Die Klickmaschine
„Focus Online“ hat sich Anfang des Jahres selbst übertroffen. Im Januar besuchten die Seite zum ersten Mal in einem Monat mehr als 21 Millionen Menschen – mehr Aufrufe hatte nur „Bild“. Doch anders als dort gelingt „Focus Online“ der Erfolg unter anderem mit Texten, die von Nutzern geschrieben werden, und mit kostenlosem PR-Material – also Inhalten, die Google eigentlich gar nicht mag. Aber „Focus Online“ hat einen Weg gefunden, die Suchmaschine zu überlisten und so auch Regional-Verlagen das Wasser abzugraben.
Auf der Website der Marketing-Agentur Brückl wirbt „Focus Online“ mit der Selbstbeschreibung „Deutschlands größtes und schnellstes News-Portal“ um Werbekunden.
Und damit geht’s schon los. Denn das mit dem größten News-Portal nehmen sie gleich auf der zweiten Seite der Präsentation wieder zurück.
Bei der Behauptung, es handle sich hier um ein News-Portal, bleibt es aber. Das ist nicht falsch, allerdings auch nicht ganz richtig. Korrekt müsste es heißen: Deutschlands zweitgrößtes News- und PR-Portal. Nur mit so viel Offenheit tut „Focus Online“ sich offensichtlich schwer.
Im vergangenen August hatte ich hier schon einmal darüber geschrieben, dass „Focus Online“ jetzt auch Lokal-Nachrichten anbietet. So hatten sie das jedenfalls angekündigt. Dann gab es aber zunächst nur Wetterberichte, PR-Material und Polizei-Pressemitteilungen. Ein Unternehmens-Sprecher erklärte damals, die Redaktion befinde sich noch einem „Test-Szenario“, der offizielle Startschuss sei noch gar nicht gefallen.
Vier Monate später habe ich nachgefragt, wann es denn so weit sei. Der Sprecher schrieb: „Einen ‚offiziellen Startschuss‘ wird es nach derzeitigen Planungen nicht geben.“
Der Übergang verlief also offenbar fließend. Inzwischen stehen für das Lokal-Ressort acht Redakteure und fünf Volontäre im Impressum. Das sind immer noch vier weniger, als vor einem Jahr von „Focus Online“ in einer Broschüre angegeben. Doch die Redaktion scheint nun weitgehend komplett zu sein.
Zum Konzept gehört, dass jeder Besucher sich anmelden und selbst Artikel schreiben kann. Einige Institutionen und Vereine nutzen diese Möglichkeit, um ihre Pressemitteilungen unter die Leute zu bringen. Die Deutsche Knochenmarksspenderdatei (DKMS) ist angemeldet, die Gesellschaft Kulturerbe Thüringen oder die Deutsche Gesellschaft der Circus-Freunde. Und besonders beliebt ist die „Publishing Plattform“ bei Politikern. Viele Bundes- und Landtagsabgeordnete nutzen „Focus Online“, um sich ans Volk zu wenden.
Die Abgeordneten können hier ohne lästige redaktionelle Filter all das unter der Flagge eines Nachrichten-Magazins einstellen, was bei der lokalen Zeitung unter Umständen im Mülleimer verschwinden würde.
Die Wetterberichte dominieren „Focus Online Local“ nicht mehr ganz so wie damals. Anscheinend wurden sie ersetzt durch noch mehr Polizei-Meldungen. Das ist zwar nicht das, was man von einem „News-Portal“ erwarten würde, aber wenigstens ist zu erkennen, woher die Inhalte stammen: Gast-Kommentare von Bundes- oder Landtagsabgeordneten sind mit „MdB“ oder „MdL“ vor deren Namen versehen; und über Polizeimeldungen steht etwa klein: „Dieser Inhalt wurde erstellt von der Polizei-Inspektion Starnberg.“
Auffällig ist allerdings, dass die meisten Artikel vor der Veröffentlichung überhaupt nicht bearbeitet werden – oder die Ansprüche wirklich sehr, sehr gering sind. Die lokalen Seiten sind voll mit Meldungen wie dieser:
Oder dieser:
Oder diesen:
Einige Nachrichten sehen aus wie Fehler-Meldungen. Wer die Seiten der Konkurrenz vor Augen hat, muss sich unweigerlich fragen: Gibt es irgendwen, der nach es nach einem flüchtigen Blick auf die Übersicht noch für möglich hält, hier verlässliche Informationen zu finden? Welcher zufällige Besucher denkt: „Ah, interessante Neuigkeiten – da schau ich wieder rein“?
