Nur 80 Demo-Teilnehmer?

Achtung, hier spricht die Polizei falsch!

Die Bremer Polizei, dpa und andere Medien verbreiten eine offensichtlich falsche Teilnehmerzahl einer Klimademo – obwohl ihnen ein korrekter Fotobeweis vorliegt. Erst ein Hinweis unseres Autors bewirkt Korrekturen. Ein Lehrstück über die Gefahr blinder Polizei- und Agenturgläubigkeit.

Wer Medienberichte über Demonstrationen liest, ist mitunter irritiert, weil die Polizei oft niedrigere Teilnehmerzahlen nennt als die Veranstalter. Selten aber gehen die Angaben so weit auseinander wie kürzlich nach einer Klimademonstration in Bremen anlässlich eines internationalen Aktionstages. 

Die Polizei will 80 Menschen gezählt haben, „Fridays for Future“ (FFF) als Veranstalter dagegen 300 bis 400. Das Bizarre: Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) hatte zur Illustration auch ein Foto von der Demo verbreitet, auf dem aus der Vogelperspektive mehrere hundert Menschen zu sehen sind – ein eindeutiger Fotobeweis. Dennoch meldete die Agentur routinemäßig die Polizeiangaben; der Widerspruch zwischen Bericht und Bild war niemandem aufgefallen. Auch mehrere dpa-Kunden übernahmen die falsche Zahl und zugleich das Foto. FFF selbst hatte keine eigene Zahl publiziert.

Mangelnde Sorgfalt

Als mir das beim Blick auf die Onlineberichte auffiel, wollte ich diesen (wenn auch kleinen) mutmaßlichen kollektiven Sorgfaltspflicht-Verstoß nicht achselzuckend auf sich beruhen lassen. Ich hielt es, als Leser, Journalist und ehemaliges Presseratsmitglied, für sinnvoll, zumindest dpa und zwei weitere Redaktionen auf den Irrtum hinzuweisen.

Dabei stellte sich heraus, dass dpa nicht etwa eine Null hinter der 80 vergessen hatte, sondern dass die Zahl tatsächlich von der Polizei stammte. Nach meinem Hinweis fragte die Agentur dort noch einmal nach. Doch die Behörde beharrte auf ihrer Darstellung. 

dpa-Korrekturen

Die dpa verschickte daraufhin eine erste Korrekturmeldung und wies auf den Widerspruch zwischen Polizeiangaben und Foto hin. Anschließend vermittelte ich der Agentur einen Kontakt zu einer FFF-Sprecherin, die ich erst nach längerem Herumtelefonieren ausfindig gemacht hatte. Die Demo-Veranstalter hatten nämlich keine Handynummer auf ihrer Homepage angegeben – was hinderlich ist für Presseanfragen, aber auch verständlich angesichts sonst wohl drohender Hassanrufe von Klimawandelleugnern.

Am Ende verschickte dpa eine abermals aktualisierte Fassung des Berichts über den Klimaschutzaktionstag:

„Auch in Bremen versammelten sich Hunderte Demonstranten vor dem Überseemuseum. Die Polizei sprach – auch nach Rückfrage am Sonntag – von rund 80 Teilnehmern. Auf einem Foto der Demo sind jedoch deutlich mehr Menschen zu sehen. Nach Angaben einer Sprecherin für Fridays for Future vom Sonntag waren mindestens 300 bis 400 Menschen dort.“

Text-Bild-Schere im „Weser-Kurier“

Bericht über die Klimademo in Bremen im Online-Auftritt des „Weser Kuriers“. Überschrift: „Rund 80 Teilnehmer an Demo von F
Bericht über die Klimademo im „Weser-Kurier“.Screenshot: „Weser Kurier“

In der Zwischenzeit hatte ich auch den Bremer „Weser-Kurier“ (WK) auf den Fehler aufmerksam gemacht. Ihm war das Kunststück gelungen, die falsche Teilnehmerzahl groß in der Überschrift seines Onlineberichts zu erwähnen und direkt darunter das dpa-Foto mit der Menschenmenge zu platzieren – eine wundersame Text-Bild-Schere. 

