Computerspiel

RTL spekuliert über Suizid eines Jungen, um vor Minecraft zu warnen

Ein neunjähriger Junge aus dem nordrhein-westfälischen Hattingen soll sich das Leben genommen haben. Und im Gegensatz zu Polizei und Staatsanwaltschaft weiß RTL sogar warum: „wegen ‚Minecraft'“!

Ende Oktober, nachdem der Tod des Jungen bekannt geworden war, berichtete RTL über den Fall:

Der Neunjährige nahm sich laut RTL das Leben, weil „Freunde ihn beim Online-Computerspiel ‚Minecraft‘ nicht mitspielen ließen“. Am Anfang des Videobeitrags stellt die RTL-Reporterin etwas Erstaunliches fest: Man kann in „Minecraft“ mit anderen Menschen „sehr leicht“ kommunizieren! Über einen Chat! Whoa.

Die Reporterin kann es sich vorstellen, dass man, wenn man die User kennt, sich ausgeschlossen fühlt, wenn diese nicht mit einem kommunizieren wollen. – Dazu braucht man allerdings kein Computerspiel, das kann einem auf dem Schulhof auch passieren.

Doch das Gefährliche an der Chat-Funktion von „Minecraft“ ist für RTL nicht nur, dass dort Leute womöglich nicht mit einem reden wollen, sondern auch, dass sie es tun. Der Sender nimmt den behaupteten Grund des Suizids, dass der Junge sich ausgeschlossen fühlte, überraschend zum Anlass, davor zu warnen, dass Pädophile diesen Weg nutzen können, sich an Kinder und Jugendliche heranzumachen. 2016 hatte ein Pädophiler aus Düsseldorf durch die Chatfunktion Kontakt zu einem zwölfjährigen Schweizer aufgenommen und ihn entführt und vergewaltigt.

Was das mit dem Suizid in Hattingen zu tun hat, wenn er sich so ereignet hat, wie RTL behauptet, bleibt unklar. Doch auch der Zusammenhang des Todesfalls mit „Minecraft“ überhaupt ist zweifelhaft. Die Polizei im Ennepe-Ruhr-Kreis teilt auf Nachfrage mit, dass eine Kommission der Hagener Polizei noch ermittle, welche Lebensumstände eine Rolle gespielt hätten. Die Essener Staatsanwältin Julia Schweers-Nassif wurde konkreter und schrieb uns:

„Die Ermittlungen haben zwar ergeben, dass der Junge auch an dem Tag wie gewöhnlich Computerspiele u.a. auch Minecraft spielte. Offenbar hat die RTL-Mediengruppe auf einen kausalen Zusammenhang zwischen PC-Spielen und dem Tod des Jungen geschlossen. Einen solchen kausalen Zusammenhang sehen wir zwar grundsätzlich als eine theoretisch denkbare Möglichkeit für eine Erklärung an. Belegbare Fakten haben allerdings bisher diese Erklärungsmöglichkeit nicht erhärtet.“

Auf Nachfrage, woher RTL weiß, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Spiel und dem Tod des Jungen gibt, erklärt der Sender überraschend, dass er dafür keinen Beleg hat. RTL schreibt:

Der kausale Zusammenhang zwischen dem Mobbing beim Online-Spiel und dem Suizid liegt nahe, eine Tatsachenbehauptung ist jedoch journalistisch nicht einwandfrei. Wir haben allerdings diesen tragischen Fall eher als Aufhänger genutzt, um konstruktiv ein Problembewusstsein für Computerspiele zu schaffen. Wie bei anderen Verbraucherthemen auch, wurden dazu mehrere Experten befragt.

Das heißt wohl: RTL spekuliert über einen Zusammenhang, für den es keine Beweise hat, findet dieses „nicht einwandfreie“ journalistische Vorgehen aber nicht so schlimm, weil man den Fall ohnehin eher zum Anlass genommen hat, über – ganz andere – Gefahren beim Computerspielen zu berichten.

Und dabei nennt RTL auch noch die markanten Vornamen, die den Jungen in der ziemlich kleinen Stadt leicht identifizierbar machen. Auf die Frage, ob der Sender das nicht problematisch findet, antwortet ein Sprecher:

Im TV-Beitrag wurde der Vorname nicht genannt. Die Online-Redaktion hat lediglich den Vornamen des Jungen genannt. Nach Rückmeldung des Vaters wurde der Vorname sofort aus dem Text entfernt (diese erreichte uns zwei Tage nach der Veröffentlichung). Bei solchen Fällen ist natürlich ein besonders sensibler Umgang mit persönlichen Daten angebracht. Wir werden dieses Thema daher mit Blick auf die zukünftige Berichterstattung in der Online-Redaktion besprechen.