Aber womöglich sind das die falschen Fragen. Die gröbsten Fehler ließen sich mit überschaubarem Aufwand korrigieren. Dann sähe alles – wenigstens auf den ersten Blick – etwas einladender aus. Aber es passiert nicht, also scheint es nicht so wichtig zu sein, und dafür gibt es eine Erklärung, die verständlich wird, wenn man sich ansieht, wie die Seite ihre Inhalte bezieht.
Der Berliner IT-Dienstleister Neofonie nennt „Focus Online Local“ als eine seiner Referenzen. Die Firma bezeichnet sich als „eine führende Internet-Agentur Deutschlands“. Die Liste der aktuellen und ehemaligen Kunden ist lang: Ebay, Audi, Boston Consulting oder Super RTL sind darunter.
Die Referenz „Focus Online“ füllt eine ganze Seite. Sie trägt die Überschrift: „FOCUS Online Local – Journalistische Kompetenz und künstliche Intelligenz Hand in Hand.“ In den Dubletten mit den verkrüppelten Überschriften vermag man weder das eine noch das andere zu erkennen.
Neofonie hat „Focus Online“ geholfen, mit „datenbasierten Learning Machines, die etwa Quellen aggregieren“, etliche Arbeitsschritte zu sparen. In anderen Worten: Die Maschinen grasen das Netz nach frei verfügbaren Inhalten ab und schaufeln diese ohne größere Umwege zu „Focus Online Local“ rüber. Das klingt einfach, ist technisch aber kompliziert. Die Erklärung auf der Neofonie-Website lässt das erahnen.
Neofonie hat (…) heterogene, autorisierte Nachrichtenquellen angebunden, woraus täglich mehrere hundert Nachrichten maschinell extrahiert und semantisch aufbereitet werden. Künstliche Intelligenz unterstützt die Bearbeitung und regionale Gruppierung. Beim Natural Language Processing (NLP) werden die rohen Webseiten nach semantischen Gesichtspunkten analysiert, Metadaten direkt aus der Nachricht extrahiert und Textstrukturen identifiziert. Die künstliche Intelligenz bringt dabei die Texte in ein einheitliches Format und bereinigt sie.
Über die Art, wie die Meldungen, zum Beispiel in dieser Übersicht, dann aussehen, könnte man sich lustig machen. Aber seinen Zweck erfüllt der Algorithmus sehr gut. Außerdem lernt er. Bis zu einem gewissen Grad spielt es auch keine Rolle, in welchem Zustand sich die Texte befinden, wichtig ist erst mal nur: Google muss sie finden und in den Such-Ergebnissen anzeigen.
Auf den ersten Blick macht „Focus Online“ dabei aber etwas falsch. „Google sagt: Liefere so gute Inhalte wie möglich. Dagegen verstößt ‚Focus Online‘ natürlich mit automatisch veröffentlichten Polizeimeldungen, die tausendfach kopiert werden“, sagt Lars Budde, Suchmaschinen-Experte beim Digital-Magazin t3n. Eigentlich würde Google solche Inhalte in der Liste mit den Ergebnissen also weit hinten verstecken.
Aber Qualität ist nicht alles in der Suchmaschinenwelt.
„Google möchte seinen Nutzern andererseits auch genau das liefern, was sie suchen. Wenn das eben Polizei-Meldungen sind, hat ‚Focus Online‘ als starke Domain einen Vorteil“, sagt Budde. Google ermittelt den gesamten Wert einer Seite. Es zählen also nicht nur die Inhalte. Entscheidend ist auch, wer sie bereitstellt. „Sehr wichtig sind inzwischen die Nutzer-Signale. Also: Wie oft kommt jemand zurück auf die Seite? Wie lange hält er sich dort auf? Auf welche Ergebnisse klickt er?“, sagt Budde.
„Focus Online Local“ allein hätte also mit seinen Content-Orgien bei Google schlechte Karten. Aber weil die von Journalisten geschriebenen Focus-Online-Artikel und die von Maschinen kopierten Inhalte auf „Focus Online Local“ unter der gleichen Adresse erscheinen, wirft Google alles in einen Topf – und so profitiert auch die regionale PR-Schleuder.
„FOCUS Online Local – Journalistische Kompetenz und künstliche Intelligenz Hand in Hand.“ So funktioniert das also. Mit der Wucht von mehr als 20 Millionen klickenden Nutzern im Monat kann „Focus Online“ regionale Anbieter locker ausspielen. Hinzu kommt, dass die Seite mit großem Aufwand auf die Ansprüche von Suchmaschinen abgestimmt wird. Regionale Verlage machen das oft und noch immer: eher nebenbei. Auch von Computern geschriebene Wettermeldungen könnten dazu beitragen, Google alles recht zu machen.