Nach meinem Hinweis strich die Onlineredaktion zunächst die falsche Zahl ersatzlos. Später ergänzte sie den Artikel um einem erläuternden Absatz:

„In der ursprünglichen Version dieses Textes wurde die Teilnehmerzahl an der Demonstration in Bremen mit 80 Personen angegeben. Diese Angabe stammt von der Deutschen Presse-Agentur. Da sich diese Zahl jedoch nicht mit der auf dem Aufmacherbild abgebildeten Personenzahl deckt, wurde sie entfernt. Die Umweltbewegung ‚Fridays for Future‘ spricht von einer Teilnehmerzahl von rund 400 Personen.“

Am nächsten Morgen dann: eine besonders peinliche Panne. Trotz Fehlerkorrektur im Internet erschien der gedruckte WK mit der Überschrift „80 Teilnehmer bei Demo“ – ohne das Foto, das die Unwahrheit dieser Behauptung aufgedeckt hätte. Erst zwei Tage später druckte die Zeitung eine kleine Korrekturmeldung. 

„t-online“: „sorgfältig geprüft“?

Die dritte Redaktion, die ich informierte, war die von „t-online“. Das nach eigenen Angaben „reichweitenstärkste Nachrichtenmedium Deutschlands“, das längst nicht mehr zur Telekom, sondern zum Ströer-Konzern gehört, hatte Text und Foto ebenfalls von dpa bezogen und mit dem Transparenzhinweis versehen, der Text sei „teilweise mit maschineller Unterstützung erstellt und redaktionell geprüft“ worden. Mit der Maschine dürfte KI gemeint sein, und die Prüfung kann nicht besonders sorgfältig gewesen sein. 

Anders als dpa und WK reagierte „t-online“ auf meinen Hinweis weder mit einer Antwort noch mit einer Korrektur des Artikels. Also beschloss ich, dass Thema nicht mehr nur als hinweisender Leser anzugehen – und stellte „t-online“ für diesen Übermedien-Beitrag ein paar Fragen zum Einsatz von KI und zum Umgang mit Fehlern.

Die Antwort eines namenlosen Mitglieds der Unternehmenskommunikation war kurz und knapp: „Wir nehmen Ihren Hinweis an und prüfen den von Ihnen genannten Text.“ Die Fragen blieben unbeantwortet, weiteres Nachhaken ohne Reaktion.

Auch nicht recht auskunftsfreudig in diesem Fall: die dpa. Konzernsprecher Jens Petersen äußert sich erst auf wiederholte Nachfrage dazu, warum niemand den Widerspruch zwischen Bild und Text bemerkte. Arbeiten Text- und Fotoredaktion so getrennt, dass die eine nicht weiß, was die andere tut? Nein. Selbstverständlich würden sie eng zusammenarbeiten, schreibt Petersen. „Das schließt leider nicht aus, dass auch mal etwas übersehen wird.“

„Weser-Kurier“: „nicht ins Auge gesprungen“

Wesentlich ausführlicher antwortet Benjamin Piel, seit Januar WK-Chefredakteur im Duo mit Silke Hellwig. Piel schreibt, der Widerspruch zwischen der genannten Teilnehmerzahl und der tatsächlichen Personenanzahl auf dem Foto sei „der Onlineredaktion nicht ins Auge gesprungen.“ Obwohl in der dpa-Bildunterschrift ausdrücklich Bremen genannt wurde, meint Piel außerdem, es sei „nicht ganz klar“ gewesen, ob das Foto wirklich hier aufgenommen wurde. 

„Die Örtlichkeit lässt sich auf dem Bild nicht gut wahrnehmen, da es nur Menschen um eine Rasenfläche herum zeigt. Die Perspektive und die Art der Personengruppierung um eine leere Fläche herum ist außerdem so gewählt, dass die Menge eher kleiner wirkt. Das mag dazu beigetragen haben, dass der Widerspruch während der Bearbeitung nicht aufgefallen ist. Unter optimalen Bedingungen wäre das natürlich wünschenswert gewesen, trotzdem meine ich, dass dem Kollegen da kein Versagen zu unterstellen ist.“

Dass die längst widerlegte falsche Zahl auch im gedruckten WK erschienen ist, bezeichnet Piel als Fehler. Und merkt zur falschen Onlinefassung noch an, dass dpa als Quellenangabe der Zahl ja „zumindest klar genannt“ worden sei. Also Hauptsache, die Quellenangabe ist korrekt, egal ob auch der Inhalt stimmt? 

