegen – in den (so wahrgenommenen) Erwartungen und Forderungen der Umwelt und deren (antizipierten) Reaktionen. Die „Umwelt“ kann dabei in jeder wichtige Bezugsgruppe bestehen. Auch von einer Gruppe, die diskriminiert wird, kann dabei sozialer Druck ausgehen.

  39. #40 Genau Herr Jacobi, „Deutscher“ ist längst definiert, aber nicht von den Rassekundlern, sondern vom Staatsbürgerschaftsrecht. Somit ist Özil – jetzt ganz tapfer sein – Deutscher.

  40. @LLL:
    Ich kritisiere nicht Erdogan, weil er sich mit Özil trifft. Irgendwie scheint es schon „Tradition“ geworden zu sein, dass dt. Nationalspieler mit türkischen Wurzeln regelmäßig ihre Trikots bei Erdogan abliefern.
    Ok, wenn man dann plötzlich damit aufhört, sieht das natürlich doof aus, aber wenn man aus Angst vor negativen Folgen damit aufhören will, wäre es ja schön, wenn man das dem DFB in die Schuhe schieben könnte, weil der einem das „verbietet“.
    Ich merke nur irgendwie nicht, dass Özil oder sonstwer irgendwie versucht hat, sich Erdogan zu entziehen.

  41. @ Mycroft:

    Die Frage ist auch, ob der DFB es untersagen kann, dass ein Fußballer sich mit einem hohen Politker eines anderen Landes trifft. Das wäre vermutlich schwer durchsetzbar. Also nur im Fall von türkischstämmigen Personen bei türkischen Politikern? Damit wäre der DFB dann schon tief drinnen in der Politik.

    Und man überlege sich auch dies: Özil würde versuchen, die Sache über den DFB zu „regeln“ und das würde auffliegen…

  42. @Mycroft, LLL

    Ich hab ja nu auch echt nicht alles zum Zustandekommen dieses Fototermins gelesen, bzw wer da jetzt alles warum beteiligt war, gewesen sein dürfte oder konnte, oder eben grad nicht, aber:

    Können Sie sich evtl vorstellen, dass diese Entscheidung bzw der Termin längstens nicht so allumfassend bewusst durchdacht und unbewusst beeinflusst wurde, wie jetzt im Nachhinein so eifrig spekuliert,
    interpretiert oder einfach mal „gewusst“ wird?

    Ich werf spaßeshalber noch Hanlon’s Razor ins Spiel. Das Ding mit der Dummheit statt Böswilligkeit als hinreichender Erklärung.

    Spätestens ein nächster vergleichbarer Termin dürfte dann so ganz allgemein und von welchen Beteiligten auch immer etwas bewusster überlegt sein. Özil hat sich ja nun ohnehin aus diesem Spiel rausgenommen.

  43. „Und man überlege sich auch dies: Özil würde versuchen, die Sache über den DFB zu „regeln“ und das würde auffliegen…“ Ob das wahrscheinlich wäre? Erdogan wäre jedenfalls sauer. Was will er machen? Özil einsperren? Den DFB? Merkel? Ganz sicher Merkel, eine Regierungschefin, die ihre Bürger nicht an der Kandare hält, ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Was kann er machen? Gar nix.

    „Können Sie sich evtl vorstellen, dass diese Entscheidung bzw der Termin längstens nicht so allumfassend bewusst durchdacht und unbewusst beeinflusst wurde,…“ Klar kann ich mir das vorstellen. Daraus sollte man die Lehre ziehen, sich mehr Gedanken zu machen.
    Z.B.: „Finde ich es gut, wie Kurden in der Türkei behandelt werden? Falls ja, wieso beschwere ich mich über Diskriminierung? Falls nicht, wieso schenke ich dann dem Hauptverantwortlichen für diese Diskriminierung ein Trikot?“

  44. Das verkommt hier mehr und mehr zu einem privaten Forum von Leuten die ein übertriebenes Mitteilungsbedürfnis haben. Herr Niggemeyer. So sehr ich sie schätze. Und es tut mir wirklich leid. Aber so möchte ich ihre Seite nicht mehr aufrufen.

  45. @ Mycroft:

    „Erdogan wäre jedenfalls sauer.“

    Und bei allen Erdogan-Anhängern und vielleicht auch anderen Leuten mit türkischem Hintergrund wäre er auch ziemlich unten durch. Wie wahrscheinlich es ist, dass so was rauskommt, weiß ich nicht.

    „Z.B.: ‚Finde ich es gut, wie Kurden in der Türkei behandelt werden?'“

    Nur am Rande: Die Unterdrückung der Kurden – die wahrhaft exzessiv ist – gab es schon lange vor Erdogan. (Erdogan hat sogar mal eine Versöhnung versucht, was bei seinen Landsleuten offenbar schlecht ankam, weshalb er es wieder ließ.) Nur hat das niemanden groß interessiert. Im Gegenteil, die Bundesregierung hat der Türkei immer brav Waffen geliefert (auch unter Merkel an Erdogan), im Wissen, dass die Türkei diese nutzen wird, um die Kurden noch besser zu unterdrücken. Daran, dass die Bundesregierung deswegen von den Medien „gegrillt“ worden wäre, erinnere ich mich nicht. Und daran, dass ein Generalbundesanwalt gegen die Mitglieder des Bundessicherheitsrates wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ähnlichem ermittelt hätte, auch nicht.

    Klar, Erdogan ist böse, ebenso wie Putin oder Trump; die Bundesregierung hingegen ist – trotz aller Fehler im Detail, über die man selbstverständlich gerne diskutieren darf – letzten Endes gut. Ein Fußballer, der sich mit der Bundeskanzlerin trifft, muss daher auch nicht mit heftiger Kritik rechnen.

  46. @49 LLL

    „Klar, Erdogan ist böse, ebenso wie Putin oder Trump; die Bundesregierung hingegen ist – trotz aller Fehler im Detail, über die man selbstverständlich gerne diskutieren darf – letzten Endes gut.“

    Danke! Diesen Satz werde ich mir ausdrucken und dreimal jeden Morgen aufsagen. Das wird mein Leben einfacher machen. Mein Weltbild ist einfach zu komplex.

  47. „Und bei allen Erdogan-Anhängern und vielleicht auch anderen Leuten mit türkischem Hintergrund wäre er auch ziemlich unten durch.“ Ein Deutscher, der sich nicht mit Steinmeier oder Merkel treffen will, wäre deshalb bei anderen Deutschen nicht unten durch. (Insbesondere, wenn das Treffen dazu dient, dass man Merkel oder Steinmeier Sport-Devotionalien zu überreichen hat und/oder Wahlkampf betreibt.) Das ist der EINE Unterschied.
    Der andere Unterschied ist, dass Özil jetzt bei Erdogan-Gegnern und generell Leuten ohne türkischen Hintergrund unten durch ist, und da gibt’s hierzulande halt mehr von.
    Kurdenfeindlichkeit wurde von Erdogan nicht erfunden, aber wenn ein Türkeitürke oder ein Deutschtürke Erdogans harten Kurdenkurs unterstützt, darf ich dann nicht annehmen, dass die den gut finden? Und es ist ja richtig, dass Erdogan mehr auf Irgendwastürken hört als auf Merkel.

  48. Mycroft, bitte.

    Hier geht es um eine Debatte über die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit ausländischen Wurzeln in Deuschland. Eine Debatte, die angesichts der vielen Artikel und #metwo-Tweets anscheinend dringend überfällig ist. Und die durch Özils Rücktritt nur ausgelöst wurde.

    Und schon im fünften Kommentar braten Sie wieder dazwischen mit „Ja, aber Özil hat doch…“

    Was soll das? Macht das die Diskriminierung ungeschehen? Rechtfertigt das Rassismus? Warum wärmen Sie das jetzt schon wieder auf? Damit haben Sie doch schon den Kommentar von Philip Köster vollgemeint. Da gehörte das wenigstens hin. Sind Sie froh, dass es hier jetzt in den Kommentaren doch wieder fast ausschließlich um Özil geht?

  49. @Ingo S.:
    Die Vorgeschichte macht Özils Diskriminierung nicht ungeschehen, aber relativiert sie. Oder anders, nur weil sich der DFB, die Medien und die Öffentlichkeit falsch verhalten, ist Özils Verhalten nicht im Umkehrschluss richtig.

    Der Artikel „BILD weiß“ befasst sich aber mMn tatsächlich mehr mit Alltagsdiskriminierung und deren Wahrnehmung oder hier eher Verdrängung durch Medien und/oder Öffentlichkeit, als die ganze Diskussion über Özil.

    Die Stelle, wo ich auch nur andeute, dass Özils Verhalten oder Unterlassen Rassismus rechtfertigte, mögen Sie mir aber bitte angeben. Jetzt bin ich neugierig.

  50. Nochmal: Warum ziehen Sie das Özil-Thema in diesen Kommentarthread? Was hat das mit dem Artikel zu tun? Was mit der strukturellen Diskriminierung und dem latenten Rassismus in Deutschland?

    Sie leiten den Themenschwenk in @5 ein mit dem Satz „Punkt ist aber, dass der Rassismus in Deutschland jetzt kein Blankofreibrief ist.“ Dann wieder „Özil blablabla…“

    Und dann ist doch wieder Özil schuld an allem. Und wir können in Ruhe weiterdiskriminieren.