Während der Name also bei RTL verschwunden ist, ist er in einem Online-Magazin einer Klatschzeitschrift aus dem Bauer-Verlag immer noch zu lesen. Die Redaktion dort hatte den RTL-Artikel mehr oder weniger komplett abgeschrieben, inklusive der persönlichen Daten und dem herbeispekulierten Motiv für den Tod.


Eigentlich sollen sich Medien mit der Berichterstattung über Suizide wegen der großen Nachahmungsgefahr besonders zurückhalten. Auf die Frage, warum der Sender diesen Fall dennoch aufgriff, verwies RTL nur auf die Antwort vom Anfang: die mit dem Aufhänger, ein Problembewusstsein für Computerspiele zu schaffen.

Am Problembewusstsein für Suizidberichte arbeitet man bei RTL noch.

Mitarbeit: Tomasz Niemiec

12 Kommentare

  1. Puhh! Wenn das mit Minecraft Überhand nimmt, sind wir ja in richtiger Gefahr! Macht euch schon mal für den zusammenbruch der Gesellschaft bereit, wenn das Spiel in… ungefähr sechs Jahre in der Vergangenheit… von Kindern überall gespielt wird!
    Zusatzwarnung: Ich habe gehört, dieses World of Warcraft ist auch *richtig* gefährlich.

  2. Wurde auch auf die Gefahren durch Cornflakes hingewiesen, schliesslich hat der Junge am Morgen seines Todes welche gegessen…
    Könnte RTL vielleicht mal ausführen, welches Problembewusstsein für Computerspiele man denn bitte meint?

  3. Wenn beim Postillon ausgerechnet Minecraft als böses, gefährliches Computerspiel dargestellt würde, würden das alle außer den ironieresistentesten Menschen für eine gelungene Satire auf die „Killerspiel“-Debatte und ähnliches halten.

    Aber da haben sie ja noch so’n bisschen Sinn für Würde und Respekt.

  4. @DerMax: Man könnte natürlich auch noch über einen Laktoseschock spekulieren. So ganz trocken wird er die Cornflakes kaum runtergewürgt haben.

    Und ich hoffe, dass sich RTL so richtig verlassen fühlt, weil ich es seit Jahren nicht eingeschaltet habe.

  5. …ich erinnere noch dass sonntägliche Pflichthören der „RTL-Luxemburg-Hitparade“ ab High-Noon (…essen steht auf dem Tisch, sohnemann!).
    Muss was versäumt haben die letzten Jahre.

  6. Das Thema polarisiert, verkauft sich super.
    Ich vermute, die „Minecraft = Killerspiel“ Diktion ist aufgesetzte Naivität seitens RTL.
    Die ältere Elterngeneration hat was zum „Wusst ich doch, die pösen Komputerspiele“-sagen und die jüngere Generation (die damals von der Counter-Strike Diskussion betroffenenen Teenager sind jetzt ca. 30) regt sich in den Kommentaren auf und sorgt so für mehr Interaktionen = höheren Seitenwert = mehr Werbeeinnahmen.

    Gleiches Prinzip, wie die inflationäre AfD-Berichterstattung vor der BTW. Sichert die Einnahmen, so ein Thema.

  7. @ 7: Sehe ich ähnlich. Ich bin mir nicht sicher, ob der ‚Streitwert‘ der jüngeren Generation bewußt einkalkuliert wurde, aber ich gehe auch davon aus, daß man damit rechnet, daß 90 % der Zuschauer keine Ahnung haben, was Minecraft eigentlich ist.

  8. @8_Raoul
    Und 67.3% der 90% sagen: Minesweeper, das spiel ich nicht. Minenräumen ist mir zu brutal.

  9. Die Witzchen über eine ignorante ältere Generation mögen ja bei vielen, die dieser angehören, für ein Schmunzeln sorgen, bei mir jedoch nicht.
    Mich nervt es einfach nur noch.
    Ein Elternteil, das Minesweeper nicht von Minecraft unterscheiden kann, hat ein Kommunikationsproblem mit seinem Kind.
    Ein Elternteil, dass die Verwaltung seines Heimnetzwerkes in die Hände seines 12-jährigen Sohnes legt, wird keine pornhub-links in der Browser-History finden und so vielleicht niemals zu einem „peinlichen Gespräch“ kommen.
    Es ist einfach mit dem Finger auf Facebook zu zeigen und zu sagen: „Ihr versaut unsere Kinder“. Oder auf Killerspiele. Oder auf Pornoseiten.