Das erinnert an das Konzept der „privilegierten Quellen“: Polizei und andere Behörden, aber auch Presseagenturen gelten medienrechtlich und presseethisch als so zuverlässig, dass deren Mitteilungen und Meldungen ungeprüft von den einzelnen Medien übernommen werden dürfen. Die Folge: eine in vielen Redaktionen verbreitete Polizei- und Agenturgläubigkeit. Etliche Medien lassen Agenturtexte sogar automatisch in ihr Online-Angebot einfließen. Oft wird das zumindest kenntlich gemacht. So steht zum Beispiel bei zeit.de vor jedem dieser Texte: „DIE ZEIT hat diese Meldung redaktionell nicht bearbeitet. Sie wurde automatisch von der Deutschen Presse-Agentur (dpa) übernommen.“

Nicht blind vertrauen

WK-Chef Piel zeigt hier durchaus Problembewusstsein: Das Konzept der privilegierten Quelle dürfe „keinesfalls dazu führen“, Agenturen, Polizei oder Feuerwehr „blind zu vertrauen“. Gerade weil es ein gewisses Grundvertrauen gebe, sollte der Blick besonders wach sein. Es sei jedoch, im Gegenteil, ein „recht weit verbreitetes Phänomen“ im deutschen Journalismus, hier „nicht kritisch genug“ zu sein. Hinweise würden helfen, das kritische Bewusstsein zu schärfen.

Screenshot der Sendung „buten un binnen“ bei Radio Bremen: Auf dem Bild sind viele (viel mehr als 80) Demo-Teilnehmer auf einer Wiese zu erkennen.
Fernsehsendung „buten und binnen“: Nur 80 Teilnehmer?Screenshot: Radio Bremen

Nicht nur Online- und Zeitungsredaktionen fielen nach dem Klima-Aktionstag auf die falsche Polizei-/dpa-Zahl herein, sondern auch Radio Bremen (RB). In seiner Fernsehregionalsendung „buten un binnen“ zeigte der öffentlich-rechtliche Sender einen Kurzbericht über die Demo und sprach ebenfalls von 80 Teilnehmern, während im Video eine größere Menschenmenge zu sehen war. 

Auf Nachfrage bestätigt die RB-Pressestelle, dass der Text tatsächlich auf dpa-Informationen basierte. Das Bildmaterial stammte vom dpa-Videodienst „tele news network“; ein eigenes RB-Team habe nicht zur Verfügung gestanden. Weiter heißt es, dass bei der Durchsicht der Bilder „durchaus eine Irritation“ aufgekommen sei. Das Team habe versucht, die Zahl gegenzuchecken. Die Polizei habe die Zahl 80 bestätigt.

„Weil der Reporter nicht vor Ort gewesen war, konnte er nicht einschätzen, ob sich womöglich Schaulustige oder Beteiligte einer anderen Veranstaltung am belebten Bahnhofsplatz zur Klima-Demonstration gesellt hatten.“

Auf die Frage, ob der Sender daraus nun Konsequenzen zieht, schreibt die RB-Pressesprecherin: „Wir werden, wie immer bei Reaktionen auf unsere Beiträge, im Team unsere Arbeit reflektieren.“

Bremer Polizei verteidigt falsche Zahl

Keinerlei Bereitschaft zur Selbstkritik zeigt dagegen die Bremer Polizei als eigentliche Verursacherin des ganzen Wirrwarrs. Ein Sprecher erläutert auf Anfrage zunächst, wie solche Zahlen zustande kommen:

„Gezählt wird je nach Versammlunglage mit unterschiedlichen Methoden – etwa durch Einzelzählung (z. B. mit Handzähler), Blockzählung oder auch über Flächendichte.“

Aber dann verteidigt er die falsche Zahl auch nachträglich: „In der Spitze nahmen an der Kundgebung vor dem Überseemuseum bis zu 80 Personen teil“, schreibt er. Und: „Warum Ihr Eindruck oder das Foto ein anderes Bild vermittelt, können wir nicht bewerten.“ 

Auf weiteres Nachhaken schiebt der Polizeisprecher nach, seine Kollegen seien ja nicht ständig vor Ort gewesen, um immer wieder durchzuzählen – „wir hatten wichtigere Aufgaben an diesem Tag. Eine andere Zahl lag uns schlicht nicht vor“.

