Besser erst recherchieren, bevor man Rassismus einfach wegkommentiert
Ein Redakteur der „Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen“ redet vorschnell einen Rassismusvorwurf klein und nimmt den Beschuldigten in Schutz. Dann stellt sich heraus, wie falsch er liegt. Der Presserat hat die Zeitung nun gerügt. Der Fall zeigt, dass auch Kommentare mitunter Recherche brauchen.
Wenn ein Journalist kommentieren möchte, was ein Redner auf einer öffentlichen Veranstaltung gesagt hat – muss er dann erst einmal bei der Person nachfragen, wie sie oder er diese Äußerung gemeint hat?
Die einfache Antwort darauf lautet: in der Regel nein.
Kein Journalist ruft bei CSU-Ministerpräsident Markus Söder oder Linken-Politikerin Heidi Reichinnek an, wenn er in einem Artikel eine öffentliche Aussage von ihnen bewerten möchte.
Die etwas kompliziertere Antwort lautet: Kommt darauf an, wie man die Äußerungen eines Redners kommentiert und um was für Aussagen es geht. Das zeigt eine Rüge, die der Presserat im Juni gegen die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA) ausgesprochen hat. Die in Kassel erscheinende Zeitung hatte im Februar die Äußerung eines Demo-Redners heftig kritisiert, ohne den Hintergrund zu recherchieren.
„Rassistischer Landgraf“
David Zabel, Vorsitzender des Kulturbeirats der Stadt Kassel, hatte bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus seinen damaligen Beiratskollegen Martin Eberle als „rassistischen Landgrafen“ bezeichnet. Eberle ist Direktor der Einrichtung Hessen Kassel Heritage, in der Museen, Schlösser und Parkanlagen zusammengefasst sind.
Gerügter HNA-Artikel vom 4.2.2025Ausriss: HNA
HNA-Redakteur Mark-Christian von Busse griff die Äußerung in einem als Kommentar gekennzeichneten Text auf und attackierte Zabel, der auch Mitglied im Beirat der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland ist. Rassistischer Landgraf? Das sei „ein Angriff, der sich verbietet“ bzw. „eine Attacke auf Eberles Integrität, auf seinen Ruf, die nicht unwidersprochen bleiben darf“. Kurz gesagt: Die Kritik, die Zabel übe, sei „abwegig“.
Eine der Begründungen: Eberle habe dafür gesorgt, dass bei Hessen Kassel Heritage „Diversität und Inklusion hoch im Kurs“ stünden. Von Busse fragte sich daher, was Zabel „bloß geritten“ habe, und spekulierte sogar darüber, was genau der Redner bei diesem Vorwurf wohl im Kopf gehabt habe. Der Text hat den Gestus einer Maßregelung.
Redakteur lag völlig falsch
Zwei Tage nach Erscheinen fiel von Busses Kommentar wie ein Kartenhaus zusammen. Die FAZ, die nach dem Beitrag in der Regionalzeitung selbst recherchiert hatte, titelte im Feuilleton: „Kasseler Museumschef gibt rassistische Beleidigung zu.“ Die Zeitung beschreibt, wie Eberle bei einer Terminabsprache für eine Kulturbeiratssitzung wörtlich gesagt haben soll: „Herr Zabel, ich sag jetzt mal was Rassistisches. Ich komme nicht, aber ich schicke meine Kollegin, und ich kann ihr ja sagen, dass sie sich Schuhcreme ins Gesicht schmieren soll, dann fühlen Sie sich bei Kulturbeiratssitzungen nicht so alleine.“
Somit war klar: Zabel hatte einen konkreten Anlass gehabt, Eberle öffentlich als „rassistisch“ zu bezeichnen. Eine Woche nach dem Erscheinen des FAZ-Artikels stellte das Land Hessen Eberle frei. Begründung des zuständigen Kunstministers Timon Gremmels (SPD): Eberles Äußerungen seien „inakzeptabel und stehen im Widerspruch zu den Grundwerten unserer Gesellschaft“.
Sanktionen des Presserats
Der Presserat kann drei Arten von Sanktionen erteilen:
Einen Hinweis an die Redaktion bei geringeren Verstößen.
Eine Missbilligung bei schwereren Verstößen, die die Redaktion veröffentlichen kann.
Eine Rüge als härteste Sanktion, die veröffentlicht werden muss.