    Ich zitiere mal aus http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/rassismus-in-deutschland-wir-wollen-nicht-schweigen-a-1220836.html:
    „Oder es wird behauptet, als „Biodeutscher“ oder „autochthoner Deutscher“ könne man schließlich auch nicht in bestimmte Viertel deutscher Städte gehen, ohne Gefahr zu laufen, von Migranten angegriffen zu werden – noch einmal: Als ob das eine Problem das andere rechtfertigte.“

    Das meine ich. Da stößt einer eine Debatte an, ob gewollt oder nicht. Sie lehnen die Debatte offenbar ab, weil derjenige außerdem (!) noch Sachen gesagt hat, die zweifelhaft sind. Das nervt. Lesen Sie mal die Kommentare unter dem Spielgel-Artikel. Es ist zum Haareraufen!

  51. Ich lehne keine Debatte ab. Was man vllt. daran erkennen könnte, dass ich mich an ihr beteilige.
    Der jetzige Fall ist trotzdem kein besonders typisches Beispiel von strukturellem Rassismus. Soll ich so tun, als wäre das einer?

  52. Mycroft,
    unter einem Artikel, der sich mit den Gefühlen hier lebender Menschen aus Einwandererfamilien, mit dem häufigen Eindruck, nicht als vollwertige Deutsche anerkannt zu werden, mit dem Leidensdruck, der sich daraus ergibt, schreiben sie: „Das rechfertigt gar nichts, Özil hat schließlich…!!!“

    Finden Sie das wirklich angemessen? Was haben diese leute damit zu tun, dass Özil sich mit Erdogan getroffen hat. Was haben Menschen mit russischen oder sudanesischen Wurzeln damit zu tun?

    Wir sollten uns doch viel eher fragen, wie man die angesprochenen Zustände ändern könnte. Dass Menschen mit Migrationshintergrund größere Probleme bei Schule, Studium, Job- und Wohnungssuche haben, kann doch niemand bestreiten. Dass sie anders behandelt werden als eingeborene Deutsche, das ist so. Das mag zum Teil erklärbar sein und geschieht sicher häufig unterbewusst, aber es passiert und es ist falsch. Jetzt mal abgesehen von offenem Rassismus. Bei dem Thema gäbe es viel zu reden und nachzudenken.

    Ich selbst muss mich das immer wieder fragen. Wenn ich von irgendeinem Vollidioten angepöbelt werde. Und mir immer wieder irgendwas rassistisches in den Kopf schießt, wenn derjenige südländisch aussieht. Was nicht passiert, wenn der Idiot „deutsch“ aussieht. Zum Glück habe ich bislang meine Klappe gehalten. Jeder sollte sich fragen, ob er als Vermieter eine türkischstämmige Familie mit Kopftuchfrau genauso behanden würde wie das Ehepaar Schröder mit den Kindern Nils und Leon. Und warum er das nicht tut. Darum geht es doch.

    Sie dagegen lesen nur „Özil“ und das wars. Und das betrachte ich hier nicht als hilfreichen Beitrag. Genausowenig wie diese unsäglichen „Wir sind doch gar nicht rassistisch“-Artikel in irgendwelchen konservativen Blättchen. Wollen Sie das Problem gar nicht sehen?

  53. @Ingo S.,
    dieser Artikel ist mit „Mesut Özil“ verschlagwortet. Es geht um Reaktionen auf die Rassismusvorwürfe von Özil selbst.
    Und zur Anzahl von Redaktionsmitgliedern mit ausländischen Wurzeln, in dt. Zeitungen, ok.
    Aber trotzdem ist Özil hier auch das Thema, und das es nicht um die Rassismusvorwürfe von wem anderes geht, ist nicht meine Schuld.

    „Jeder sollte sich fragen, ob er als Vermieter eine türkischstämmige Familie mit Kopftuchfrau genauso behanden würde wie das Ehepaar Schröder mit den Kindern Nils und Leon. Und warum er das nicht tut. …“ Sie nehmen das Ergebnis der Frage schon vorweg. Schon mal darüber nachdacht, dass es Menschen geben könnte, die tatsächlich beide gleich behandeln? Oder, für Fortgeschrittene, dass es auch Vermieter geben könnte, die türkischer Abstammung sind? Sollen die auch darüber nachdenken, ob sie türkischstämmige Mieter genauso behandeln wie Schröders, oder gehen Sie davon aus, dass die das nicht brauchen?

    Zu den „Wir sind doch gar nicht rassistisch“-Sprüchen äußere ich mich schon in der Kommentarspalte vom Nachbarartikel.

  54. „dieser Artikel ist mit „Mesut Özil“ verschlagwortet. Es geht um Reaktionen auf die Rassismusvorwürfe von Özil selbst.“

    Richtig. Es geht um Özils Rassismusvorwürfe und die vielen Artikel und Geschichten, die diese Vorwürfe belegen. Nicht um sein Treffen mit Erdogan.

    „Oder, für Fortgeschrittene, dass es auch Vermieter geben könnte, die türkischer Abstammung sind? Sollen die auch darüber nachdenken, ob sie türkischstämmige Mieter genauso behandeln wie Schröders, oder gehen Sie davon aus, dass die das nicht brauchen?“

    Also wieder dieses Argument: Vermieter türkischer Abstammung benachteiligen eventuell deutsche Familen. Prima, dann dürfen sich türkischstämmige Mietinteressenten nicht über Diskriminierung beklagen.

    Wir sind ja gar nicht fremdenfeindlich, aber wenn sich einige nicht so benehmen, wie wir uns das vorstellen, dann können wir ruhig allen gegenüber misstrauisch und missgünstig sein.

    Genau das ist es doch, was die vielen Kommentatoren beklagen. Und nein, darüber brauche ich nicht nachzudenken. Eigenes Fehlverhalten mit dem Fehlverhalten anderer zu begründen ist falsch und dumm. Insbesondere, wenn es um Diskriminierung und Rassismus geht und sich das auch noch in Deutschland abspielt.

  55. „Mesut Özil“ beinhaltet alles, was Mesut Özil so gemacht hat. Also theoretisch auch den WM-Titel von 2014. Ich konzentriere mich aber lieber auf Aktuelleres.
    „Also wieder dieses Argument: Vermieter türkischer Abstammung benachteiligen eventuell deutsche Familen. Prima, dann dürfen sich türkischstämmige Mietinteressenten nicht über Diskriminierung beklagen.“ Nö, mein Argument war mehr, dass Sie mit „jeder“ anscheinend „jeder Deutsche“ meinen, und Türkeistämmige nur mit Mietern assoziieren.
    Aber ja, schon rein statistisch benachteiligen einige türkischstämmige Vermieter nicht-türkischstämmige Mieter. Das ist aber nicht der Grund, warum deutschstämmige Vermieter nicht-deutschstämmige Mieter benachteiligen.

    „Natürlich“ ist der DFB zumindest latent rassistisch; es gibt viele rassistische Fußballfans, Fußballfunktionäre, Fußballreporter, Fußballspieler und vermutlich auch Reinigungskräfte im DFB-Hauptquartier. Daran wird sich leider nichts ändern, nur weil türkischstämmige Deutsche gut Fußball spielen, weil Rassisten leider nicht mit Gegenbeispielen überzeugbar sind.
    Insofern hat Mesut Özil wohl absolut Recht.

  56. @ Ingo S, 50:

    Ich hoffe nur, dass deutlich wird, dass mein Satz ironisch gemeint war und mein eigenes Weltbild auch etwas komplexer ist?

  57. @60 LLL

    Offengestanden hat mein Ironiedetektor an der Stelle versagt. Hmpf, dann muss ich mir wohl doch ein anderes Mantra suchen.

  58. @ Mycroft:

    „Kurdenfeindlichkeit wurde von Erdogan nicht erfunden, aber wenn ein Türkeitürke oder ein Deutschtürke Erdogans harten Kurdenkurs unterstützt, darf ich dann nicht annehmen, dass die den gut finden?“

    Nun gut, aber wer hat denn den Kurdenkurs unterstützt? Özil und Gündogan haben sich mit Erdogan getroffen. Heißt das, dass sie sein Vorgehen gegen die Türken unterstützen? Höchstens indirekt, oder?

    Wenn sich ein deutscher Fußballer mit deutschen Spitzenpolitikern trifft, darf man dann davon ausgehen, dass er beispielsweise die harte Kurden-Politik der Bundesregierung (der Türkei regelmäßig viele Waffen zur Unterdrückung der Kurden zu liefern) unterstützt?

    Wie schon gesagt hätte ich es ja besser gefunden, wenn Özil Erdogan nicht getroffen hätte. Ich finde einen Gutteil der Kritik nur etwas einseitig und übertrieben.

  59. @LLL:
    Indirekt, ja.
    „Wenn sich ein deutscher Fußballer mit deutschen Spitzenpolitikern trifft, darf man dann davon ausgehen, dass er beispielsweise die harte Kurden-Politik der Bundesregierung (der Türkei regelmäßig viele Waffen zur Unterdrückung der Kurden zu liefern) unterstützt?“
    Käme auf den Spitzenpolitiker an, würde ich sagen, weil z.B. Cem Özdemir jetzt nicht im Verdacht steht, Erdogan zu unterstützen.
    Weiterhin besteht die Unterdrückung der Kurden nicht nur in Kämpfen gegen Guerilla, sondern auch in diskriminierenden Gesetzen und kleinlichen Schikanen. Inwiefern irgendein dt. Politiker da auch nur annähernd so viel Verantwortung für tragen soll, wie das Oberhaupt des souveränen Staates, in dem das Ganze stattfindet, entzieht sich meiner Kenntnis.
    Und dann käme es bei so einem Treffen auch noch etwas auf dem Kontext an, gratuliert der Sportler den Politiker oder umgekehrt und so.