Aber hat sich der diensthabende Pressesprecher denn gar nicht das Foto angeschaut, als er die angezweifelte Zahl auf dpa-Nachfrage bestätigte? Darauf gibt die Pressestelle keine Antwort. Nur so viel:

„Es gab da keinen ‚diensthabenden‘ Pressesprecher, sondern ein Telefonat der dpa Hannover mit der Leitstelle, die die Infos nach bestem Gewissen herausgegeben hat. Ob die Zahl am Ende unterm Strich so korrekt ist, weil da ja sicherlich auch ein Kommen und Gehen war, kann man nicht mehr sagen, da wir auch nicht ständig vor Ort waren.“

Merke deshalb noch mal: Auch auf privilegierte Quellen ist nicht immer Verlass.

Nachtrag: Wir haben mal nachgezählt. Die roten Punkte stehen für 80 Menschen.

Luftaufnahme der Demo: Auf dem Bild sind viele Demo-Teilnehmer auf einer Wiese zu erkennen. Wir haben davon 80 mit einem roten Punkt versehen. Das ist nur ein kleiner Teil links am Rand.

22 Kommentare

  1. Kommt mir das nur so vor oder ist das jetzt schon ein bisschen kleinlich und ziemlich viel Wind wegen einer absoluten Abweichung von max. 320 Personen?
    In dem Fall finde ich die Rechtfertigung der Polizei mit der „Laufkundschaft“ sogar plausibel. Etwas anderes wäre es, wenn tatsächlich über 10.000 Leute dagewesen wären.
    Aber so finde ich die _unterschwellige_ Unterstellung, dass die Polizei absichtlich zu niedrige Zahlen verbreitet, schon übertrieben und fast an der Grenze zur Verschwörungstheorie. Es lassen sich bestimmt auch Beispiele finden, auf denen ein Foto deutlich weniger Leute zeigt als die Polizei gemeldet hat – man muss nur zum richtigen Zeitpunkt abdrücken. Das würde aber natürlich als Artikel nicht viel hergeben.

  2. Ehrlich gesagt zeigt das Bild für mich nicht eindeutig mehrere hundert Personen. Vielleicht würde ich es auf 120 bis 150 Personen schätzen. Wenn ich das Bild sehe, ergibt sich für mich aber keine Text-Bild-Schere und der Vorwurf fühlt sich doch arg konstruiert an, da muss ich dem Vorkommentierer zustimmen.

    Ob es jetzt 80 oder 300 oder 350 waren, ist zwar schon noch ein Unterschied, aber von hunderten könnte man in beiden Fällen nicht sprechen. Dass man deshalb grundsätzlich vorsichtig bei Polizei-Meldungen sein sollte, kann ich da beim besten Willen nicht herauslesen. Gerade im Vergleich zu den meisten Organisationen schätzt die Polizei die tatsächlichen Zahlen wahrscheinlich in 90% der Fälle seriöser ein. Mag sicher auch mal nicht ganz stimmen, aber wenn dann aus 80 statt 300 ein Artikel gemacht wird, scheinen die Zahlen doch sehr gut zu sein.

  3. @SvenAckermann: Aus unserer Sicht ist der Fall einfach ein anschauliches pars-pro-toto, weil er fehleranfällige Strukturen im Nachrichtenjournalismus zeigt. Dadurch wird er für uns relevant – nirgendwo wird behauptet, dass hier jetzt ein dramatischer Skandal vorliegt. Und: Woran machen Sie denn diese vermeintliche Unterstellung fest?
    (Wenn Sie einen Fall finden, in dem die Polizei deutlich mehr Leute angibt und Medien das übernehmen, lassen Sie uns das wissen – es wäre ebenfalls ein Thema für uns).