„Wenn es Inhalte sind, für die es ein Nutzerbedürfnis gibt, dürfte Google maschinengeschriebene Texte honorieren“, sagt Lars Budde. Und sogar die Tatsache, dass „Focus Online Local“ Polizei-Pressemeldungen automatisch übernimmt und ohne Verzögerung auf die Seite fließen lässt, kann im Wettbewerb mit regionalen Verlagen ein Vorteil sein, jedenfalls wenn es um Klicks geht.
Viele Lokalredaktionen machen sich die Mühe, das Behörden-Deutsch der Polizei-Meldungen in eine verständliche Sprache zu übersetzen. Womöglich rufen sie sogar in der Polizei-Pressestelle an, um offene Fragen zu klären. Sie recherchieren also, statt einfach zu übernehmen. Aber das kostet Zeit – und Google honoriert Schnelligkeit. Für den Nutzer ergibt sich dann, wenn man bei Google zum Beispiel nach „Unfall Münster“ sucht, folgendes Bild:
Die lokale Zeitung hat die Polizei-Meldung umgeschrieben. „Focus Online“ hat die Original-Polizei-Meldung übernommen – und landet damit ganz oben. Weshalb, lässt sich nicht eindeutig sagen, weil nicht bekannt ist, wie Google seine Kriterien im Algorithmus gewichtet. Zu erkennen ist aber, dass „Focus Online Local“ seine Seite auf bestimmte Suchbegriffe hin optimiert.
Die Software Keywordtool etwa zeigt, welche Suchwörter oft miteinander kombiniert werden. Nach dem Begriff „Polizei“ suchen Google-Nutzer zum Beispiel häufig, zusammen mit Städtenamen – am häufigsten mit denen der großen deutschen Städte, also etwa Berlin und München. Gibt man diese Anfragen bei Google ein, sehen die Ergebnisse so aus:
Oder so:
Bei anderen Großstädten ist es oft ähnlich aus. Natürlich beeinflussen der Standort des Suchenden und gespeicherte Suchpräferenzen die Google-Ergebnisse. „Focus Online“ aber wird oft weit oben gelistet, noch vor lokalen Medien. So gelingt es der Seite aus dem Münchner Burda-Verlag, sich mit kostenlosen Pressemeldungen gegen Regional-Verlage durchzusetzen.
Die Nutzer sehen in den Suchergebnissen also den Namen des Magazins. Sie rechnen mit Informationen, die von Journalisten geprüft worden sind, finden aber nur ein umformatiertes Behörden-Formular mit dem Hinweis, dass dieser Text von einem Polizisten geschrieben wurde.
Ob die Leser damit und mit den anderen PR-Texten zufrieden sind oder nicht, dürfte den Verantwortlichen bei „Focus Online“ wahrscheinlich egal sein – solange sie sich bei nächster Gelegenheit wieder für die vielen, vielen Klicks feiern können.
Das macht aber Springer z.B. bei der Berliner Woche genauso.
„Einige Nachrichten sehen aus wie Fehler-Meldungen.“
Diesen Satz kann man gar nicht hart genug feiern.
schöne neue digitale welt. anstatt guten content zu erarbeiten, werden app-entwickler und webseitendesigner von low-budget-firmen mit der konzeption und erstellung dubioser grütze, mit noch einer seltsamen vergleichsplattform, noch einem vermeintlichen newsportal usw. beschäftigt. noch immer fehlen innovative ideen und kreative leute.
ps: nein, eigentlich gibt es sie, aber die will niemand mehr bezahlen.
Das Münster-Beispiel ist leicht zu erklären: Focus hat beide Suchbegriffe im Titel, die WN keinen.
@Kuckuck : Die Berliner Woche gehoert uebrigens schon seit einigen Jahren nicht mehr zu Springer. Und Sie vergleichen ein Anzeigenblatt mit einem „Newsportal“.
War Neofonie nicht diese Firma, die vor 7 Jahren einen Coup gegen das iPad landen wollte und sich dann dermaßen blamiert hat? Dann sind sie sich dem halbseidenen Geschäft immerhin treu geblieben.
heute gab es einen schönen Kommentar-Bericht zu 100 Tagen US-Präsidentschaft 2017.
Da hieß es, dass Donald Trumo auch Gutes hervorgebracht hat, z.B. dass der us-amerikanische Qualitätsjournalismus sich wieder meldet und die Menschen diesen auch annehmen.
Da erscheint das neue Forcus Online Regional geradezu anachronistisch
Focus hat nicht nur Google eingenommen: Auch in Apple News tauchen die „Regionalmeldungen“ regelmäßig auf. Da hat man zusätzlich noch den Nachteil, dass man zumindest in Deutschland nicht selbst bestimmen kann, welche Medien in Apple News enthalten sind.
Manche sagen ja, künstliche Intelligenz sei besser als gar keine. Allerdings ist der Unterschied nicht immer klar erkennbar.