Die Kolumne
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Auf Seite 99 der ersten Ausgabe von „Der Spiegel Classic“ findet sich eine Drittelseite, für die es nur mit viel gutem Willen einen aktuellen Anlass gibt: Ein kleiner, feiner Text erinnert daran, dass der Algerienfranzose Albert Camus vor mehr als einem halben Jahrhundert schon die feinsten, klügsten Gedanken zum heute wieder heftig diskutierten Umgang Frankreichs mit seiner ehemaligen Kolonie – und vor allem den Umgang der Bevölkerungen miteinander – formuliert hat. Das ist natürlich auch im aktuellen französischen Präsidentschaftswahlkampf ein Thema, insofern ist das schon irgendwie aktuell, wobei ich persönlich glaube, die Liste derjenigen deutschen Leser, die sich für Details des französischen Präsidentschaftswahlkampfs interessieren, ist recht überschaubar, auf der Liste der relevanten Themen wird das Verhältnis von Franzosen und Algeriern eher weiter hinten auftauchen.
Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Nein, dieses Textlein steht ganz sicher nicht hier, um irgendwelche Lesererwartungen zu erfüllen. Es erfüllt auch keine Service-Erwartung, ist keine „News to use“. Es stellt nur fest, dass Camus zwei (auch heute) dringend benötigte Eigenschaften in die erhitzte Debatte einführte, nämlich „Präzision und Common Sense“, aber es verweist auf kein Buch, keine Webseite, keinen Film und kein Jubiläum. Es ist nur ein kleiner Beitrag, der bei mir Gedanken auslöst und vielleicht den Wunsch, Camus noch einmal zu lesen, vielleicht ein Drama?
Gerade weil dieser Text hier ohne Anker im Raum herumfliegt, unerwartet und irgendwie plötzlich, funktioniert er. Und genau genommen ist er mein einziger Anhaltspunkt, um zumindest den Hauch eines Gefühls zu bekommen, was man beim „Spiegel“ mit diesem Heft hier will. Denn es ist eine unvorstellbar wirre Halde drum herum.
Wahrscheinlich begann alles mit einer schlechten Idee und ging von da an einigermaßen steil bergab. Zu den Fakten: „Der Spiegel Classic“ ist ein Heft für Alte. Man nennt sie hier nicht Alte, der volle Titel des Heftes ist: „Der Spiegel Classic – Für Menschen mit Erfahrung und Entdeckergeist“, aber auf dem Störer* heißt es: „Das Magazin für die Generation 50+“, und im Heft selber ist ein riesiges Dossier zur ersten Mondlandung rubriziert als „Die Jahre, die uns prägten“, was bei einem Ereignis, das 1969 stattfand, dann schon deutlich über 50 bedeutet, denn wer das bewusst mitbekommen hat, der ist heute eher 60 Jahre alt.
Wie dem auch sei, mir stellen sich da gleich reihenweise Fragen: Gibt es einen 60-Jährigen, den ich begrüßen könnte mit: „Hallo, Sie sind doch ein Mensch mit Erfahrung und Entdeckergeist“, der mir nicht sofort eine reinhaut oder antwortet: „Wenn Sie unbedingt Marketing sprechen möchten, warum reden Sie dann nicht mit diesem Parkscheinautomaten?“
Selbst wenn wir die Sprechblasen und das Generationsgedödel weglassen, bleibt eine noch entscheidendere Frage: Ein „Spiegel“ für Alte? Really, „Spiegel“? Ist das nicht, äh, „Der Spiegel“? Wie jung genau stellt ihr euch die Leser eures Hauptheftes eigentlich vor?
Der Titel „Spiegel Classic“ hat zusätzlich noch eine weitere Dimension, bei der ich mir nicht einmal sicher bin, ob sie nicht die ursprüngliche Idee des Heftes war: Die Zweitverwertung von alten „Spiegel“-Geschichten. Es gab viel versprechende Versuche, zum Beispiel nach dem Tod von Muhammad Ali die besten Geschichten aus vielen Jahrzehnten zu einem Heft zusammenzufassen**. In „Der Spiegel Classic“ wird dieses Prinzip in dem Dossier zur Mondlandung nachgebaut, in der die Geschichten von damals in chronologischer Reihenfolge abgedruckt werden. Allerdings mit einem so entscheidenden Fehler, dass es mir schwergefallen ist, überhaupt zu glauben, dass er dem „Spiegel“ passiert: „Dieses Dossier versammelt die besten Texte über All und Astronauten von 1969 bis heute“ steht im Vorspann, und diese Texte sind offensichtlich inhaltlich unbearbeitet – was bedeutet, sie enthalten überholte Informationen.