  4. Die Kritik an der blinden Übernahme von Polizei-Zahlen ist ja grundsätzlich gerechtfertigt und die angebrachte Medienkritik teile ich auch. Da gab es hier in der Vergangenheit auch schon gute Beispiele. Nur dieses hier wirkt doch ein wenig zu sehr gewollt.
    Und vielleicht interpretiere ich da auch zu viel rein, aber schon die Überschrift setzt ja ein starkes Framing, dass die Polizei hier was schlimm falsch gemacht hat. Der letzte Abschnitt macht das auch nicht unbedingt besser. Es wird ja so dargestellt, als seien die (aus meiner Sicht plausiblen) Antworten nicht ausreichend.
    Ich habe auch extra „_unterschwellig_“ geschrieben, weil das eben nicht direkt so da steht, es aber reininterpretiert werden könnte (vor allem von Menschen, die die Polizei sowieso schon nicht mögen).

  5. Den Artikel finde ich wichtig und die Abweichung ist sehr relevant, wenn rund die vierfache Menge da war.

    Dass die Polizei da kein Problembewußtsein hat, finde ich ebenfalls problematisch. Dann sollten sie die Zahlen entweder nicht herausgeben oder mit deutlich mehr Unsicherheit versehen.

    Die Überschrift halte ich deshalb für passend.

  6. @Robotexter: „Ob es jetzt 80 oder 300 oder 350 waren, ist zwar schon noch ein Unterschied, aber von hunderten könnte man in beiden Fällen nicht sprechen.“ Natürlich kann man bei 350 Demonstranten von Hunderten sprechen, das ist das, was das Wort bedeutet.

    Ich kann die kritischen Kommentare hier nicht wirklich nachvollziehen: Wenn die Polizei ein um den Faktor fünf falschen Wert angibt, und auch auf Nachfragen hin kein Problembewusstsein hat, ist es doch richtig das zu thematisieren. Insbesondere vor dem Hintergrund der Polizei als privilegierte Quelle.

  7. Bei nahezu jeder Demo liegen die Zahlen der Polizei und der Veranstalter ziemlich weit auseinander und die der Polizei in der Regel deutlich unter der der Veranstalter. Sinnvollerweise behilft man sich dann bei der Berichterstattung damit, dass sowohl die eine als auch die andere Zahl angegeben wird. Wenn allerdings der Veranstalter, wie in diesem Fall, keine Zahl angibt, wird es schwierig. In einem solchen Fall wäre es eigentlich geboten, auf jede Zahlennennung zu verzichten. Vor allem dann, wenn kein Reporter vor Ort war und Bildmaterial vorliegt, dass die Zahl der Polizei doch als ziemlich fehlerhaft vermuten lässt. Das wäre jedenfalls besser, als eine erkennbar falsche Zahl zu verbreiten, selbst wenn diese von einer „amtlichen“ Stelle kommt.

  8. Ich finde die hiesige Berichterstattung ebenfalls sehr interessant und erhellend. In meinen Augen ist das ein weiterer Fall von vielen, bei denen die Polizei die Zahl der Demonstranten massiv unterschätzt, um das freundlich auszudrücken. Bei den Demos gegen Stuttgart 21 konnte man häufig (nach meinem Empfinden, auch wenn ich es nicht nicht belegen kann, immer) feststellen, dass die Polizei die Veröffentlichung der Teilnehmerzahl des Veranstalters abgewartet und dann je nach Tagesform ein Drittel, Fünftel oder Zehntel davon dann als „offizielle“ Teilnehmerzahl verkündet hat. Alle dürfen raten, welche Zahl von den meisten Medien übernommen wurde.

  9. Aus der Protest-und Bewegungsforschung wissen wir seit mindestens 10 Jahren, dass mit Zahlen von Protesten Politik gemacht wird. Die Veranstalter sind meist etwas großzügiger die Polizei oft etwas zurückhaltender.
    Ist jetzt beides eigentlich nicht neu und sollte Medien sehr gut bekannt sein. Auch das die Experten aus der Protest-und Bewegungsforschung schon seit vielen Jahren dafür plädieren eher Zahlenbereiche zu nennen und möglichst viel Transparenz wie zb Zahlen von Veranstalter und Polizei nennen oder auf Umstände hinweisen warum genannte Zahlen als eher ungenau betrachtet werden.
    Vor diesem Hintergrund sollte es doch eigentlich ein No-Go sein einfach nur die Zahlen der Polizei zu übernehmen und damit ein deutlicher Fehler der Medien die das machen.