Dass man als Journalist mit Verve eine Einschätzung vertritt, die sich kurz darauf als falsch erweist – das kann im Tagesgeschäft vorkommen. Und: Nicht jeder missglückte Meinungsbeitrag erfordert eine presseethische Sanktion. Warum hat der Presserat den Text trotzdem gerügt? Die vollständige Begründung hat er zwar noch nicht veröffentlicht, sie liegt Übermedien aber in wesentlichen Teilen vor.
Mangelnde Sorgfalt
Demnach ging es dem Presserat nicht darum, dass die Kritik an David Zabel ehrverletzend gewesen sei – obwohl nach Zabels Ansicht Busses Beitrag „ein Angriff auf meine Glaubwürdigkeit war“. Gegenüber Übermedien bezeichnet er den Artikel sogar als ein Beispiel für „Rassismus-unsensible Berichterstattung“. In der Kasseler Kulturszene habe er sich tagelang gegen ungerechtfertigte Angriffe verteidigen müssen, auch gegenüber Personen, mit denen er zusammenarbeite.
Trotzdem hat der Presserat keinen Verstoß gegen Ziffer 9 des Pressekodex („Schutz der Ehre“) festgestellt. Das Gremium sah ein anderes Problem: mangelnde Sorgfalt. Der Autor habe „massive scharfe Kritik an einer Äußerung“ geübt, „ohne deren Kontext zu eruieren und den sich Äußernden damit zu konfrontieren“, heißt es in der Begründung.
Warum hätte von Busse noch einmal nachfragen müssen? Das entscheidende Argument für die Sorgfaltsverletzung lautet hier: „massiv“. Von Busse hat Zabels Äußerung gleich mehrmals als abwegig gebrandmarkt. Der Feuilletonredakteur hat einem zumindest in der Kasseler Kulturszene bekannten Schwarzen Mitbürger unterstellt, er könne nicht einschätzen, wann es angebracht ist, von Rassismus zu sprechen. Nicht zuletzt hat er auch noch über die Beweggründe des Kritisierten spekuliert.
Laut Presserat gilt die Sorgfaltspflicht ausdrücklich auch dann, wenn es sich um einen Kommentar handelt, also eine Textform, bei der ein Autor grundsätzlich die Freiheit hat, seine Meinung auszubreiten, ohne ihr andere Positionen gegenüber stellen zu müssen.
Eher ein „Nachdreher“
Diese Differenzierung des Presserats führt allerdings ein bisschen in die Irre. Denn: Der gerügte Beitrag ist zwar als Kommentar gekennzeichnet, stand an jenem Tag aber als großer Text ganz oben auf der Seite, bebildert mit mehreren Fotos. Außerdem war der Artikel – in dem von Busse unter anderem das Wirken Eberles als Direktor beschreibt und eine seiner Ausstellungen lobt – erheblich länger als ein üblicher HNA-Kommentar.
Der gerügte Text ist eher das, was Redaktionen einen „Nachdreher“ nennen: ein Artikel, der nach dem ersten aktuellen Bericht in der Ausgabe vom Vortag noch einmal ausgeruht zurückblickt und weitere Einschätzungen liefert. Wenn man eine halbe Zeitungsseite dafür nutzt, um darzulegen, warum man zwei Worte für unangemessen hält, wäre es geboten gewesen, nachzufragen, wie sie gemeint sind. Zumal die Demo an einem Sonntag stattfand und von Busses scharfe Kritik an Zabel in der gedruckten HNA-Ausgabe am folgenden Dienstag erschien. Es wäre also genug Zeit gewesen.
Die Kolumne
Die Entscheidungen des Presserats finden, von wenigen spektakulären Ausnahmen abgesehen, selten große Aufmerksamkeit. Dabei wäre das eine der besten Wirkungen, die sie auslösen können: eine breite öffentliche Debatte. Wir befassen uns daher in dieser Rubrik mit interessanten Fällen.
Mit dem Presserat kontrolliert die deutsche Presse sich selbst. Getragen wird der Presserat von Journalisten- und Verlagsverbänden. Das Gremium prüft nach Beschwerden, ob Beiträge gegen den Pressekodex verstoßen. Es hat aber keine Sanktionsmöglichkeiten, sondern kann nur Hinweise, Missbilligungen oder Rügen aussprechen. Rügen sollte das betroffene Medium selbst veröffentlichen.