In einem Text von 1969 steht, „nur ein Mensch starb bisher beim Einsatz im Weltraum, der Russe Wladimir Komarow“ – die Shuttle-Unglücke passierten später. Gleichzeitig verweist die Redaktion aber auf derselben Seite bei der Erwähnung der damals 24-jährigen Programmiererin des Leit- und Navigationssystems der Apollo-11-Mission auf ein Porträt später im Heft***, was für mich als Leser den Eindruck erweckt, die Redaktion würde die Texte durchaus neu einordnen. So, wie es jetzt da steht, muss man jede Information mit dem Zweifel lesen, sie könnte längst nicht mehr stimmen, was sehr, sehr nervt****.
Völlig unerklärlich ist mir, warum man bei „Spiegel Classic“ denkt, die richtige Person, um über Vor- und Nachteile von Elektroautos aufzuklären, wäre der Chef-Lobbyist der Elektroauto-Industrie. Das ist so abwegig, dass ich nicht einmal darüber nachdenke. Aber wenn man schon ein fünfseitiges Interview mit ihm abdruckt, wäre ein Foto, auf dem er erkennbar ist, für mich hilfreich.
Offenbar hatte man beim „Spiegel“ außerdem das Gefühl, ein Heft für alte Menschen mit alten Geschichten zu verkaufen, wäre mit Marketing-Deutsch angepriesen allein noch nicht beleidigend genug. Ich stelle mir die Diskussion um das Titelthema des ersten Heftes in der Redaktion etwa so vor:
„Was zeichnet denn so alte Leute aus?“
„Du meinst Menschen mit Erfahrung und Entdeckergeist!“
„Ja, sorry, was ist denn so das Definierende an Menschen mit, hihihihi, das ist so gut, Erfahrung und Entdeckergeist?“
„Also, ich würde sagen, die sind wahnsinnig geizig. Wahrscheinlich wegen der Kriegserfahrung. Der Mangel und so.“
„Ja, stimmt total, aber geizig klingt irgendwie negativ.“
„Und wenn wir es sparsam nennen?“
„Sorry, aber steht Sparen wirklich für Entdeckergeist?“
„Nee, nee, lass ihn mal. Da steckt was drin. Die sind ja so. Mit tausend Cent-Stücken an der Kasse, hab ich jedes Mal vor mir. Stundenlang.“
„Aber wofür sollen die denn Sparen? Die sterben doch eh bald!“
„Na ja … für die Enkel!“
„Okay, gekauft: Richtig Sparen für die Enkel. Aber das ist noch nicht alles. Das können wir auf dem Titel klein anteasen, aber da geht noch was. Was macht Alte …“
„… Menschen mit Erfahrung und Entdecker …“
„Jajajajaja! Was macht die aus, die Alten?“
„Also meine Mutter hat immer Angst.“
„Ja, meine auch!“
„Angst ist gut! Angst ist gut! Schön emotional!“
„Aber auch wieder negativ …“
„Drehen wir positiv: Bedürfnis nach Sicherheit!“
„Bedürfnis klingt nach nachts immer aufs Klo müssen.“
„Sehnsucht! Sehnsucht nach Sicherheit – Strategien für ein angstfreies Leben!“
„Und als Bild ein Typ in Ritterrüstung. Das ist auch schön alt!“
„Aber mit weißen Haaren!“
„Nicht Haaren, es ist 2017: Mit einem weißen Vollbart!“
„Und das, meine Damen und Herren, passiert, wenn Profis ihr Bestes geben dürfen: Wir haben einen Titel!“
In der Geschichte „Richtig Sparen für die Enkel“ steht übrigens in vielen Worten nur: indexgebundener Aktienfond. Alles andere ist im Moment Quatsch.
Aber dann kommt Seite 99 und zeigt auf einer Drittelseite, wie ein „Spiegel Classic“ auch sein könnte: Ein Heft, das davon ausgeht, dass seine Leser einmal Camus gelesen haben. Dass sie sich für verzweigte, schwierige Details der französischen Gesellschaft interessieren. Und dass ihnen ein guter, zeitloser Gedanke wichtiger ist als atemlose Aktualität. Der Gedanke an einen zusätzlichen „Spiegel“, der nicht so sehr jede Woche Nachrichten produziert, als sich um die großen Linien kümmert, mehr um die klugen Gedanken als die hastigen Statements – das ist ein schöner Gedanke. Der Anfang ist also gemacht. Es müssen nur noch die restlichen 137,66 Seiten nachziehen.
