Von elf psychisch Kranken, die in den USA stationär behandelt werden, haben zehn ihre Betten nicht in einer psychiatrischen Klinik. Auch nicht in irgendeinem anderen Krankenhaus. Sondern im Knast.
Das liegt nicht daran, dass alle psychisch Kranken kriminell werden, sondern dass ihre Behandlung in den vergangenen Jahrzehnten derart zusammengestrichen wurde, dass Betroffene außerhalb der Anstalten praktisch keine Hilfe vom Staat bekommen. Und wem nicht privat geholfen wird, dessen Krankheit verschlimmert sich, oft so weit, dass diese Betroffenen dann irgendwann Gesetze verletzen. Wenn sie aus dem Knast kommen, geht es ihnen regelmäßig schlechter als vorher.
Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er ist Redaktionsleiter des Joko-Winterscheidt-Magazins „JWD“ und geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken und drüber zu schreiben.
Wir reden hier nicht über einen Fall, oder über tausend, oder zehntausend, sondern: Von 2,2 Millionen Gefangenen in den USA sind bei 400.000 psychische Erkrankungen diagnostiziert. Es ist eine Krise und deshalb in der ein bisschen zynischen Welt des Journalismus eine gute Geschichte. Und jetzt kommt die Frage, auf die ich hinaus will. Als Redakteur eines Magazins, der diese Krise als Thema erkannt hat: Wie geht man an die Geschichte heran? Wie erzählt man sie?
Man beginnt damit, dass man Kranke sucht, die im Knast sitzen (oder saßen) statt im Krankenhaus. Gibt es besonders krasse Fälle, die das Problem besonders deutlich machen? Und wie kommt man an die heran? Was macht man, wenn die Quellen Menschen sind mit Störungen, die es ihnen schwierig machen, reflektierte Antworten zu geben? Die man aber auch schwer über lange Zeit in ihrer eigenen Umgebung zu beobachten, weil sie im Gefängnis sitzen?
In der besten aller Welten hätte ein Magazin einen brillanten, einfühlsamen Autoren mit einem persönlichen emotionalen Zugang zu dem Thema, der gleichzeitig ein brutaler Verbrecher ist und in einem US-Knast sitzt. Diese beste aller Welten existiert – sie heißt „Esquire“.
Das Magazin mit dem britisch klingenden Namen1)Ein Esquire ist ein niedriger Adliger.ist eine sehr amerikanische Magazin-Institution, gegründet 1933 als eine Art Modeheft, in dem aber Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald und Tom Wolfe schrieben. Es ist das, was der „Playboy“ immer behauptete zu sein: Ein Männerheft, das man wegen der Artikel liest.2)Es gab auch Pin-Ups, allerdings keine nackten, und meist waren sie gezeichnet. Der Gründer des „Playboy“, Hugh Hefner, arbeitete vor der Gründung seines Heftes bei „Esquire“, man kann sagen, sein Heft und das daraus entstandene Imperium sind die Hollywood-Blockbuster-Variante des Arthouse-Originals. Ich weiß allerdings nur, dass man das sagen kann, weil ich es gerade gesagt habe.
In der aktuellen Ausgabe schreibt ein Autor mit dem wunderbaren Namen John J. Lennon die Geschichte des schizoiden Joe Cardo, der nach einen dilettantischen Überfallversuch mit einem Luftgewehr im Gefängnis landet und immer weiter abrutscht. Lennon weiß das, weil er eine Zeitlang Cardos Nachbar ist. Er sitzt seit 16 Jahren wegen Mordes.
Die Geschichte „This Place Is Crazy“ ist deshalb auch seine Geschichte, und die seines Halbbruders, der nach einigen Durchgängen im Knast an Crack und Heroin verreckte. Es ist eine großartige, aufwühlende Geschichte und in „Esquire“ nur eine von mehreren dieses Kalibers.
Ich finde, die originale, amerikanische Ausgabe von „Esquire“ ist das beste Männerheft der Welt. Es setzt Standards bei der von mir sehr geliebten Form der subjektiven Reportage und bei Star-Portraits3)Übrigens auch fotografisch..4)Ja, ich meine, „Esquire“ ist auch besser als „Vanity Fair“. Sie ist mit Hingabe designt, thematisch breit, an den richtigen Stellen wunderbar albern und vor allem sehr, sehr gut geschrieben. Sie ist nicht perfekt, weil das kein Magazin ist, aber „Esquire“ ist viel öfter nah dran als weit weg.
In ihrer Mischung aus einer großartigen Lifestyle-Seite, in der vermeintlich oberflächliche Themen meist erstaunlich tiefsinnig behandelt werden, und dem hemmungslos Hineinwaten in relevante Diskurse auf die beste Art – nämlich: gut geschrieben – ist „Esquire“ jenes schwer zu erreichende Ziel aller, die wir in dem Gewerbe arbeiten: Es ist ein Männermagazin, das kongruente, interessante und immer wieder sogar schöne Antworten bietet auf die Frage, was für ein Mann ich sein will. Und dann drängt sich ein bisschen die Frage auf: Warum gibt es so etwas nicht auf deutsch, etwas, das gleichzeitig unterhält, aber dabei tief und – komisches Wort hier: emotional ehrlich ist?
Die Antwort fällt mir nicht leicht, aber ich glaube, sie hat etwas mit Abstand zu tun. Wir sind schon durch den Überbegriff „Lifestyle“ weit davon entfernt, etwas ernst zu nehmen, was in einem Männer- oder Frauenmagazin steht. Lifestyle zu verstehen als „die Entscheidungen, die ich darüber treffe, wie ich mein Leben leben möchte“, ist schon sprachlich erschwert durch diesen durch Werbung völlig verbrauchten Begriff.
Im Männersegment haben wir das nochmal potenziert durch verklemmte Quatschbegriffe wie „Erotik“, die keine Lebensrealität beschreiben, sondern Genres im Nachtprogramm des Privatfernsehens. Und dazwischen haben wir es aufgefüllt mit Phrasen: Für einen Aston Martin braucht man „das nötige Kleingeld“ und solchen Scheiß.
Nichts davon weckt in irgendjemandem Assoziationen an ein echtes Leben, sondern an die auch noch künstliche Version eines eingebildeten idealen Lebens. Es ist die gefakte Version von Lebenshilfe, die sagt: Es ist alles viel einfacher, als du denkst, du musst nur dies und das machen. Während wir alle wissen, dass echtes Leben ganz anders geht, für jeden anders, nur in dem einem Punkt gleich: Es ist wahnsinnig schwer. Aber du darfst glücklich sein.
Und dabei sogar gut aussehen. Nur so als Option.
Esquire (US)
Hearst Magazines
ca. 13 Euro (im Bahnhofskiosk mit den bizarren Auslandspreisen)
Es gab auch Pin-Ups, allerdings keine nackten, und meist waren sie gezeichnet. Der Gründer des „Playboy“, Hugh Hefner, arbeitete vor der Gründung seines Heftes bei „Esquire“, man kann sagen, sein Heft und das daraus entstandene Imperium sind die Hollywood-Blockbuster-Variante des Arthouse-Originals. Ich weiß allerdings nur, dass man das sagen kann, weil ich es gerade gesagt habe.
Einfach so: Dankeschön!
Ich schließe mich meinem/r Vorredner/in an, weise aber auch noch auf einen Fehler hin:
Verleihen Sie die rezensierten Exemplare? Diese Ausgabe klingt sehr spannend.