    Aber ja, ein Sportler, der sich mit Merkel trifft, ihr Geschenke macht und das im Vorfeld einer Wahl, unterstützt direkt Merkel und indirekt Merkels Erdogan-Kurs und doppelt indirekt Waffenlieferungen an die Türkei, die gegen Kurden eingesetzt werden. Sofern Merkel nicht vllt. damit wieder aufhört.
    Kennen Sie so einen Sportler, oder ist das rein akademisch?

  60. @ Mycroft:

    „Weiterhin besteht die Unterdrückung der Kurden nicht nur in Kämpfen gegen Guerilla, sondern auch in diskriminierenden Gesetzen und kleinlichen Schikanen.“

    Ja, aber das militärische Vorgehen dürfte noch schlimmer sein. Zweitens ermöglicht erst die militärische Macht der Türkei all die andern Diskriminierungen. Insofern sind Waffenlieferungen, die bei der Unterdrückung der Kurden helfen, nicht ein Punkt unter vielen, sondern einer von großem Gewicht.

    „Aber ja, ein Sportler, der sich mit Merkel trifft, ihr Geschenke macht und das im Vorfeld einer Wahl, unterstützt direkt Merkel und indirekt Merkels Erdogan-Kurs und doppelt indirekt Waffenlieferungen an die Türkei, die gegen Kurden eingesetzt werden.“

    Er unterstützt Merkels Waffenlieferungen an die Türkei, die zur Unterdrückung der Kurden dienen, so direkt oder indirekt wie ein Sportler, der sich mit Erdogan trifft, den Einsatz dieser Waffen durch Erdogan gegen die Kurden unterstützt.

  61. Lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel konstruieren (ja, es ist ein Gedankenexperiment), um den Punkt zu verdeutlichen, auf den ich hier hinaus will. Sie erinnern sich vielleicht an Henry Kissinger, den großen Weltpolitiker, den Friedensnobelpreisträger, den Freund von Helmut Schmidt, dem zu Ehren eine Stiftungsprofessur an der Uni Bonn begründet wurde.

    Hätte sich ein amerikanischer Sportler mit ihm getroffen: Es hätte sicher keine Kritik gehagelt.

    Nur gibt es da eine Winzigkeit zu sagen: Der gute Mann trug offenbar für viele sehr schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit und schwere Völkerrechtsverstöße entscheidende Verantwortung. Gegen ihn dürfte Erdogan fast ein Waisenknabe sein. Sein früherer Mitarbeiter Roger Morris sagte:

    „Wenn wir Henry Kissinger nach den gleichen Maßstäben beurteilen, wie wir es mit den anderen Staatschefs und Politikern in anderen Gesellschaften getan haben, z. B. in Deutschland und Japan nach dem Zweiten Weltkrieg, dann wird er sicher irgendwann als Kriegsverbrecher verurteilt werden.“

    Jetzt können Sie sagen, dass Kissinger nicht im Wahlkampf war, Ja, aber das ist doch nicht entscheidend oder sollte es nicht sein. Und außerdem: Auch zu Zeiten, wo er aktiv in der Politik und im Wahlkampf war, hätte die deutsche Presse einen amerikanischen Sportler wegen eines Treffens mit Kissinger sicherlich nicht „gekreuzigt“. Wahrscheinlich hätte sie ihn nicht mal kritisiert.

    Warum ist das so? Nun, es gibt Schurken. Und es gibt anständige Leute. Und manche Leute sind anständig, was auch immer sie auch tun. Wenn nun jemand, der anständig ist (wie etwa unsere Regierung), einem Schurken Waffen gibt, damit der seine Schurkereien betreiben kann, dann bleibt der Anständige dennoch anständig und der Schurke schurkisch. Und wenn jemand anständig ist, dann kann er auch handeln, als wäre er ein Schurke, und er bleibt natürlich dennoch anständig (wie etwa Kissinger). Deshalb hagelt es beispielsweise auch Kritik, wenn der schurkische Putin nach Recht und Gesetz die Mitarbeiter von Greenpeace für eine kurze Zeitspanne inhaftiert, während es in Ordnung ist – und ganz sicher kein Staatsterrorismus – ist, wenn der anständige Mitterrand einen Bombenanschlag gegen Greenpeace befiehlt, bei dem ein Schiff der Umweltorganisation zerstört wird und ein Mensch umkommt.

    Media Lens hat das Prinzip schön, wenn zugegebenermaßen auch etwas polemisch formuliert:

    „Readers will recall the famous perceptual illusion in which the brain switches between seeing a young girl and an image intended to represent an ‚old crone‘. The picture of course remains the same, but our minds flick between the two interpretations, unable to perceive both images at the same time.
    The ‚mainstream media‘ – that curious collection of elite-run, profit-maximising business interests sometimes known as ‚the free press‘ – performs a similar perceptual trick. In reviewing comparable crimes by the West and its official enemies, it is able to flick between perceiving virtue in ‚our‘ criminality where only wickedness is found in ‚theirs‘. Indeed, though ‚our‘ crimes may be as bad, as cynical, or worse, ‚their‘ crimes are consistently perceived as being far uglier.

    Thus, where comparable crimes by the West’s enemies elicit outrage and bitter condemnation, the crimes of a leading ally are whitewashed as ‚harsh‘, ‚controversial‘, mere ‚black marks‘ against an otherwise ‚pragmatic‘ and honourable nationalist serving his people…“
    http://www.medialens.org/index.php/alerts/alert-archive/2014/752-ariel-sharon.html

  62. Um es kurz zu machen: Diskriminierung ginge auch ohne Waffen. Umgekehrt müsste die Türkei evt. gar nicht mehr mit Kurden kämpfen, wenn Erdogan (oder das türkische Parlament, aber Erdogan hat dessen Macht ja letztens reduziert) bestimmte kurdenfeindliche Gesetze abschaffen würde. Ja, die sind nicht auf seinem Mist gewachsen, ja, die sind bei der türkischen Mehrheitsgesellschaft beliebt (die Gesetze, nicht die Kurden), aber unterm Strich ist es deutlich mehr Erdogans und nicht Merkels Verantwortung, wie sich der Konflikt entwickelt.
    Aber ja, indirekt unterstützt man mit Merkel Erdogans gewalttätige Kurdenpolitik, nur eben indirekter.

    Ihr Beispiel mit Kissinger: warum sollte die _deutsche_ Presse einen _amerikanischen_ Sportler kritisieren, der einen _amerikanischen_ Politiker trifft? Soweit ich das mitkriege, wird hierzulande generell selten über amerikanischen Sport und Sportler berichtet.
    Ok, letztes kam ein Bericht darüber, dass sich US-Sportler beim Nationalhymnesingen hinknien, und dass Trump das nicht gefällt, und dass sich der zuständige Verband die Einmischung von Trump verbittet. (Weil Knien in den US ja respektloser ist als Stehen? Trump und Logik halt.)

  63. @Mycroft:

    Und genau da sind wir ja beim Problem. Özil wurde — in Ihrer Sprache — eben gekreuzigt. Und da darf man als Hintergrund (zumindest in vielen Fällen) Rassismus vermuten. Und das ist tragisch.
    Und noch schlimmer ist, dass es offenbar immer noch vielen Mitbürgern mit migrationshintergrund in Deutschland so geht.

  64. Ich verstehe nach wie vor nicht, was die Kritik an Özils Wahlkampfhilfe für den Autokraten Erdogan mit Rassismus oder Diskriminierung zu tun hat.
    Ich (polnischer Migrationshintergrund) käme jedenfalls nicht im Leben auf die Idee, für einen wie Kaczyński zu werben. Was hat das bitte mit Herkunft zu tun?

  65. @ Mycroft:

    Also wenn ich Person X ein Messer gebe, obwohl ich mir ausrechnen kann, dass sie damit Person Y massakriert, dann bin ich zwar kein Mörder. Aber so hoch ist die moralische Fallhöhe dann in den meisten denkbaren Fällen sicher auch nicht. Und die Tatsache, dass X wild entschlossen ist, Y zu diskriminieren, einer der Gründe ist, wieso X dann Y mit dem von mir gelieferten Messer umbringt, dann macht meine Position doch wohl kaum moralisch besser, oder?

    Um es direkter zu sagen: Wenn heutzutage Erdogan wegen seiner Kurdenpolitik heftig am Pranger steht, und ein Fußballer, der ihn trifft, füsiliert wird, während sich keine Sau empört, dass die Bundesregierung sein Jahrzehnten die Türkei mit Waffen versorgt, die zur brutalen Unterdrückung der Kurden dienen, dann stimmt etwas nicht.

    Und ja, bei dem Kissinger-Beispiel habe ich einen kleinen Lapsus gemacht: Ich meinte natürlich einen deutschen Sportler mit amerikanischen Wurzeln. Und wenn man diese kleine Korrektur vornimmt, dann ist die Analogie da und das Argument wird schlüssig. Denn natürlich wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, einen deutschen Sportler mit amerikanischen Wurzeln wegen eines Treffens mit Kissinger groß zu kritisieren (und sei es zu Wahlkampfzeiten), obwohl Kissinger wohl deutlich schlimmer war als Erdogan gewesen sein dürfte.