Fehlende Richtigstellung im Blatt
Gerügt hat der Presserat die HNA auch für die fehlende Richtigstellung. Er hält den Umgang mit der mangelhaften Berichterstattung für unzureichend. Die Redaktion hat dem online weiterhin abrufbarem Text zwar inzwischen einen „Hinweis“ auf „eine neue Entwicklung“ vorangestellt. In der gedruckten Zeitung sei aber keine Richtigstellung erfolgt, „die den Anforderungen von Ziffer 3, Richtlinie 3.1. genügt“, so der Presserat. Diesen Anforderungen zufolge muss der Leser erkennen können, dass eine Meldung ganz oder zum Teil unrichtig war. Außerdem soll die Richtigstellung sich laut Pressekodex direkt auf die vorangegangene Falschmeldung beziehen:
„Der wahre Sachverhalt wird geschildert, auch dann, wenn der Irrtum bereits in anderer Weise in der Öffentlichkeit eingestanden worden ist.“
Die Stellungnahme der HNA an den Presserat liegt Übermedien ebenfalls vor. Die Redaktion argumentiert darin, dass es in den Tagen nach der Kommentierung eine „umfassenden und sorgfältigen Umgang mit dem Rassismus-Vorwurf“ gegeben habe. Als Beispiel nennt die HNA einen gedruckt erschienenen Beitrag, der unter anderem Politiker zitiert, die Eberles Äußerung verurteilen. „Der gesamte Artikel“ sei „eine einzige Korrektur“, er mache die ursprüngliche Kommentierung „hinfällig“, argumentiert die HNA.
Das kann man so sehen. Man kann das aber nur so sehen, wenn man vorher von Busses Kommentar gelesen hat. Es gibt in dem Folgeartikel keinen einzigen direkten Verweis auf die eigene Berichterstattung und ihre Mängel. Das moniert auch der Presserat.
„Bedauerliches Versäumnis“
Unbeeindruckt blieb der Presserat auch von einem Text, in dem von Busse später selbst Fehler einräumt. „Aus heutiger Sicht gilt es festzuhalten: Es war ein bedauerliches Versäumnis, nicht schon vor der Kommentierung (…) sowohl mit David Zabel als auch mit Martin Eberle selbst gesprochen zu haben“, schrieb er auf der Seite 3 der Zeitung. Verglichen damit, wie andere Zeitungen mit „Versäumnissen“ umgehen, ist das respektabel. Welche Passagen seines Textes „hinfällig“ geworden sind – um eine Formulierung aus der HNA-Stellungnahme aufzugreifen –, schreibt von Busse aber nicht. Es fehlt also an einer konkreten Auseinandersetzung mit dem missglückten Text.
Anfang Juli hat die HNA die Rüge des Presserats abgedruckt und in dem Zusammenhang erneut darauf hingewiesen, dass sie in den Tagen nach der Veröffentlichung der Vorwürfe gegen Zabel „umfassend“ darüber berichtet habe, „dass Martin Eberle tatsächlich eine rassistische Bemerkung gegenüber David Zabel eingestanden habe“.
Das stimmt, ist aber wenig überzeugend: Es war schlicht zu erwarten, dass eine Regionalzeitung über eine Debatte solchen Ausmaßes weiter berichtet. Ausreichend selbstkritisch war die HNA dabei nicht.
Am Ende zeigt der Fall: Natürlich müssen Journalisten nicht bei jeder öffentlichen Aussage zu den Hintergründen recherchieren. Ohne weiteres Nachfragen davon auszugehen, dass ein öffentlicher Rassismus-Vorwurf an den Haaren herbeigezogen ist, ist aber falsch.
Der Autor
Foto: Dennis Weißflog/MDR
René Martens ist seit vielen Jahren Medienjournalist, er berichtet für verschiedene Verlage und ist Mitautor der MDR-Medienkolumne „Altpapier“. Er gehört außerdem regelmäßig der Nominierungskommission des Grimme-Preises in der Kategorie Information & Kultur an und hat diverse Bücher über den FC St. Pauli verfasst.
Feuilleton-Autoren sollen recherchieren? Keine steilen Thesen mehr, ohne die Fakten zu berücksichtigen? Da würde doch das Geschäftsmodell all der Fleischhauers und Konsorten zusammenbrechen.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Turnstile. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Facebook. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Instagram. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von X. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Feuilleton-Autoren sollen recherchieren? Keine steilen Thesen mehr, ohne die Fakten zu berücksichtigen? Da würde doch das Geschäftsmodell all der Fleischhauers und Konsorten zusammenbrechen.
Das wäre ja „Arbeit“.
danke für den Artikel