Der Spiegel Classic
Spiegel-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co KG
4,90 Euro
* Ein Störer ist ein grafisches Element, das absichtlich nicht zum restlichen Heftlayout passt. Meist sieht er auf Covern aus wie eine Art Aufkleber, und für eine unbestimmte, in jedem Fall deutlich zu lange Zeit steht auf Störern groß das Wort „neu“.
** “Der Spiegel“ hatte die Arbeit neben der aktuellen Heftproduktion allerdings an eine externe Agentur ausgelagert.
*** Die Frau, Margaret Hamilton, hat heute noch dasselbe bezaubernde Lächeln wie vor fast 50 Jahren. Es ist ein Bild von damals von ihr im Heft, auf dem sie neben dem Stapel des ausgedruckten Programms steht (er ist genau so hoch wie sie) und eins, auf dem Präsident Obama ihr 2016 einen Orden umhängt. Sie ist wirklich bezaubernd, und ich bin ein bisschen verliebt.
**** Mit der dem Haus eigenen Fähigkeit zur Selbstkritik gibt „Der Spiegel Classic“ jeweils einem Leser die Möglichkeit, auf der kompletten letzten Seite den „Spiegel“ zu loben. In der aktuellen ersten Ausgabe erklärt Leser Klaus Möscheid, 75: „Am ,Spiegel’ schätze ich, dass er gut recherchiert ist. Ich kann mich darauf verlassen, dass das, was ich lese, auch den Tatsachen entspricht.“
Ich verstehe den Sinn dieser Kolumne nicht.
Ist es die Nachricht: Es gibt einen Spiegel für Alte?
Ist es die Botschaft: Es lohnt sich Albert Camus wieder einmal zu lesen?
Wozu dieser Text?
@Lenhe: Michalis Pantelouris ist Journalist und hat an vielen Magazin-Erfindungen und -Relaunches mitgewirkt. Er geht für uns jede Woche zum Bahnhofskiosk, um Zeitschriften zu entdecken.
Das war leicht.
Also, irgendwie fehlt mir bei dem Text die Leichtigkeit, das wohlwollend-kritische Augenzwinkern, mit dem hier sonst semiprofessionell produzierte Special-Interest-Magazinchen aus dem Nischenregal besprochen werden. Klingt für mich alles etwas bemüht, kleinlich und verbissen. Wenn SPIEGEL draufsteht, hört beim Autor der Spaß offenbar auf. Schade eigentlich.
@Alexander:
Danke für die Erläuterung. Das war mir schon klar, dass die Kolumne wöchentlich einen Bahnhofskiosk aufsucht … meine Fragen gingen eher dahin, warum er die „Oldie“-Zeitschrift Spiegel Classics Kolumne-würdig fand,
Und was soll stattdessen „würdig“ sein? Es kann ja nicht jede Woche ein Publikationsorgan der Sauenjagd-, Vinyl- oder Bogenschieß-Fangemeinden-Journaille besprochen werden, das würde sich auch abnutzen. Die Botschaft lautet für mich: Layout wohl ok, da nicht substantiell kritisiert, Inhalt aber mau. Durch Beispiele illustriert, die ich vom Fleck weg nachvollziehen kann. Danke auch dafür!
Jetzt dachte ich, ich gehe hier mal eben zum Gruppenkuscheln in die gewöhnlich stets oxytocingeschwängerte Bahnhofskioskkommentarspalte, und dann empfängt mich hier diese Miesepetrigkeit. Auf nix ist mehr Verlass. Und dabei wollte ich eigentlich nur die schöne Überschrift loben.
Vielleicht hab ich die Kolumne nicht kapiert, weil ich ü60 bin?
Vielleicht gehör ich nicht zur Zielgruppe?
Well – shit happens – actually I never have and i liked reading Spiegel. Maybe it was the mentioning of Albert Camus that triggered my comment?
Sorry – didn’t mean to upset anyone – if I have.
In Verbindung mit dem investigativen Journalismus aus den 60er Jahren könnte dieses Format durchaus spannend werden. So bleibt es ein belangloses Hochglanz Retro Album.
Ganz nach dem Motto „Früher war auch die Zukunft besser“