  10. Der Weser-Kurier-Chefredakteur kennt sich offensichtlich in Bremen nicht aus. Eine 20-Sekunden-Google-Recherche ergibt, wo die Demo stattgefunden hat (vor dem Bremer Überseemuseum beim Hauptbahnhof, wie es auch zweimal im Text steht). Und wenn man das weiß, ist es ein Leichtes, die Wiese mit der Steinumfassung am Rand anhand des ersten Bildes zu erkennen. Und ich wohne seit fast 30 Jahren nicht mehr in Bremen, trotzdem erkenne ich das sofort. Ich denke mal, das kann man getrost als eher schlechte Ausrede abhaken.

  11. @MT (#9):

    Aus der Protest-und Bewegungsforschung wissen wir seit mindestens 10 Jahren, dass mit Zahlen von Protesten Politik gemacht wird. Die Veranstalter sind meist etwas großzügiger die Polizei oft etwas zurückhaltender.

    Dazu braucht man keine Forschung, ein wenig Erfahrung reicht. Und das Phänomen ist vermutlich so alt wie Demos selbst.

    Dieser Fall hier ist ein bisschen albern: Der Unterschied zwischen achtzig und mehreren hundert ist leicht zu erkennen. Bei größeren Demos wird’s schwieriger – wer kann schon sagen, ob eine Menschenmenge aus 5000 oder aus 8000 Personen besteht? Ich nicht. Und auch die Veranstalter raten in der Regel, meist großzügig.

    Aus dieser Perspektive finde ich es verständlich, wenn sich Journalisten auf die Zahlen der Polizei verlassen, denn die hat immerhin eine Art Erfassungssystem. Der Augenschein kann täuschen, denn 5.000 Leute als Haufen auf dem Tempelhofer Feld wirken ganz anders, als ein Zug von 5.000, der sich durch die Gassen einer engen Altstadt schlängelt. Gleichzeitig scheint es aber eine Tradition zu sein, dass die Polizei eher niedrig zählt – und das sollte in den Redaktionen bekannt sein.

    Was tun? Selbst zählen wäre sauber, aber aufwendig. In der Regel sollte man beide Zahlen nennen: „Die Veranstalter sprachen von 20.000 Teilnehmern, die Polizei von 12.000.“ Bei kleineren Demos wie dieser sollte es dem Reporter allerdings zuzumuten sein, sich selbst ein Bild zu machen.

  12. @Kritischer Kritiker
    „Dazu braucht man keine Forschung, ein wenig Erfahrung reicht. Und das Phänomen ist vermutlich so alt wie Demos selbst.“
    Denk ich auch. Kleines Beispiel:

    Der Protestforscher Dieter Rucht schrieb 2016 in einem Beitrag auf der Webseite des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung: „Dass mit Zahlen Politik gemacht wurde, ist nicht neu. Bei einer großen Berliner Wahlrechtsdemonstration am 6. März 1910 sprachen die Organisatoren von bis zu 30.000 Teilnehmern, während der damalige Polizeipräsident von Jagow behauptete, aufgrund ’sorgfältiger Nachprüfungen‘ habe sich eine Zahl von ’nur 2.000′ ergeben.“

    Und der im Artikel genannte Fall zeigt ja, dass die Zählweise der Polizei auch deutlich abweichen kann.
    Daher finde ich schon Medien sollten beide Zahlen nennen oder größere Zahlenbereiche.

  13. Lustig ist die von t-online eingesetzte KI, denn wenn ich das Foto beim gratis ChatGPT hochlade und nach der Anzahl frage, sagt das mir:

    „Auf dem Bild sind recht viele Menschen zu sehen, die dicht gedrängt stehen.
    Wenn man grob zählt und nach Bereichen abschätzt:

    Links im Bild: etwa 70–100 Personen

    Mitte: etwa 120–150 Personen

    Rechts: etwa 150–200 Personen

    Sitzende und locker verteilte Personen am Rand: ca. 20–30

    Insgesamt dürften es also ungefähr 350 bis 450 Menschen sein.