    Und es ist ja nur ein Beispiel von unzähligen, an denen sich der Punkt illustrieren lässt. Ich weiß nicht, wo ich anfangen oder aufhören soll, aber ich gebe willkürlich noch ein Beispiel:

    Es ist m.W. heute unbestritten, dass die Hungersnot im Irak im Zusammenhang mit den damaligen Sanktionen nicht an einer fehlenden Kooperationsbereitschaft von Saddam Hussein, sondern vor allem an dem Willen der Westmächte lag, die das „Oil-for-Food-Programm“ unterminierten.

    Der Leiter des Oil-for-Food-Programms, Denis Halliday, erklärete:

    „Washington, and to a lesser extent London, have deliberately played games through the Sanctions Committee with this programme for years – it’s a deliberate ploy… That’s why I’ve been using the word ‚genocide‘, because this is a deliberate policy to destroy the people of Iraq. I’m afraid I have no other view at this late stage.“

    Halliday trat aus Protest zurück und wurde durch den deutschen UN-Diplomaten Hans von Sponeck ersetzt, der ebenfalls bald aus Protest zurücktrat und die Sanktionspolitik ebenfalls als „Völkermord“ bezeichnete.

    Durch die mutwillige Politik, die Zivilbevölkerung in den Hunger zu stürzen, ohne dass dies irgendeinen militärischen Sinn gehabt hätte, sind allein Hunderttausende von Kindern umgekommen.
    Es dürfte schwer sein, ein Verbrechen Erdogans zu finden, welches auch nur diesen Taten der USA und Großbritanniens gleichkommt.

    Und?

    Hätte ein deutscher Sportler mit amerikanischen Wurzeln, der den damaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton getroffen hätte, deswegen eine Flut von Kritik über sich ergießen lassen müssen?

    Oder ein deutscher Sportler mit britischen Wurzeln, weil er sich mit Blair getroffen hätte?

    Und sind Clinton und Blair auch nur halb so zu Hass-Figuren stilisiert worden wie Erdogan?

    Diese Fragen stellen heißt sie beantworten.

    Und warum ist das alles so? Siehe meinen letzten Beitrag. Und es ist eben KEIN Zufall, dass die eigene Regierung als prinzipiell wohlwollend dargestellt wird. Es ist KEIN Zufall, dass man Erdogan kritisiert, wenn er die Kurden unterdrückt, oder auch einen Fußballer, der sich mal kurz mit ihm trifft, während die äußerst unrühmliche Rolle der Bundesregierung bei der Bereitstellung von Waffen zur Unterdrückung der Kurden nahezu ein Nicht-Thema ist. Wer hat hinsichtlich der Türken-Politik der Türkei wohl mehr Schuld auf sich geladen und verdient mehr Kritik: Die Bundesregierung oder Özil?

    Es ist auch KEIN Zufall, dass die Regierungen enger verbündeter Staaten ebenfalls als grundsätzlich wohlmeinend apostrophiert werden. Und es ist auch KEIN Zufall, dass die entsprechenden Bewertungsprozesse sich eben weitgehend unabhängig von den Fakten ereignen, und dass doppelte Standards Routine sind.

    Und das ist die Heuchelei, die mir im Fall Özil auch aufstößt.

    Und wenn die Medien solche Formen der Heuchelei nicht benennen, sondern sie unkritisch betreiben, dann versagen sie im Hinblick auf eine essentielle Aufgabe grundlegend.

  66. Zitat LLL:

    „Also wenn ich Person X ein Messer gebe, obwohl ich mir ausrechnen kann, dass sie damit Person Y massakriert, dann bin ich zwar kein Mörder. Aber so hoch ist die moralische Fallhöhe dann in den meisten denkbaren Fällen sicher auch nicht. Und die Tatsache, dass X wild entschlossen ist, Y zu diskriminieren, einer der Gründe ist, wieso X dann Y mit dem von mir gelieferten Messer umbringt, dann macht meine Position doch wohl kaum moralisch besser, oder?“

    Und um das noch zu ergänzen: Wenn ich weiß, dass Person X Person Y gerade auch aufgrund ihrer Überlegenheit in Sachen Waffen Person Y erst diskriminiert, und dass diese Diskriminierung dann zum Einsatz der Waffen gegen Y beiträgt: dann macht das meine moralische Position als Waffenlieferant sogar noch schlechter.

    „Media Lens“ schreiben:

    „One of the unspoken assumptions of the Western world is that ‘we’ are great defenders of human rights, a free press and the benefits of market economics. Mistakes might be made along the way, perhaps even tragic errors of judgement such as the 2003 invasion of Iraq. But the prevailing view is that ‚the West‘ is essentially a force for good in the wider world.“
    http://www.medialens.org/index.php/alerts/alert-archive/2012/695-why-are-we-the-good-guys.html

    Und deswegen ist es auch möglich, dass unsere Bundesregierung, die der Türkei nicht nur Waffen liefert, wenn diese die Kurden im eigenen Land attackiert, sondern sogar dann noch, wenn diese die Kurden in einem anderen Land angreift, weit weniger Empörung erntet als ein Fußballer, der sich alle paar Jahre mal kurz mit Erdogan trifft und mit ihm über Fußball plaudert.

    Es ist komplett verrückt.

  67. @LLL

    Das sehen Sie jetzt aber doch etwas zu krass. Es ist ja nicht so, dass Merkel dafür nicht kritisiert werden würde. Denn das wird sie ja durchaus.
    Dennoch ist es auch mMn ein Unterschied, ob man in einem freien Land wie Deutschland oder eben halt in einem autokratischen wie Russland oder Türkei lebt. Und demzufolge kann man da auch abgekürzt von „gut“ und „schlecht“ reden.
    Und die Kritik von medialens ist da doch sehr nah an der von der Afd ala „Lügenpresse“. Und da würde ich immer und prinzipiell widersprechen. Denn wie gesagt: die Kritik findet ja bei uns durchaus statt. Dass sie in der Gesellschaft offenbar nicht so viel Anklang findet wie der Rassismus ggü einem bekannten Fußballspieler, kann man ja weder den Medien noch der Freiheit des Landes vorwerfen. Denn Freiheit bedeutet halt auch, sich für Sachen nicht zu interessieren — auch wenn andere diese für viel wichtiger halten.
    Der wesentliche Unterschied ist ja: in der Türkei und Russland kommt man ins Gefängnis oder sonstiges wenn man Kritik übt („böse“) , bei uns nicht („gut“).

  68. Merkel wird hart und nicht immer fair kritisiert. Für ihren Erdogan-Kurs und anderes.
    Die Türkei ist ein NATO-Partner, was man sicher auch nicht gut finden muss, aber es ist Teil der Vereinssatzung, dass man sich gegenseitig mit Waffen aushilft. In Ihrem Beispiel: die beiden Personen sind im selben Messerverein.

    Ich bestreite ja nicht, dass die Kritik an Özil wegen rassistischer Ressentiments so überbordet, und wegen der mangelnden Haltung des DFBs, und weil viele Deutsche schlechte Verlierer sind und einen Sündenbock suchen. Aber Merkel ist durch diverse Verträge und von Berufswegen verpflichtet, sich mit Erdogan zu treffen. Özils Rechtfertigung ist deutlich schwammiger.

    Wenn Sie jetzt darauf hinaus wollen, dass Kissinger schlimmer ist als Erdogan, ok. Wenn jemand Ihre Ansicht nicht teilt, und Erdogan deutlich härter kritisiert als Kissinger, dann ist es nur konsequent, dass sie oder er Erdogan-Gratulierer auch härter kritisiert als Kissinger-Gratulierer.

  69. @ Mycroft:

    Es wäre mir neu, dass die Bundesregierung aufgrund der NATO-Statuten in irgendeiner Form dazu verpflichtet wäre, der Türkei Waffen zu verkaufen, und ich bin mir fast zu 100% sicher, dass das NICHT der Fall ist (außer vielleicht im Verteidigungsfall, das weiß ich nicht). Insofern ist die NATO-Mitgliedschaft ganz gewiss kein juristischer Rechtfertigungsgrund für die Waffenlieferung.

    Dass Deutschland in einem VERTEIDIGUNGSBÜNDNIS mit der Türkei ist, ist aber auch moralisch betrachtet ganz sicher nicht einmal im Ansatz eine Rechtfertigung dafür, dass man ihr Waffen für ANGRIFFSKRIEGE gibt, oder zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung.

    Die Kritik an Merkel und anderen Bundeskanzlern bzw. Bundesregierungen ist m.E. oberflächlich und wattig. Sie geht nie ans Eingemachte. Sie stellt beispielsweise nicht die entscheidende Frage, ob die entsprechenden Politiker Blut an den Händen kleben haben. Ob sie moralische oder vielleicht sogar juristische Mitverantwortung an schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen. Ob sie vor ein nationales oder internationales Gericht gestellt werden sollten usw. Es bleibt immer in einer gewissen Komfort-Zone.

