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Malen nach dem Zahlen

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Auf einmal gibt es überall Filzstifte. Okay, denkt man, dann scheinen die Kinder wieder mehr zu malen. Das ist gut, dann hängen sie nicht die ganze Zeit über ihren Tablet-PCs. Allerdings haben die Menschen, die sich für die 36 brillanten Farben in der Schmuckbox interessieren, keine Kinder. Sie kaufen die Filzstifte für sich selbst. Sie malen damit Malbücher aus. Das ist keine Reha-Maßnahme, die ihre motorischen Fähigkeiten stärken soll, es ist psychosomatische Prophylaxe: Das stumpfe Ausmalen von Bildbestandteilen, die durch schwarze Linien begrenzt sind, senkt den Blutdruck, beruhigt die unsteten Pupillen und entlastet die Rechenleistung der im Alltag arg beanspruchten rechten Gehirnhälfte.

In den Buchhandlungen wandern die Ausmalbücher von Johanna Basford – „Mein Zauberwald“, „Mein phantastischer Ozean“ und „Mein verzauberter Garten“ – in Bestsellerstärke über den Tresen. Das „Mein“ steht dabei vermutlich für die Individualität, die durch das Auspinseln entsteht.

Nun springt die „Brigitte“ mit einem „Spezial“ auf diesen rasant fahrenden Zug auf: Die „109 Ausmal-Vorlagen für eine kreative Auszeit“ gibt es jetzt sogar am Kiosk. Ausmalen macht also kreativ. Soso. Das ist, als besäße man ein Fieberthermometer und würde aufgrund dieser Expertise als Referent zu einem Kongress der Weltgesundheitsorganisation WHO eingeladen. Das will ich ausprobieren. Ich wechsele an dieser Stelle ins „Ich“, weil es „Mein Malerlebnis“ ist. Oder wie die Redaktion der „Brigitte“ schreibt: „Und wann haben Sie sich zuletzt etwas ausgemalt? Ihre Fantasie auf Reisen geschickt und sich in Tagträumen verloren?“

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Die ersten Seiten sind Blätter und Rosen. Ich male die Blätter grün aus und die Rosen rot. Das gehört sich schließlich so. Entspannen tut es tatsächlich ungemein. Es fordert mich überhaupt nicht, und während ich den Fineliner auf und ab bewege, überlege ich, ob ich für die größeren Stücke nicht lieber einen richtig dicken Stift nehmen soll, damit ich schneller fertig bin. Außerdem frage ich mich, ob es erlaubt ist, bei mehreren Feldern, die dieselbe Farbe haben, einfach über die schwarzen Linien zu malen. Als Kind hätte ich das nie gemacht, ich habe sogar Kinder verachtet, die Häuser aus verschiedenfarbigen Legos gebaut haben.

Als nächstes nehme ich mir ein Pferd vor. Das ist ziemlich in der Mitte des Hefts, und sein Körper ist mit einer Art Paisley-Muster überzogen. Mein erster Impuls ist es, das ganze Pferd braun auszumalen, aber ich reiße mich zusammen und nehme bunte Stifte. Innerhalb von fünf Minuten sieht das Pferd aus wie eins dieser psychedelischen „My Little Pony“-Pferdchen, mit denen die Endlagerfrage von vielfarbigem Kunststoffabfall von Asien nach Europa verschoben wird.

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Die Fasermaler setzen ein zartes Hellblau neben ein kreischiges Orange. Es sieht niedlich aus. Wie auch sonst? Möglicherweise ist der Ausmal-Trend eine weitere Stufe der gesellschaftlichen Regression von Erwachsenen, die in einer immer komplizierter wirkenden Welt die bepulloverten Hände um eine schöne große Tasse Kakao schlingen wollen und sich in ein Bällebad wünschen. Es ist doch kein Zufall, dass sich selbst große Zeitungen bei jedem zweiten Todesfall der letzten Monate fragen: „Und wer erklärt uns jetzt die Welt?“

Das „Brigitte spezial“ kommt fast ohne Text aus. Um genau zu sein, habe ich jetzt schon deutlich mehr Buchstaben produziert, als im gesamten 132-seitigen Heft zu finden sind. Lediglich vor den einzelnen Kapiteln gibt es kurze Zitate von Johann Wolfgang von Goethe, Tim Bendzko und Buddha. Siddhartha Gautama, wie Letzterer bürgerlich hieß, sagte: „Nicht außerhalb, nur in sich selbst soll man den Frieden suchen.“ Das ist vollkommen richtig und ich beschließe, die vollkommene Erleuchtung durch das Ausmalen eines Mandalas zu erreichen. Was nimmt man da? Das Grün ist seit den Blättern schon etwas schwach auf der Brust. Mir ist nach einem aggressiven Rot, es liegt noch ein weiter Weg vor mir.