    Möchtest du, dass ich dir eine noch genauere Schätzung mit einer Rastermethode (Fläche in Quadrate teilen und zählen) mache?“

  14. Neustes Beispiel von der ARD
    https://www.tagesschau.de/inland/regional/berlin/demo-gaza-protest-berlin-102.html

    Sie nennt zwar beide Zahlen im Text aber in der Überschrift wird die Zahl der Polizei genannt
    „60.000 Menschen demonstrieren gegen Gaza-Krieg“
    Und es ist ja auch allgemein bekannt dass viele Menschen nur die Überschriften lesen. Meiner Meinung nach vor allem jene die sowieso nicht so kritisch sind. Für die waren dort „nur“ 60.000 und nicht, unter Umständen über 100.000.

    Proteste sind ein sehr wichtiger Teil der Demokratie. Und die Zahlen derer die hingehen, können viel Zugkraft entwickeln. Und die Entscheidung welche Zahlen man verwendet kann daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Meinungsbildung und die Anteilnahme am demokratischen Prozess sein.

  15. „…ob sich womöglich Schaulustige oder Beteiligte einer anderen Veranstaltung am belebten Bahnhofsplatz zur Klima-Demonstration gesellt hatten“ – das ist doch aber eigentlich auch vollkommen egal, woher die ganzen Leute kommen. Wer da mittendrin rumsteht, ist wohl dabei, auch wenn er vorher woanders war oder nicht vorsätzlich hingegangen ist. Man fragt doch bei Demos nicht alle nach ihrer Motivation, nur weil sie selbst kein Transparent dabei haben.
    Die Polizei schon gar nicht, eine größere Menschenansammlung wird ja auch mal zur Versammlung erklärt, vermutlich um sie gegebenenfalls auflösen zu können.

  16. Für eine offenkundige, praktisch jedermann ersichtliche Diskrepanz zwischen Bild und Text sollte es keine Ausrede geben. Redaktion wie auch Polizei sollten dann einfach mal kleine Brötchen backen.

  17. #14 mit der Rastermethode kommt ChatGPT auf 540 Menschen.
    Somit ist als hunderte Menschen sehr wohl korrekt und die Polizeiangabe ziemlich falsch …

  18. Danke! Die unkritische Übernahme von Polizeimeldungen scheint ein generelles Problem zu sein. Mir sind schon mehrfach dazu Artikel in unterschiedlichen Medien aufgefallen, die thematisierten, dass Polizeimeldungen nicht korrekt waren. Und ja, es hat mit einer gewissen Gläubigkeit oder Grundvertrauen zu tun, das nicht hinterfragt wird. Sozial hat es ja auch seinen Sinn, ein gewisses Grundvertrauen zu haben, aber es führt leicht zu Bequemlichkeit und Fehlern.

  19. #13 „ Daher finde ich schon Medien sollten beide Zahlen nennen oder größere Zahlenbereiche.“

    Ich würde mir wünschen, wenn Medien schon beide Zahlen nennen, und die dann stark voneinander abweichen, dass sie auch eine Einordnung anbieten und eine eigene Einschätzung, welche der beiden Zahlen wohl realistischer ist.

    Ich kenne das aus anderen Zusammenhängen. Da machen es sich Redaktion total bequem, zitieren widersprüchliche Aussagen von zwei Parteien, aber ordnen Sie nicht ein. Das Einordnen bedarf gewisse Expertise oder Recherche, ist aber ein Service für die Leser.

  20. Das Übliche: Die Welt geht unter, wenn man einen Pegidisten unterschlägt, aber bei Klimademos 300 Menschen unterschlagen; das ist dann „kleinlich“, darauf hinzuweisen.
    Ich meine: Wir kriegen die Welt, für die wir kämpfen.

  21. Hier mischt die Polizei, namentlich in Form eines Manuel Ostermann, auch fleißig bei der Verbreitung von Quatsch mit:
    https://www.volksverpetzer.de/aktuelles/herdecke-afd-messerangriff/

    Auch da natürlich nur mit blaubraunen Dogwhistles …

    Einfach mal wieder offen rassistisch sein dürfen, dat wär’s.
    Aber bitte auch ohne Widerspruch! Wenn einer den Rassismus doof findet und das ausspricht, dann ist man Opfer von linksgrüner Cancel Culture, na klar.

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