    Was glauben Sie, wenn das deutsche Volk ebenso brutal unterdrückt würde wie die Kurden von der Türkei (und es ist eine brutale Unterdrückung), und wenn da eine andere Regierung dann noch eifrig Waffen dazu liefern würde: Ob die Kritik ebenso verhalten ausfallen würde?
    Oder nehmen wir einmal an, die Bundesregierung würde ein Regime, das das jüdische Volk (oder von mir aus auch das französische Volk) brutal unterdrückt, noch massiv mit Waffen beliefern: Was glauben Sie, wie die Debatte DANN aussähe?

    Direkte Frage: Erinnern Sie sich, dass ein deutscher Bundeskanzler je so heftig und breit für Waffenlieferungen an die Türkei, mit denen die Kurden rücksichtslos unterdrückt werden, kritisiert wurde, wie Özil für sein im Vergleich lächerliches „Vergehen“, dass er ein paar Minuten mit Erdogan über Fußball palavert hat? Ja? Nein?

    Und es ist doch gar nicht so schwierig, die Verbrechen Erdogans mit denen Kissingers oder mit denen anderer westlicher Spitzenpolitikers zu vergleichen. Und wenn man diesen Vergleich macht und feststellt, dass manche westliche Spitzenpolitiker für den durch gar nichts zu rechtfertigenden Tod hunderttausender Menschen entscheidend verantwortlich sind, Erdogan aber nicht, dann wird man sich vermutlich auch darauf einigen können, wer „schlimmer“ ist, würde ich mal meinen.

    Darum geht es aber doch gar nicht. So, wie Sie das schreiben, erweckt das nämlich einen ganz falschen Eindruck. Man könnte meinen, dass allgemein anerkannt wäre und von den Medien regelmäßig angeprangert würde, dass Kissinger, Clinton und Blair (um nur ein paar Beispiele zu nennen) allesamt Unmengen von Blut an den Händen haben. Und dass eben manche Leute – obwohl sie sich dessen voll und ganz bewusst sind – dennoch meinen würden, Erdogan sei halt noch schlimmer. Und dass diese Leute daher türkischstämmige Sportler, die sich mit Erdogan treffen, eben NOCH etwas kritischer bewerten würden als etwa amerikanisch- oder britischstämmige Sportler, die die entsprechenden amerikanischen resp. britischen Politiker treffen.

    Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die entsprechenden westlichen Politiker werden so gut wie gar nicht fundamental kritisiert, und jedenfalls sicher nicht in der Tonlage wie Erdogan. Und ein amerikanischstämmiger Sportler, der sich mit entsprechenden amerikanischen Politikern wie etwa Kissinger oder Bill Clinton trifft, wird nicht einfach von manchen Leuten etwas weniger kritisiert als Özil. Er wird vielmehr praktisch ÜBERHAUPT nicht kritisiert. Es würde höchstwahrscheinlich nicht einmal die FRAGE gestellt werden, ob etwas an seinem Verhalten besonders problematisch sein könnte. Man käme nicht mal auf die IDEE, dass so ein Treffen etwas Schreckliches sei.

    Das hat viel mehr damit zu tun, dass westliche Politiker (abgesehen von Trump vielleicht) prinzipiell ganz anders geframt werden als andere, und dass sie daher auch ganz anders wahrgenommen werden. Und dass ihre schlimmen Taten daher auch gar nicht präsent sind im allgemeinen Bewusstsein.

    Wenn ich heute die Leute auf „Erdogan“ anspreche, dann sagt jeder „Der Schurke!“. Man denkt an die Unterdrückung der Kurden, an sein autoritäres Gebaren usw.
    Wenn ich aber – nur um ein Beispiel zu nennen – „Bill Clinton“ sage, dann wird man an einen liberalen, sympathischen Politiker denken, und man wird sich vielleicht noch an eine Affäre mit einer Praktikantin erinnern. Ja, wieso sollte ein Fußballer ihn denn dann NICHT treffen?

    Denn wer denkt, wenn er den Namen „Clinton“ hört, schon als erstes an Hunderttausende Iraker, die von ihm sinnlos in den Hungertod getrieben wurden?

    Und dass das alles so ist, dafür sind die Medien eben entscheidend mitverantwortlich. Nicht weil sie „lügen“, sondern durch ihre Art von Framing und Selektion. Wieder will ich Media Lens zitieren, die das am konkreten Beispiel der Hunger-Sanktionen gegen den Irak schön ausführen:

    „In a co-written newspaper article for the Guardian, von Sponeck and Halliday [beide waren Leiter des Oil-for-Food-Programms] cited a UN report which concluded: „the death of some 5-6,000 children a month is mostly due to contaminated water, lack of medicines and malnutrition. The US and UK governments‘ delayed clearance of equipment and materials is responsible for this tragedy, not Baghdad“. (Von Sponeck and Halliday, ‚The hostage nation‘, The Guardian, November 29, 2001)
    In all the endless discussion on Iraq’s recent history and, now, on the oil for food programme, the ‚liberal media‘ has completely buried these horrific facts. Halliday, for example, was mentioned in 2 of the 12,366 Guardian and Observer articles mentioning Iraq last year; von Sponeck was mentioned just 5 times. Halliday has been mentioned in 0 of the 2,703 articles mentioning Iraq this year; von Sponeck has been mentioned 4 times.“
    http://medialens.org/index.php/alerts/alert-archive/2004/332-burying-genocide-the-un-oil-for-food-programme.html

    Vielleicht ist es in den deutschen Medien etwas besser gewesen, das weiß ich nicht; aber am grundlegenden Bild ändert das nichts. Und das grundlegende Bild sieht so aus: Führende Westliche Politiker werden in der Regel NICHT häufig und eindringlich als Schwerstverbrecher, Massenmörder oder Menschheitsverbrecher dargestellt, auch wenn sie es nach allen konventionellen Maßstäben sind. Und das eigene Land und seine engen Partner werden gewöhnlich NICHT häufig und eindringlich als Akteure dargestellt, die ungeheuerliche Verbrechen begehen, auch wenn ein solches Urteil nach allen üblichen Maßstäben gerechtfertigt wäre. Es sind immer nur die anderen, die in einer solchen Weise porträtiert werden.
    Die Matrix lässt grüßen.

  70. Ein Verteidigungsbündnis hat nur Sinn, wenn alle Beteiligten bewaffnet sind, aber gut. Außerdem habe ich den Eindruck, dass es mal sowas wie Versuche gab, Erdogan mit der Aussicht auf einen EU-Beitritt der Türkei dazu zu bringen, mehr Menschenrechte einzuhalten, die damaligen Waffenlieferungen kann man in dem Zusammenhang sehen; derzeit geht es mehr um den IS. Will ich beides jetzt nicht schönreden.

    Ich habe übrigens vage Erinnerungen an ein Bild von Merkel in SS-Uniform, gibt’s das auch mit Özil?

    Wenn jemand – ob zu Recht oder Unrecht – der Ansicht ist, dass Erdogan schlimmer ist als Clinton, wird sie oder er Erdogansympathisanten härter kritisieren als Clintonsympathisanten.

    Weiterhin, wie lange ist es her, dass Clinton Präsident war? Nehmen wir Trump. Wird heute – zu Recht oder Unrecht – hierzulande härter kritisiert als Clinton damals. Wenn ein amerikanischstämmiger deutscher Sportler sich mit Trump träfe, um ihn zu gratulieren und/oder ein Trikot zu überreichen, und der ungefähr so wichtig ist wie Özil (keine Ahnnung, ob’s den gibt, weil Mr. Miller, der in der Kreisliga kickt, vllt. nicht die Relevanz hat, und Mr. Trump für solche Leute wenig Zeit hat), wäre das ähnlich. Aber ja, möglich, dass dieser doppelt hypothetische Sportler nicht so hart kritisiert wird wie Özil jetzt. Kritisiert würde er aber vermutlich.

    Aber hey, Trump führt auch keinen Bürgerkrieg gegen Teile der US-Bevölkerung, die wegen geballter Benachteiligung einen eigenen, unabhängigen Staat wollen. Stellen Sie sich vor, Trump würde genau das machen? Könnte es nicht sein, dass er sogar MEHR als Erdogan kritisiert würde? Und _dann_ kommt ein dt. Fußballnationalspieler und schenkt Trump ein Trikot. Mit amerikanischen Wurzeln oder nicht. Wenn das Szenario eintritt, und der wird nicht „gekreuzigt“, haben Sie Recht.
    Nebenbei behaupte ich nicht, dass Özil Blut an den Händen hätte, er misst nur mit zweierlei Maß.

  71. @ Mycroft:

    „Ein Verteidigungsbündnis hat nur Sinn, wenn alle Beteiligten bewaffnet sind.“

    Erstens ist die Türkei sicherlich stark genug, um sich zu verteidigen.
    Zweitens: Wieso macht man es ihr nicht zur Auflage, die Waffen nur zur Verteidigung zu gebrauchen, bevor man sie ihr liefert?

    „Außerdem habe ich den Eindruck, dass es mal sowas wie Versuche gab, Erdogan mit der Aussicht auf einen EU-Beitritt der Türkei dazu zu bringen, mehr Menschenrechte einzuhalten, die damaligen Waffenlieferungen kann man in dem Zusammenhang sehen…“

    Die BRD liefert schon lange Waffen an die Türkei, egal wie die Menschenrechtslage und wie nahe- oder fernliegend ein EU-Beitritt ist. Das alles sind doch vorne und hinten keine Rechtfertigungen.