    Jedes Mal beim Thema Videospiele wird gewitzelt.
    Das hat eine Industrie, die ca. gleichviel Umsatz macht wie Hollywood nicht verdient, sie verdient eine intensive Analyse und muss den gleichen Kritikpunkten unterworfen werden, wie jede andere Branche.
    Wieso wird „Pay to Win“ immernoch als „ja is halt so“ abgestempelt?
    Wo bleibt die strukturelle Kritik an einem Industriezweig, der minderjährigen Eskapisten (ich bin auch einer, nicht negativ gemeint) seit ca. 10 Jahren das Geld nur so aus der Tasche zieht mit Lootcrates und Mini-DLC’s?
    Diese Geschäftspraktiken werden seit Jahren eingesetzt. Weil sie sich nicht rentieren? Das ist naiv.
    Was ist mit In-Game-Advertising oder 3rd-party Websites, die z. B. Item-Handel anbieten und je Transaktion 2-5ct verdienen?
    Bin ich der einzige, der ein Problem damit hat, dass ein Spieleentwickler sich 60€ für ein Spiel bezahlen lässt, dann aber die besten Items nur gegen weiteres (echtes) Geld zu erlangen sind?
    Überhaupt: Ein Spiel kommt raus, der Entwickler legt dann einfach fest: Die Königs-Zweihand-Streitaxt mit +20HP kostet 4,99€ und ist erst ab lvl70 verfügbar. Das macht er mit 200 weiteren Items. Die Preise denkt er sich aus. Und die Kids kaufen den Scheiß, obwohl sie schon Full-Price bezahlt haben. Die 8-fach gehärtete Ork-Rüstung mit Palletten sieht einfach zu nice aus, auch wenn sie etwas OP ist und das Spiel dadurch imba wird. Aber will man nicht genau das?

    Wie sollen Eltern, die nicht mal wissen, was all diese komischen „Zocker-Wörter“ bedeuten, ihren Kindern Medienkompetenz beibringen?

    Natürlich wird das Thema auch diskutiert: In Fachredaktionen und den Communities.
    Für eine gesellschaftliche Debatte fehlt ganz einfach ein gemeinsamer Kenntnisstand.
    Und Empathie: Berichtet wird nur wenn etwas passiert. Dann muss die Redaktion sorgfältig abwägen: War derjenige ein sozial inkompatibler Außenseiter, am besten noch fett und hässlich: Dann bitte einen Häme-Artikel, der auf „Na, war doch klar, das der bald …“ hinausläuft (ob Amoklauf oder Suizid, egal!). War derjenige ein charismatischer, schlanker Typ, der auf seinem Facebook Profil (von dem ihr dann Fotos klaut) mehr als 20 Freunde hatte, dann bitte einen Mitleidsartikel (auch hier egal ob Suizid oder Amoklauf!).

    Sorry für den Rant, aber das musste mal raus.

    @8:
    Ich denke, dass der „Streitwert“ nicht nur eingeplant sondern auch knallhart kaufmännisch einkalkuliert ist.
    Wieso sollte die Interaktionsrate nicht relevant für den Erfolg sein, es wäre doch absolut fahrlässig, auf die wichtigste Kenngröße für den Werbeerfolg zu verzichten.

    Ich gehe mittlerweile schon so weit zu behaupten: Die Privatmedien haben das alles sehr gut erkannt und formen daher den ÖR auch als so krassen Gegner: Der hat nämlich einen Informationsauftrag und befindet sich außerhalb der Abhängigkeit privater Geldgeber (Interessen). Somit ist er der einzige Medienteilnehmer, der kein monetäres Interesse an der Veröffentlichung einer Meldung hat, also auch kein Interesse an einem Streit zu dem Thema. Der ÖR muss nicht polarisieren, daher wirkt er auch sö dröge und unfetzig (Was dann wieder zu Kritik am ÖR umgemünzt wird).
    In dem Zusammenhang sind solche Figuren, wie ein Danisch oder so ja gleichzeitig traurig und gefährlich: Sie befinden sich auf einem persönlichen Rachefeldzug und können daher gut als Zugpferde einer aufgesetzen „Der ÖR ist korrupt und kaputt“-Kampgne eingespannt werden (individuelle Radikalisierung und Instrumentalisierung durch eine finanzkräftige Gruppe, erinnert echt ein bisschen an Nahost).
    Die geistigen Brandanschläge in ihren Blogs führen wieder zu Polarisierung, mehr Interaktion und Profit.

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