Sucht man in der Google-Newssuche nach Ausmalbüchern, findet man viele Ergebnisse, und die meisten erklären sich den „Mega-Trend“ mit ähnlichen Modellen. Zusammengefasst lässt sich sagen: Es handelt sich beim Ausmalen um eine Art Finger-Yoga ohne Pupsgefahr, eine Entgiftungskur vom Digitalen, bei der die Synapsen locker baumeln können. Und natürlich – siehe oben – um eine Möglichkeit, die eigene Motorik zu stärken. Natürlich könnte man auch einfach ein schönes Gedicht mit einem Füllhalter abschreiben, aber ein Mega-Trend braucht etwas, das man kaufen kann. Die einzige Frage, die wirklich unbeantwortet bleibt: Was macht man eigentlich mit den Bildern? Hängt man sie auf oder verschenkt man sie an ältere Verwandte?

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Brigitte spezial 05/2015
132 Seiten
Gruner + Jahr

12 Kommentare

  1. „Die einzige Frage, die wirklich unbeantwortet bleibt: Was macht man eigentlich mit den Bildern? Hängt man sie auf oder verschenkt man sie an ältere Verwandte?“

    Die Bilder muss man natürlich der Mama zeigen, damit die einem lobend über den Kopf streichelt und einem dann den darüber bereits erwähnten Kakao als Belohnung aushändigt (weil sie wieder ihre Ruhe möchte).

  2. „Was macht man eigentlich mit den Bildern?“

    Man pappt sie natürlich an den Kühlschrank.

  3. Ist das eigentlich Retro-Eskapismus?
    Naja, bei zu viel Entschlackung bleibt nur Eisenerz im Kopf übrig.

  4. Ahh, da ist sie wieder, die linksintellektuelle Überheblichkeit, die sich über alles lustig macht, was ihren hohen Ansprüchen nicht genügt.

    Sooo toll seid Ihr auch nicht!

    Ich habe immer gerne nach Zahlen gemalt und deshalb bin ich jetzt ein tiefenentspannter Zeitgenosse, bääh!

  5. Eine kurze Frage: haben Sie das letzte Jahr verschlafen oder warum kommen Sie jetzt mit der „Kritik“ für ein Sonderheft vom Mai 2015?

    *Die Kritik ist in Anführungsstrichen, weil dieser Text imho nur überhebliches Geschwafel ohne jeglichen Inhalt ist.

  6. Hier die Megatrend-Vorhersage für 2017-25:

    kreatives Kneten, Loomy-Bänder, Stickerbücher (mit Paisley-Mustern), Star-Wars-Bildchen beim Rewe, Tonen (mit eigenem Brennofen), 100-Teile-Puzzles (herrlich entspannend, weil wenig herausfordernd).

  7. Wie ist es sich eigentlich, wenn man in der ständigen Angst lebt uncool zu sein, und sich daher über die vermeintlich lächerliche und armseelige Lebensweise anderer Menschen hermacht?

  8. Eine weitere Frage bleibt unbeantwortet: Was hat es mit dieser ominösen Zahl 109 auf sich? Irgendeine kamasutrische Idee? (Mich stöhnt da eine 0190 Nummer an.) Wobei: Ich habe am 01.09. Geburtstag. Es scheint wohl zwingend MEIN Ausmalbuch.

  9. @Maxim: Das Heft hat zwar die Nummer 5/2015, ist aber nicht im Mai, sondern im November erschienen. Ich kenne mich da nicht so aus, aber ich würde mal annehmen, dass die darin enthaltenen Ausmalbilder an Aktualität seitdem nicht verloren haben.

  10. Ich glaube, angefangen hat alles mit Gymnastik, wegen der Schickheit nannten es die Erfinder und alle Gläubigen = Aerobic.
    Dann kam noch vieles andere; eine besonders lustige Mode war das Laufen mit Ski-Stöcken, aber ohne Ski und auch ohne Schnee; aus unerfindlichen Gründen hieß es (natürlich wieder English:) Nordic Walking.
    Apropos „Laufen“. Das hieß dann irgendwann Jogging.
    Und bei mir gegenüber gibt’s ein Haus der evangelischen Kirche, da treffen sich wöchentlich 30 bis 40-jährige Frauen für alles mögliche: jeder Wochentag gibt’s was anderes: Yoga, Gemeinschaftstanz, Tischtennis, etc.. Das allerneueste: „Mindful parenting“.
    Ja, „Mindful parenting“. Fehlen noch: „Comfortable sitting“, „Decent eating“ …

  11. @4
    Das hat nichts mit Überheblichkeit zu tun, sondern ich vermute die süffisante Abarbeitung der Überstilisierung einer eher profanen und bisher doch weitestgehend belächelten Beschäftigung zum psychologischen Heilevent. Die einzige Überheblichkeit die ich dem Autor unterstelle ist das Vermischen vom einfachen (durchaus kreativen) Ausmalen, mit dem durch Zahlen vorgegeben Farbraum beim „Malen nach Zahlen“. Auf den Fotos und im Artikel lässt sich auf das Vorhandensein von Zahlen kein Rückschluss ziehen.

  12. Langeweile. Selbst als (zugegebenermaßen schon etwas älteres Kind) hab‘ ich solche Übungen nur absolviert wenn mir aber auch gar nichts Gescheites mehr einfallen wollte.

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