    „Ich habe übrigens vage Erinnerungen an ein Bild von Merkel in SS-Uniform, gibt’s das auch mit Özil?“

    Ja, das haben mal ein paar Griechen so was gemacht. Und bei Özil wahrscheinlich nicht. Es geht doch nicht darum, wie die Merkel mal irgendwo im Ausland oder von einer winzigen Minderheit im eigenen Land kritisiert wird. Es geht doch darum, dass Özil für sein im Verhältnis geradezu lächerliches Fußball-Palaver mit Erdogan breit und prominent und von zahlreichen Medien weit heftiger kritisiert wird, als je eine Bundesregierung für ihre indirekte Unterstützung der brutalen Unterdrückung der Kurden mithilfe von Waffenlieferungen breit und prominent und von zahlreichen Medien kritisiert worden wäre. Die „allgemeine Empörung“ ist im ersten Fall doch viel größer als im zweiten. Und das ist doch völlig grotesk.

    Clinton ist etwa gleich lange her wie Milosevic (von dem das Haager Tribunal posthum zur Überzeugung kam, dass die meisten Vorwürfe gegen ihn falsch waren). Wenn ein Sportler heute Clinton treffen würde, dann würde das keinen Menschen stören. Wenn er Milosevic träfe (wenn der noch lebte), oder sonst einen Schurken: Man würde sich doch nicht mehr einkriegen vor Empörung.

    Es ist doch immer dasselbe: Von westlichen Politikern, die schwerste Verbrechen begehen, wird ein selektives positiv geschöntes Zerrbild während ihrer aktiven Zeit gezeichnet. Und dieses wird dann auch später nicht korrigiert.

    Und es hat doch auch nichts mit der Aktualität zu tun: Denken Sie etwa an Sarkozy (der noch nicht so lange her ist), der aus imperialen Gründen den Libyen-Krieg geführt, dessen offizielle Gründe sich als falsch herausstellten, und der damit wesentlich zur Entstaatlichung eines ganzen Landes beigetragen hat. Hätte ein französichstämmiger Fußballer ihn getroffen: Glauben Sie, dass es Kritik gehagelt hätte?

    Und Trump ist ein gutes Beispiel: Wird er kritisiert, weil er einen der schlimmsten Kriege der Welt, den Jemen-Krieg, in erheblichem Maße unterstützt? Wird er kritisiert, weil er den völkerrechtswidrigen Drohnenkrieg, den schon Obama forciert hatte, noch einmal erheblich ausgeweitet hat, obwohl sehr viele Opfer Zivilisten sind?

    Aber nein, oder höchstens ganz am Rande. Er wird kritisiert, weil er primitiv ist und eine primitive und extreme Rhetorik hat und Frauen zwischen die Beine greift und zu unkritisch mit Putin umgeht und das liberale Amerika weniger liberal zu machen droht und eine doofe Frisur hat. Und er wird kritisiert, weil er – jedenfalls seinen ursprünglichen Plänen nach – WENIGER imperial eingestellt war als die US-Politik vor ihm, wie der amerikaniche Oberst a.D. und Geschichtsprofessor Andrew J. Bacevich im „American Conservative“ darlegt:
    https://www.theamericanconservative.com/articles/the-global-order-myth/

    „Aber hey, Trump führt auch keinen Bürgerkrieg gegen Teile der US-Bevölkerung, die wegen geballter Benachteiligung einen eigenen, unabhängigen Staat wollen. Stellen Sie sich vor, Trump würde genau das machen? Könnte es nicht sein, dass er sogar MEHR als Erdogan kritisiert würde?“

    Sehr wahrscheinlich. Ganz anders hingegen sähe es der historischen Erfahrung nach aus, wenn Trump moralisch und völkerrechtlich unhaltbare Kriege gegen ANDERE Völker führen würde. Denn das haben die USA oft getan, und zwar weit schlimmer als Erdogan, und dennoch dürfte es keinen US-Präsidenten (außer vielleicht Trump) geben, der ähnlich verfemt ist.

    Das Prinzip lautet hier: Für die WIRKLICH schlimmen Sachen werden westliche Politiker selten kritisiert. Aber klar, wenn sie brutal gegen ihr eigenes Volk (oder ein anderes westliches Volk) vorgehen würden, dann würde man das schon kritisieren. So lange es aber nur andere Völker trifft, ist alles in Ordnung. Dieses Prinzip lässt sich an unzähligen Beleg-Beispielen festmachen, und ich habe einige gebracht.

    „Wenn das Szenario eintritt, und der wird nicht ‚gekreuzigt‘, haben Sie Recht.“

    Okay. Ich weise darauf hin, dass genügend westliche Politiker schwere Verbrechen haben, die nach allen üblichen Maßstäben deutlich schlimmer sein dürften als alles, was Erdogan je getan hat. Und dass Erdogan dennoch viel heftiger kritisiert wird als solche Politiker. Und dass ein Fußballer, der sich ein paar Minuten mit Erdogan trifft, um über Fußball mit ihm zu reden, viel heftiger kritisiert wird als Sportler, die sich mit den besagten westlichen Politikern treffen. (Oder auch als eine Bundesregierung, die der Türkei seit Jahrzehnten rücksichtslos Waffen liefert, mit denen die Kurden brutal unterdrückt werden.)

    Doch halt, ich habe mit meiner Kritik, dass wir es hier mit eklatanter Heuchelei und Doppelmoral zu tun haben, gar nicht recht! Denn Erdogan unterdrückt ja einen Teil seines eigenen Volkes, während westliche Politiker ihre schweren Verbrechen an anderen Völkern ausüben. Also geschieht es ganz zurecht, dass man Özil wg. eines Treffens mit Erdogan „kreuzigt“, während kein Mensch auf die Idee käme, einen Sportler zu kritisieren, der westliche Politiker trifft, die weit schlimmere Verbrechen begangen haben!

    Aus irgendeinem Grund – der sich allerdings meinem Verständnis zur Gänze entzieht – ist die Frage, ob ein Politiker seine Verbrechen an seinem eigenen oder einem anderen Volk verübt, offenbar relevant und sogar entscheidend dafür, wie man das Treffen eines Fußballers mit ihm moralisch beurteilen und medial aufarbeiten sollte.

    Nun könnte ich beispielsweise darauf hinweisen, dass Indonesien ein Drittel der Bevölkerung Osttimors massakriert hat, was – gemessen in Relation zur Gesamtbevölkerung – nach Chomsky der größte Völkermord seit dem 2. Weltkrieg war. Dennoch wurde Diktator Souharto unterstützt und war ein „Freund“ des Westens. Denn er war ein Verbündeter, und seine Opfer weit weg. Und ein Sportler mit indonesischen Wurzeln, der ihn getroffen hätte, hätte wohl nicht viel Kritik aushalten müssen. (Woran man sieht, dass nicht-westliche Verbündete je nach genauen Umständen mal mehr und mal weniger für ihre Verbrechen kritisiert werden.)

    Doch halt, das ist schon lange her! Noch länger als Clinton. Gilt also auch nicht! Es liegt also wohl einfach an meiner verqueren Wahrnehmung, wenn ich Doppelmoral sehe, wo in Wahrheit alles seine beste Richtigkeit hat.

    (Verzeihen Sie den Sarkasmus. Ich schätze Sie WIRKLICH, aber hier habe ich den Eindruck, dass Sie jeden Stein umdrehen und geradezu nach Argumenten SUCHEN, um doch noch zu widerlegen, dass die Reaktion auf Özils kurzes Treffen mit Erdogan auch etwas mit Heuchelei und doppelten Standards zu tun haben könnte.)

  72. @mycroft

    Ich weiß nicht ob die Strategie wirklich besser ist, zu behaupten man würge die Debatte nicht ab um dann Erdogan thematisieren. Der Vorteil ist, dass man dann vom Thema völlig weg ist, was aber auch ein Nachteil ist, wenn es auffällt.

  73. „Erstens ist die Türkei sicherlich stark genug, um sich zu verteidigen.
    Zweitens: Wieso macht man es ihr nicht zur Auflage, die Waffen nur zur Verteidigung zu gebrauchen, bevor man sie ihr liefert?“ Zu erstens: dann ist es egal, ob die Türkei noch mehr Waffen bekäme; wenn sie sich gegen potentielle Angriffe von außen wären kann, dann kann sie sich erst Recht gegen die eigene Bevölkerung „wehren“.
    Zu zweitens: Jaahaaaa, waaaruuuuum woooooohhhhhlllll? Es wird für die Türkei nicht schwer sein, darzulegen, nur auf Bewaffnete geschossen zu haben, oder auf Leute, die man für Bewaffnete gehalten hat.

    Ich habe mehrfach geschrieben, dass es Rassismus (doppelte Standards, Heuchelei, wasauchimmer) gibt, der im Zusammenhang mit Özils Geschichte eine Rolle spielt. Dasselbe, glaube ich, liegt der Kurdenkrise zugrunde. Özil beklagt sich über Doppelstandards, ohne den eigenen Doppelstandard irgendwie zu hinterfragen.
    Da solidarisiere ich mich lieber mit dem türkischstämmigen Busfahrer, der wegen 5 min Verspätung rassistische Sprüche gedrückt bekommt.

    @Mirco: Wenigstens habe ich nicht mit Clinton angefangen.

  74. @ Mycroft:

    Es ist – dies hätte ich gestern schon deutlicher erwähnen können – gar nicht das Ziel der NATO, alle Mitglieder militärisch so stark zu machen, dass sie sich selbst verteidigen können. Das wäre auch gar nicht möglich, gerade nicht im Fall kleinerer NATO-Staaten. Ziel ist es vielmehr, dass die Mitgliedsstaaten sich im Verteidigungsfall gegenseitig zu unterstützen, um so auch schon von vornherein potentielle Gegner abzuschrecken.

    „…dann ist es egal, ob die Türkei noch mehr Waffen bekäme; wenn sie sich gegen potentielle Angriffe von außen wären kann, dann kann sie sich erst Recht gegen die eigene Bevölkerung ‚wehren‘.“

    1. Das ist keineswegs so einfach. Denken Sie an Russland und Tschetschenien. Russland wäre sicherlich stark genug gewesen, sich gegen Angriffe von außen durch die meisten seiner Nachbarländer zu wehren; und sicher gegen jeden äußeren Feind mit der militärischen Stärke Tschetscheniens. Und doch hatte es die größten Probleme und brauchte Jahre, um sich gewaltsam in Tschetschenien durchzusetzen. Die Frage ist wohl auch, wie die ansässige Bevölkerung sich verhält.
    2. Je bessere Waffen jemand hat, desto leichter kann er auch Aufstände im eigenen Land niederschlagen. Desto geringer ist der Blutzoll der eigenen Armee, desto geringer sind die Kosten. Desto leichter ist es politisch durchsetzbar, sich Verhandlungen zu verweigern und alles auf die militärische Karte zu setzen.
    3. Doch dessen ungeachtet: Wenn ich weiß, dass jemand eh eine Waffe hat, um jemanden zu töten, dann ist es deshalb moralisch doch wohl kaum okay, wenn ich ihm eine Waffe gebe, mit der es noch besser geht, oder? (Oder überhaupt eine Waffe, von der ich meine, dass sie wahrscheinlich zum Einsatz kommt?)

    „Zu zweitens: Jaahaaaa, waaaruuuuum woooooohhhhhlllll? Es wird für die Türkei nicht schwer sein, darzulegen, nur auf Bewaffnete geschossen zu haben, oder auf Leute, die man für Bewaffnete gehalten hat.“

    Es ging bei dieser fiktiven Auflage darum, dass die Türkei die ihr gelieferten Waffen nur „zur Verteidigung“ gebrauchen sollte. Ich hätte vielleicht deutlicher schreiben sollen: Zur Verteidigung gegen äußere Feinde, die sie völkerrechtswidrig angreifen. Wenn die Türkei gegen die von ihr brutal unterdrückte Kurden, die sich bewaffnet wehren vorgeht, oder im Sinne eines völkerrechtswidrigen Angriffs sogar gegen die Kurden in Syrien überfällt, dann kann das schwerlich als Verteidigung gegen einen Überfall durch eine äußere Macht gelten.

    Nein, man kann es drehen und wenden wie man will (und Sie drehen wirklich jeden Stein um): Es bleibt dabei, dass die massiven Waffenlieferungen Deutschlands an die Türkei, die zur Unterdrückung der Kurden beitragen, hochgradig problematisch sind.

    Ich finde es ja auch nicht gut, dass Özil sich überhaupt mit Erdogan getroffen hat. Und ich fände es auch besser, wenn er auch auf die Diskriminierung der Kurden und anderer Minderheiten hinweisen würde. Und ich solidarisiere mich auch gerne mit dem von Ihnen genannten Busfahrer.

    Dennoch gibt es da Formen der Doppelmoral im Hinblick auf den Umgang mit Özil, auf die ich eben hinweisen wollte. Es dürfte eben schlimmer sein, wenn man der Erdogan die Waffen zur Unterdrückung der Kurden gibt, als wenn ein Fußballer Edogan mal kurz trifft oder es unterlässt, die Unterdrückung der Kurden und anderer Minderheiten öffentlich zu beklagen. Özils Verhalten zu großer Empörung führt, während das Verhalten der Bundesregierung noch nicht mal in nennenswertem Umfang diskutiert wird.

    „Wenigstens habe ich nicht mit Clinton angefangen.“

    Das Beispiel ist nur eines unter vielen und illustriert eine zweite Heuchelei, die ich beklage: Die Empörung über Erdogan ist generell viel größer als die über westliche Politiker, die mindestens so schlimm oder schlimmer sind als Erdogan; und die Empörung über Sportler, die Erdogan die Hand schütteln, ist viel größer als die über Sportler, die den entsprechenden westlichen Politikern die Hans schütteln.
    (Man könnte sogar noch weitergehen: Selbst die öffentliche Empörung über einen Sportler, der mal kurz mit Erdogan über Sport redet, ist weit größer als die öffentliche Empörung über westliche Politiker, die Meere von Blut an den Händen haben und nach allen üblichen üblichen Maßstäben wesentlich schlimmer sind als Erdogan.)

    Und ich verstehe nicht ganz, wieso sie diese beiden genannten Formen der Doppelmoral nicht als solche gelten lassen wollen, sondern jede Anstrengung unternehmen, um aufzuzeigen, dass es die von mir kritisierte Doppelmoral in Wahrheit gar nicht.

    Ich muss mich noch wegen Indonesien und Osttimor korrigieren – Osttimor war ja kein Teil Indonesiens, sondern wurde okkupiert, was mir eigentlich auch bekannt war. Hier geht es also nicht um das Abschlachten der eigenen, sondern einer fremden Bevölkerung.

    Was aber aus meiner Sicht, sofern es um die mediale Reaktion auf das Treffen eines Sportlers mit einem verbrecherischen Politiker geht, ganz gewiss keinen Riesen-Unterschied ausmachen sollte.

  75. Zum Thema Waffenlieferungen: ich kann mir Waffen zur Selbstverteidigung gegen äußere Feinde liefern lassen, und die Waffen, die ich sonst gegen äußere Feinde verwendet hätte, setze ich gegen die eigene Bevölkerung ein.
    Eigentlich wäre die Konsequenz, die Türkei aus der NATO zu bekommen, was aber aus verschiedenen Gründen eher nicht so bald passieren wird.

    Aber ja, wenn man will, kann man Clinton (führte fragwürdige Kriege gegen andere Länder mit fragwürdigen Methoden, hat im eigenen Land ein demokratisch-rechtsstaatliches System) mit Erdogan (führt einen fragwürdigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung, baut diskriminierende Gesetze nicht ab, sondern eher Demokratie und Rechtsstaat) vergleichen und Clinton schlimmer finden. Sofern man aber trotzdem zum Schluss kommt, dass Erdogan trotzdem schlimmer ist, ist das nicht notwendigerweise Doppelmoral.

    Oder bei einigen ist es Doppelmoral, bei anderen nicht.
    Oder es ist in beiden Fällen Kalkül, und kein Rassismus, weil jemand, der Erdogan aus rassistischen Gründen nicht mag, Suharto ja auch nicht mag. Oder man ist der Ansicht, dass die Berichterstattung über einen Politiker in der Türkei wichtiger ist als über einen in Indonesien, weil die Leute aus Indonesien/Osttimor nach Australien fliehen, nicht nach Europa. Ist auch ein bisschen zynisch, ich weiß.

    Ok, manche Kritik zu Erdogan ist rassistisch motiviert, und manche Kritik zu Özil ist es nicht.

  76. Mycroft:

    „Ich kann mir Waffen zur Selbstverteidigung gegen äußere Feinde liefern lassen, und die Waffen, die ich sonst gegen äußere Feinde verwendet hätte, setze ich gegen die eigene Bevölkerung ein.“

    Wenn der Waffenlieferer das zulässt, ja. Wenn der Waffenlieferer strikte Auflagen macht, dass das nicht geht, und wenn bei Verstößen Sanktionen ergreift und insbesondere keine Waffen mehr liefert, ist das viel weniger einfach. Vor allem gibt es dann keine ständigen Wiederholungen.

    „Eigentlich wäre die Konsequenz, die Türkei aus der NATO zu bekommen, was aber aus verschiedenen Gründen eher nicht so bald passieren wird.“

    Das kann man so fordern, aber es ist doch wieder etwas anderes. Und damit exkulpieren Sie tendenziell die Bundesregierung. Im Sinne von:
    1. Die Türkei ist in der NATO.
    2. Wenn bzw. solange die Türkei in der NATO ist, ist es auch in Ordnung (oder jedenfalls nicht weiter schlimm), wenn man ihr als anderes NATO-Mitglied Waffen liefert. Sogar ohne Auflagen, wie ich sie angesprochen hatte.
    3. Also ist es doch ganz in Ordnung, wenn die Bundesregierung Waffen ohne Auflagen an die Türkei liefert.

    Ich halte „2.“ für völlig unbegründet und für eindeutig falsch, wie ich ausführlich dargelegt habe. Damit wird m.E. auch eine Exkulpation der Bundesregierung unhaltbar.

    „Oder man ist der Ansicht, dass die Berichterstattung über einen Politiker in der Türkei wichtiger ist als über einen in Indonesien, weil die Leute aus Indonesien/Osttimor nach Australien fliehen, nicht nach Europa. Ist auch ein bisschen zynisch, ich weiß.“

    Es dürfte aber doch einen unausgesprochenen Konsens geben, dass die „seriöseren“ Kritiker von Özil (etwa große Medien) ihre Kritik so verstanden haben wollen, dass diese auf allgemeinen moralischen Prinzipien beruht und nicht auf den Prinzip der Doppelmoral und des Zynismus beruht. Abgesehen davon könnte man sich ja durchaus auch die Flüchtlinge ansehen, mit denen wir es in Europa zu tun haben. Und dass der Westen zwar nicht allein, aber in erheblichem Maße mit an den Fluchtursachen schuld ist, dürfte doch außerfrage stehen.

    „Sofern man aber trotzdem zum Schluss kommt, dass Erdogan trotzdem schlimmer ist, ist das nicht notwendigerweise Doppelmoral.“

    Abgesehen davon, dass es beim Zugrundelegen allgemein akzeptierter Kriterien durchaus möglich sein könnte, mit den meisten Menschen zu einer Einigung zu kommen, geht Ihr Einwand m.E. am eigentlichen Problempunkt vorbei.
    Ich kann hier nur wiederholen, was ich bereits zuvor geschrieben hatte (nur an wenigen Stellen muss man „Kissinger“ durch „Clinton“ ersetzen):

    Und es ist doch gar nicht so schwierig, die Verbrechen Erdogans mit denen Kissingers oder mit denen anderer westlicher Spitzenpolitikers zu vergleichen. Und wenn man diesen Vergleich macht und feststellt, dass manche westliche Spitzenpolitiker für den durch gar nichts zu rechtfertigenden Tod hunderttausender Menschen entscheidend verantwortlich sind, Erdogan aber nicht, dann wird man sich vermutlich auch darauf einigen können, wer „schlimmer“ ist, würde ich mal meinen.

    Darum geht es aber doch gar nicht. So, wie Sie das schreiben, erweckt das nämlich einen ganz falschen Eindruck. Man könnte meinen, dass allgemein anerkannt wäre und von den Medien regelmäßig angeprangert würde, dass Kissinger, Clinton und Blair (um nur ein paar Beispiele zu nennen) allesamt Unmengen von Blut an den Händen haben. Und dass eben manche Leute – obwohl sie sich dessen voll und ganz bewusst sind – dennoch meinen würden, Erdogan sei halt noch schlimmer. Und dass diese Leute daher türkischstämmige Sportler, die sich mit Erdogan treffen, eben NOCH etwas kritischer bewerten würden als etwa amerikanisch- oder britischstämmige Sportler, die die entsprechenden amerikanischen resp. britischen Politiker treffen.

    Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Die entsprechenden westlichen Politiker werden so gut wie gar nicht fundamental kritisiert, und jedenfalls sicher nicht in der Tonlage wie Erdogan. Und ein amerikanischstämmiger Sportler, der sich mit entsprechenden amerikanischen Politikern wie etwa Kissinger oder Bill Clinton trifft, wird nicht einfach von manchen Leuten etwas weniger kritisiert als Özil. Er wird vielmehr praktisch ÜBERHAUPT nicht kritisiert. Es würde höchstwahrscheinlich nicht einmal die FRAGE gestellt werden, ob etwas an seinem Verhalten besonders problematisch sein könnte. Man käme nicht mal auf die IDEE, dass so ein Treffen etwas Schreckliches sei.

    Das hat viel mehr damit zu tun, dass westliche Politiker (abgesehen von Trump vielleicht) prinzipiell ganz anders geframt werden als andere, und dass sie daher auch ganz anders wahrgenommen werden. Und dass ihre schlimmen Taten daher auch gar nicht präsent sind im allgemeinen Bewusstsein.

    Wenn ich heute die Leute auf „Erdogan“ anspreche, dann sagt jeder „Der Schurke!“. Man denkt an die Unterdrückung der Kurden, an sein autoritäres Gebaren usw.
    Wenn ich aber – nur um ein Beispiel zu nennen – „Bill Clinton“ sage, dann wird man an einen liberalen, sympathischen Politiker denken, und man wird sich vielleicht noch an eine Affäre mit einer Praktikantin erinnern. Ja, wieso sollte ein Fußballer ihn denn dann NICHT treffen?

    Denn wer denkt, wenn er den Namen „Clinton“ hört, schon als erstes an Hunderttausende Iraker, die von ihm sinnlos in den Hungertod getrieben wurden?

    Und dass das alles so ist, dafür sind die Medien eben entscheidend mitverantwortlich. Nicht weil sie „lügen“, sondern durch ihre Art von Framing und Selektion. Wieder will ich Media Lens zitieren, die das am konkreten Beispiel der Hunger-Sanktionen gegen den Irak schön ausführen:

    „In a co-written newspaper article for the Guardian, von Sponeck and Halliday [beide waren Leiter des Oil-for-Food-Programms] cited a UN report which concluded: „the death of some 5-6,000 children a month is mostly due to contaminated water, lack of medicines and malnutrition. The US and UK governments‘ delayed clearance of equipment and materials is responsible for this tragedy, not Baghdad“. (Von Sponeck and Halliday, ‚The hostage nation‘, The Guardian, November 29, 2001)
    In all the endless discussion on Iraq’s recent history and, now, on the oil for food programme, the ‚liberal media‘ has completely buried these horrific facts. Halliday, for example, was mentioned in 2 of the 12,366 Guardian and Observer articles mentioning Iraq last year; von Sponeck was mentioned just 5 times. Halliday has been mentioned in 0 of the 2,703 articles mentioning Iraq this year; von Sponeck has been mentioned 4 times.“
    http://medialens.org/index.php/alerts/alert-archive/2004/332-burying-genocide-the-un-oil-for-food-programme.html

    Vielleicht ist es in den deutschen Medien etwas besser gewesen, das weiß ich nicht; aber am grundlegenden Bild ändert das nichts. Und das grundlegende Bild sieht so aus: Führende Westliche Politiker werden in der Regel NICHT häufig und eindringlich als Schwerstverbrecher, Massenmörder oder Menschheitsverbrecher dargestellt, auch wenn sie es nach allen konventionellen Maßstäben sind. Und das eigene Land und seine engen Partner werden gewöhnlich NICHT häufig und eindringlich als Akteure dargestellt, die ungeheuerliche Verbrechen begehen, auch wenn ein solches Urteil nach allen üblichen Maßstäben gerechtfertigt wäre. Es sind immer nur die anderen, die in einer solchen Weise porträtiert werden.
    Die Matrix lässt grüßen.

    Es geht also nicht darum, dass die Leute eine realistische Wahrnehmung sowohl von Erdogan wie von Clinton haben und dann zum Teil dennoch zum Urteil gelangen, dass ein Sportler, der Erdogan trifft, noch etwas mehr zu kritisieren sein mag als einer, der Clinton trifft. Es geht darum, dass das Treffen mit Clinton GAR nicht erst als kritikwürdig taxiert wird, weil es eben keine realistische Wahrnehmung von Clinton oder vielen anderen westlichen Politikern gibt, sondern vor allem wich gespülte medial vermittelte „Images“. Die Heuchelei beginnt also schon an einem frühen Punkt.

  77. Jetzt weiß ich auch, was Sie mit „Matrix“ meinten.

    Ok, manche Kritik zu Erdogan ist rassistisch motiviert, und manche Kritik zu Özil ist es nicht.

    Rassismus erklärt zwar trotzdem nicht, warum Erdogan härter als Suharto kritisiert wird, aber naja.

  78. @ Mycroft:

    Ich glaube ja auch nicht, dass „Rassismus“ im konkreten Fall das einzige Problem ist. Vielmehr denke ich, dass es neben berechtigter Kritik an Özil und rassistisch motivierten Übertreibungen auch doppelte Standards gibt, die weder direkt mit Rassismus noch mit Fehlern von Özil zu tun haben.

    „Jetzt weiß ich auch, was Sie mit ‚Matrix‘ meinten.“

    Es gibt einen Wikipedia-Artikel zum sog. Propaganda-Modell von Herman und Chomsky. Zwar bezieht das Modell sich vor allem auf kommerzielle Medien, aber ein Teil der aufgeführten Einflussfaktoren (und zusätzliche andere) sind auch für den ÖR relevant.

    Es geht dabei NCHT um die Behauptung einer zentrale Verschwörung oder einer zentralen Steuerung oder darum, dass die politisch Mächtigen bei Journalisten „anrufen“ würden. Vielmehr geht es darum, wie die Medien trotz FEHLENDER zentraler Lenkung am Ende doch in ihrer großen Mehrheit fast immer hinter den politischen und wirtschaftlichen Eliten stehen und deren Realitäts-Wahrnehmung zum Publikum befördern – vor allem, wenn innerhalb dieser maßgeblichen Eliten in bestimmten Fragen eben weitgehende Einigkeit herrscht und es sich um fundamentale, wichtige Themen wie etwa Sicherheits- oder Wirtschaftspolitik handelt.

    Oder wie es in der WIkipedia heißt:

    „Die Theorie beschreibt, wie die großen Medienkonzerne ein pluralistisches und nicht-verschwörerisch agierendes Propagandasystem bilden können, das fähig ist, ohne zentrale Steuerung einen Konsens im Interesse der gesellschaftlichen Oberschicht herzustellen und die öffentliche Meinung über agenda setting und framing entsprechend den Perspektiven der Oberschicht zu formen, während gleichzeitig der Anschein eines demokratischen Prozesses der Meinungsbildung und der Konsensfindung gewahrt bleibt.“

    https://de.wikipedia.org/wiki/Propagandamodell

    (Der ganze Wikipedia-Artikel ist sehr lesenswert.)

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